Aus Sicht mancher Politiker ist Sozialforschung ein "Soft-Studienfach". Bringt ja nichts bei der technischen Forschung, keine neuen Ingenieure, keine neuen Patente. Aber hinter der oft geübten Verachtung steckt auch ein großes Nicht-Wissen-Wollen: Wie funktionieren unsere Gesellschaften eigentlich? - Praxisnah ist die Forschung trotzdem. Man nehme nur einen OB-Wahlkampf in Leipzig.

Den hat sich die Leipziger Forschungsgruppe Soziales e.V. eine Woche vor der Wahl zum Thema für eine explorative Studie erwählt. In ausgewählten Straßen – von den Ringstraßen bis zu den Ausfallstraßen in alle vier Himmelsrichtungen – wurden die Plakate aller Kandidat_innen erfasst. Eine Initiative junger Leipziger Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler hat den Verein Leipziger Forschungsgruppe Soziales am 12. Dezember 2005 in Leipzig gegründet. Hauptzweck sind wissenschaftliche Forschungsvorhaben – gekoppelt mit einer Öffentlichkeitsarbeit dafür. Denn in der Regel bekommt die Öffentlichkeit nicht mit von dem, was Sozialwissenschaftler herausbekommen.

Noch etwas drastischer ausgedruckt: Das Forschungsobjekt erfährt nichts von dem, was die Wissenschaftler über das Forschungsprojekt herausgefunden haben.

Die Ergebnisse verschwinden irgendwo in dicken Studien, Büchern, Zeitschriften, im besten Fall von Experten gelesen. Sie werden nicht Teil der politischen Arbeit. Im Gegenteil: Ganze Reihe snobistischer Politikmacher sind sogar stolz darauf, dass sie dergleichen konsequent ignorieren. Entsprechend dilettantisch ist Politik. Entsprechend unbeweglich ist sie. Immer wieder reproduzieren sich alte Muster und Verhaltensweisen, die man längst im Mülleimer der Moderne entsorgt glaubte.

Aber die aktuelle Diskussion um das Macho-Verhalten einiger Berliner Politik-Urgesteine (aber auch die Diskussion um ein ganz ähnliches Verhalten bei den Piraten) zeigt, dass das Wissen, das in der Forschung gesammelt wird, nicht in die politische Praxis durchsickert.

Natürlich wollten die jungen Forscher der Leipziger Forschungsgruppe Soziales e.V. nicht gleich die Leipziger Politik verändern. Sie haben einfach mal nur geschaut: Was hängt denn da im Wahlkampf auf den Straßen herum? Und was stellen die Menschen damit an?
Ein erstes Fazit ist natürlich: Die Zahl und Größe der Plakate, die da seit ein paar Wochen in Leipzig stehen, hängen und angeklebt sind, zeigt auch, wer viel Geld in der Wahlkampfkasse hat – und wer wenig.

“Insgesamt dominieren nach ihrer Anzahl die Plakate des amtierenden OBM Burkhard Jung (SPD) das Erscheinungsbild des Wahlkampfs”, stellt Axel Philipps, der Schatzmeister der Forschungsgruppe, fest. “Sein Porträt findet sich etwa doppelt so häufig, wie das der meisten anderen Kandidat_innen. Auf einzelnen Straßen gewinnen jedoch auch René Hobusch (FDP) (Gerber-, Roscher- und Georg-Schuhmann-Straße) und Felix Ekardt (B90/Die Grünen) (Karl-Liebknecht-Straße) diesen inoffiziellen Wettstreit um die höchste Plakateanzahl, und Horst Wawrzynski (CDU) sowie Barbara Höll (Linke) liegen ebenfalls mitten im Verfolgerfeld.”

Erhoben und ausgewertet wurden nicht nur die Anzahl der Plakate sondern auch Veränderungen, die durch Bürger_innen der Stadt an den Plakaten vorgenommen wurden.

“Wahlplakate werden aktiv bearbeitet und umgeschrieben”, stellt Philipps fest. “Solche Verfremdungen dokumentieren verdeckte Auseinandersetzungen im Wahlkampf, nämlich die direkte Konfrontation von Bürger_innen mit den Kandidaturen auf der Straße, die nicht zwangsläufig als Übergriffe am Wahlkampfstand in Erscheinung treten. In der Stadt finden sich zahlreiche solche Verfremdungen, beispielsweise Zerstörungen, Bemalungen, zusätzliche Aufkleber oder Verschmutzungen der Plakate. Die unterschiedlichen Strategien beziehen sich kaum auf inhaltliche Kontroversen um politische Programme, sondern betreffen meist die jeweiligen Portraits, Wahlkampfslogans oder Parteilogos, die spielerisch oder aggressiv verändert werden.”

Zwischen 4 bis 8 Prozent der Plakate de Kandidaten Jung, Höll, Ekardt und Wawrzynski wurden “verfremdet”, wie sich die Sozialforscher ausdrücken. “Hier finden sich hinzugefügte Aufkleber, Bemalungen oder eigener Text sowie geringfügige Zerstörungen oder Verschmutzungen der Plakate. Ein kleinerer Teil versucht, durch großflächige Zerstörungen deren öffentliche Präsenz insgesamt zu unterbinden. Eine explizite Auseinandersetzung mit der inhaltlichen Aussage eines Plakats, d.h. die spielerische Umdeutung des Slogans oder des Programms durch das Überschreiben eines Teils des Textes, haben wir dagegen kaum dokumentiert.”

In ihrem Papier versuchen die Soziologen auch zu interpretieren, warum die Plakate bestimmter Kandidaten in besonderer Weise verfremdet oder gar zerstört wurden. Was ihnen naturgemäß fehlt, ist ein Zugang zur Tätergruppe. Ein ganz eigenes Feld: Welche Menschen neigen überhaupt dazu, sich derart kreativ mit Wahlplakaten auseinander zu setzen?

Und ist nur der jeweilige unbeliebte Kandidat gemeint oder der Wahlzirkus an sich? Immerhin diskutiert ja auch der Stadtrat seit Monaten intensiv über die Wahlwerbesatzung. Und die Frage dürfte durchaus berechtigt sein: Ist es überhaupt noch zeitgemäß, den öffentlichen Raum in Wahlzeiten mit Plakaten zuzupflastern? Und vor allem: Welches Niveau haben die Motive? Wird Vieles von dem, was sich da als simpler Slogan präsentiert, nicht sogar als aufdringlich und verlogen empfunden? Verlogen auch deshalb, weil teilweise Dinge versprochen werden, die der gewählte Kandidat nie und nimmer umsetzen kann?

In welchem Verhältnis steht eigentlich der mündige Wähler zu der teilweise plumpen Arroganz der Möchte-gern-Gewählten?

Man sieht: ein reiches Studienfeld.

Dass aus solchen, teilweise aus diffusen Gründen, einige Zeitgenossen teilweise einfach ihre Laune oder ihren Frust nach einer ausgiebigen Party an den Plakaten im Straßenraum ablassen, zeigt eine Polizeimeldung vom 13. Januar. Zwei 20-Jährige waren am Morgen des 13. Januar gegen 2 Uhr (es war ein Sonntag) dabei erwischt worden, wie sie Wahlplakate in der Platnerstraße, der Fechnerstraße und der Waldstraße in Gohlis-Süd beschädigten.

Der Text der Meldung: “Die Polizei erhielt durch einen Bürger Kenntnis über eine Sachbeschädigung. Er hatte zwei Personen beobachtet, die an Lichtmasten aufgehängte Wahlplakate herunterrissen. Beamte nahmen beide (w.: 20; m.: 20) vorläufig fest. Das Pärchen – alkoholisiert (1,72 bzw. 1,22 Promille) – gab an, von einer Party in der Waldstraße gekommen zu sein. Es hatte insgesamt 17 Plakate (4 x SPD, 5 x FDP und 8 x CDU) zerstört. Die Höhe des Schadens ist noch unklar. Gegen die jungen Leute wurde ein Strafverfahren wegen Sachbeschädigung eingeleitet.”

Die Studie und ausgewählte Fotos zur Untersuchung findet man auch auf:
www.forschungsgruppe-soziales.de
Der Bericht “Verfremdete Wahlplakate bei Leipzigs Oberbürgermeisterwahl 2013. Eine explorative Studie” als PDF zum download.

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