Das Skalpell gleitet in die offene Wunde. Das Fettgewebe ist schon weg, der Blick auf die Bandscheibe ist frei. Sie sieht aus wie gräuliche Götterspeise."Drücken Sie mal", sagt Luis Bernal. Die wabbelige Masse gibt nach. Es erfordert viel Konzentration, die Handbewegungen mit dem in Einklang zu bringen, was die Augen sehen. "Jetzt machen wir es schwieriger. Jetzt kommt das Blut", warnt Bernal. Von links unten, tief in der Wunde, quillt ein roter Tropfen in die kreisrunde Öffnung.
Dann noch einer. Und noch einer. Die Demonstration bricht ab. “Nun müsste der Assistenzarzt um Hilfe bitten”, erklärt Luis Bernal. Der Testlauf zeigte, wie das Operationsmodell funktioniert, welches er und seine Kollegen in der Forschungsgruppe ISTT (engl. Innovative Operationstrainingstechnologien) der Leipziger Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur (HTWK) gebaut haben. Es ist eine fleischfarbene Plastik, die auf dem Tisch liegt und aussieht wie aus dem menschlichen Körper ausgeschnitten. Ein Stück unterer Rücken und Hinterbacken.
Das Modell soll bei der Weiterbildung von Assistenzärzten helfen, indem Operationen unter realistischen Bedingungen geprobt werden können. Bisher trainieren Jungärzte an Leichen. “Denen fehlt das Blut”, erklärt Bernal. “Zudem sind die Gewebe schon grau.” Das sei eben doch nicht wie bei einer echten OP. “Bei unserem Modell sind die Farben wie sie sein sollen. Alles sieht so aus, als würde ein echter Mensch operiert. Und wenn der Arzt eine falschen Schnitt setzt, blutet es”, fasst Bernal zusammen. Das Kunstblut lässt Komplikationen nacherleben. Auch so etwas will geübt werden.
Die Idee zu dem Simulator kam nicht aus dem medizinischen Fachbereich sondern aus dem ökonomischen. “Wir untersuchten die Bedürfnisse von Kliniken. Und es kristallisierte sich heraus, dass sie ihre Ärzte kostengünstig weiterbilden müssen.” Langsam sponn sich die Idee, OP-Modelle zu bauen. Und ein Spezialproblem tauchte auf: Operieren unter Röntgenstrahlen. “Das wird für viele Wirbelsäuleneingriffe gebraucht und man kann es nur selten üben, da die Mediziner bei jedem Eingriff der Strahlenbelastung ausgesetzt sind”, erklärt Marc Hirschfeld. Der 26-Jährige hat Maschinenbau studiert und setzte sich daran eine Lösung zu finden. Sie heißt Fluorosim.
Dabei handelt es sich um ein Computerprogramm, dass eine Filmaufnahme aussehen lässt wie eine Röntgenaufnahme. Marc Hirschfeld demonstriert, wie es geht: Links steht eine mannshohe Kamera mit drei Linsen. Hirschfeld nimmt ein OP-Instrument und verweist auf drei kleine Punkte am Griff. “Die Kamera erkennt die Punkte und errechnet, wo sich die Spitze des Instruments befindet.” Er führt das Instrument in ein nachgebautes Stück Wirbelsäule ein. Auf dem Computerbildschirm rechts erscheint eine Live-Röntgen-Aufnahme. Hirschfeld bewegt das Instrument hin und her. Die gleiche Bewegung geschieht auf dem Schirm. Für diese Erfindung erhielt das ISTT-Team jüngst den IQ Innovationspreis in der Sparte Leipzig, mit dem herausragende Firmenideen prämiert werden.
Die Forschungsarbeit möglich gemacht hat das Förderprogramm Format des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. Seit 2010 forschen die jungen Männer und Frauen im ehemaligen Kinderkrankenhaus in der Eilenburger Straße an den Modell-OPs. Auf den Gängen riecht es noch nach Krankenhaus, ein OP-Saal ist extra hergerichtet worden, so dass Jung-Mediziner hier unter echten Bedingungen trainieren können. Nur auf dem Tisch liegt kein Mensch, sondern ein plastener Rücken. Allerlei Drähte führen aus ihm heraus, zu einem Monitor und einem Druckmessgerät. Bernal senkt ein Instrument in die künstliche Wunde hinein. Sofort schlägt das Messgerät aus. “So kann man überprüfen, wie viel Druck ausgeübt wird”, erklärt der Wirtschaftsingenieur. So etwas könne man an einem echten Patienten nicht lernen. Denn der kann schließlich keine Rückmeldung geben.
“Der Bedarf für diese OP-Modelle ist eindeutig da”, analysiert Bernal. Es gibt schon welche, doch die Röntgen-OP und das Bluten machen die Arbeit der Leipziger Studenten exzellent. Nun heißt es, das Ganze zu vermarkten. “Aber wir sind sehr vorsichtig, was eine Firmengründung anbelangt”, so der gebürtige Peruaner. “Viele Firmen gehen in den ersten paar Monaten pleite, egal ob ihre Ideen gut waren oder nicht.” Daher bewerben sich die HTWKler erst einmal um weitere Fördermittel und wollen erst gegen Ende des Jahres ihre Modelle auf den Markt bringen. “Es ist eine Kostenfrage”, so Bernal. “Krankenhäuser haben für die Weiterbildung ihrer Assistenzärzte wenig Budget zur Verfügung. Und wir wollen denselben Preis treffen, den sie für eine Leichen-OP zahlen müssen.”
Um die 500 Euro koste so etwas. Plus Lagerung und Entsorgung. Die Modell-OP ist nicht nur realistischer, sie kann auch auf verschiedene Patienten angepasst werden. “Bei einer Röntgen-OP gibt es meist im Vorfeld schon Daten zu den Patienten. Das Modell macht es möglich, diese Daten per Computer auf ein Modell zu übertragen”, erklärt Marc Hirschfeld. Und so wiederum kann der Arzt eine OP üben bevor es an den Menschen geht.
Die Tragweite ihrer Erfindungen ist den Forschern klar. “Wir sind auf dem Weg Patente anzumelden”, so Luis Bernal. Der 36-jährige Doktor der Wirtschaftswissenschaften kümmert sich um Marketing und Vertrieb. Er spricht derzeit mit Weltkonzernen der Medizinbranche. “Ein Problem für uns ist nur, dass es keine einheitlichen Standards für die Weiterbildungen von jungen Ärzten gibt”, erklärt er. In den USA geben die Kliniken viel Geld dafür aus, denn sie könnten es sich nicht leisten, wenn die Mediziner Fehler machten. In Deutschland sei dies nicht so sehr verbreitet. “Wir haben erste Schritte getan und einen Kurs für deutsche und spanische Ärzte organisiert, die Ende des Jahres stattfindet”, so Bernal.
Es geht auch nicht darum, nur Modelle zu verkaufen. “Das muss in ein einheitliches Trainingskonzept eingebunden sein: Wie wende ich die Simulatoren an? Wer überwacht die Übungs-OP? Ist das Feedback hilfreich?” Antworten auf all jene Fragen werden die jungen Forscher ihren zukünftigen Kunden präsentieren können. Denn die Gruppe hat interdisziplinär geforscht. “Jeder Teilbereich hat unterschiedliche Fragestellungen verfolgt.” Für einen Testlauf am Simulator interessierten sich zum Beispiel die Sozialforscher. Doch ihnen ging es nicht um den Simulator, sondern um die soziologischen Aspekte. Sie untersuchten das Zusammenspiel der Jung-Ärzte. “Wir arbeiten aus vielen Fachbereichen an diesem Projekt”, sagt Bernal. So lernen die Akademiker von einander. “Wir inspirieren uns gegenseitig.” Und auf den Markt sollen die Produkte, damit sie etwas bewirken. Von all der Arbeit sollen die Ärzte und schlussendlich die Patienten profitieren.
Einen Gang muss jedoch jeder antreten, der bei der Forschungsgruppe mitarbeiten will: Den in den Operationssaal. “Wir kooperieren mit der Uniklinik und jeder unserer Mitarbeiter muss, bevor er hier anfängt, bei einer OP zuschauen.” Um zu sehen, wie es ist, wenn das Skalpell durch echtes Fleisch schneidet.
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