Wissenschaftler der Universität Leipzig haben einen Meilenstein auf dem Gebiet der Erforschung von Gliazellen gesetzt. Sie konnten in einer internationalen Zusammenarbeit den Nachweis führen, dass Nervenzellen und Gliazellen ähnliche Wirkmechanismen haben. Beide setzen zur Kommunikation Botenstoffe frei. Bislang wurde den Gliazellen diese Fähigkeit abgesprochen, sie galten nur als "Stützgerüst" für die Nervenzellen.
Für die Beweisführung kam das Nervengift Botox zum Einsatz. Gliazellen dienen als Stützzellen der mechanischen Stabilisierung der Nervenzellen, indem sie quasi die Aufgaben eines Bindegewebes im Nervensystem übernehmen. Eine praktische Auswirkung könnte die Heilung zahlreicher zur Erblindung führender Netzhauterkrankungen sein.
Doch der Reihe nach. Der Nachwuchswissenschaftlerin Dr. Antje Grosche vom Paul-Flechsig-Institut für Hirnforschung der Medizinischen Fakultät ist der Beweis dafür gelungen, dass Gliazellen bläschenartig – im Wissenschaftsdeutsch: vesikulär – den Botenstoff Glutamat freisetzen können. In weiteren Experimenten konnte gezeigt werden, dass diese Freisetzung von Glutamat für die schnelle Volumenregulation der Netzhautzellen unabdingbar ist.
Aufbauend auf diesen Erkenntnissen soll in zukünftigen Experimenten der Einfluss einer gestörten Glutamatfreisetzung aus Gliazellen auf die Entstehung von krankhaften Zellschwellungen, so genannten Netzhaut-Ödemen, die als Komplikation zahlreicher Netzhauterkrankungen zur Erblindung führen, untersucht werden.
Zurück zu den Grundlagen. Im Nervengewebe gibt es hauptsächlich zwei Sorten von Zellen: Die “kleinen grauen” Nervenzellen und die althergebracht als “Nervenkitt oder -kleister” bezeichneten Gliazellen. Von ersteren ist schon lange bekannt, dass sie an ihren Enden Synapsen haben, durch die Informationen als Signale von einer zur anderen Zelle übertragen werden. Für die Übertragung werden Botenstoffe, auch Neurotransmitter genannt, eingesetzt. Die Botenstoffe schwimmen allzeit bereit in kleinen Bläschen (Vesikeln) gespeichert umher.Im Fall eines auslösenden Signals bewirkt eine sehr komplexe Maschinerie, dass die Bläschen an die Zellwand herantreten, ihre Membran platzt und der Botenstoff freigegeben wird. Dadurch setzt sich die Signalkette in der Nachbarnervenzelle ebenso fort und zwar in einem atemberaubenden Tempo und tausendfach in jeder Sekunde – beispielsweise wenn wir reden, das Gesicht verziehen oder Schmerz empfinden.
Eine wichtige Erkenntnis für Medikamente, die ihre Wirkung häufig an den Synapsen entfalten. Und ein Grund, warum die Nervenzellen bislang als die “einzigartigen” Arbeiter im Nervensystem betrachtet wurden.
Gliazellen wurde dagegen bis in die jüngste Zeit hinein wenig Beachtung geschenkt. Ihr Entdecker Rudolf Virchow betrachtete sie im 19. Jahrhundert lediglich als das die Nervenzellen umgebende Material, als “Bindegewebe” des Nervensystems.
Im Rahmen eines europäischen Forschungsprojekts konnten Wissenschaftler des Leipziger Paul-Flechsig-Instituts für Hirnforschung nun den entscheidenden Schritt beisteuern, um den endgültigen Beweis für eine umstrittene Hypothese zu liefern: Ebenso wie Nervenzellen können Gliazellen Botenstoffe freisetzen und damit Informationen an Nachbarzellen weitergeben.
Um das nachzuweisen, wurde die lähmende Wirkung von Botox eingesetzt. In Nervenzellen verhindert das hocheffiziente Nervengift, dass die Synapsen aktiv und Botenstoffe aus den Bläschen freigesetzt werden. Dieser Effekt wird beispielsweise genutzt, um die Gesichtsfalten durch Lähmung der von den Nerven angesteuerten Gesichtsmuskeln zu glätten.
Die beteiligten Wissenschaftler haben sich diesen Effekt für Gliazellen zunutze gemacht. Zunächst wurden in Frankreich Mäuse mit Gliazellen gezüchtet, die Botox künstlich selbst herstellen und somit auch vermutete Mechanismen der Informationsverarbeitung in sich blockieren. Wenn das Gift schlicht von außen drauf gegeben worden wäre, hätte es sowohl Nerven- als auch Gliazellen erreicht und ein spezifischer Effekt auf die Gliazellen wäre nicht nachweisbar gewesen.In einem nächsten Schritt galt es, normale Gliazellen und die mit Botox manipulierten zu vergleichen. An dieser Stelle kam Leipzig mit ins Projektboot, weil es als führend auf dem Gebiet der Gliazellforschung gilt. Dafür hat Dr. rer. nat. Antje Grosche (30) in Leipzig aus verschiedenen Techniken eigens eine neue Methode entwickelt, um frische Gliazellen zu isolieren und beobachten zu können, wie sie Botenstoffe über den Bläschenmechanismus freisetzen.
“Von der Größe her arbeitet man dabei absolut an der Nachweisgrenze”, sagt sie. Tatsächlich konnte sie bei Gliazellen aus der Netzhaut feststellen, dass sie den Botenstoff Glutamat freisetzen. Das Ergebnis: Normale Gliazellen haben Botenstoffe freigesetzt, Botox-Gliazellen waren dagegen völlig blockiert.
Darüber hinaus konnte die Wissenschaftlerin einen teilweisen Funktionsverlust bei Botox-Gliazellen feststellen. In ihnen war die Interaktion zwischen Glia- und Nervenzellen ebenso gestört wie der Abtransport von Flüssigkeit aus der Netzhaut. Letzteres ist lebensbedrohlich für die Zellen, weil sie anschwellen und zu platzen drohen.
“Die Ergebnisse der Mausstudie sind auf den Menschen übertragbar. Wir besitzen also zwei Sorten ziemlich cleverer Zellen im Nervengewebe, die gut zusammenarbeiten, damit wir als Ganzes gut funktionieren”, fasst Arbeitsgruppenleiter Prof. Andreas Reichenbach die Ergebnisse zusammen. “Bildhaft kann man sagen, Nervenzellen verdienen das Geld in der Familie, sind aber zu beschäftigt, um sich um den Haushalt zu kümmern. Die wichtigen Aufgaben Nahrungsbeschaffung und Aufräumen, also Nährstoffe heran- und verbrauchte Botenstoffe nach der Informationsvermittlung wegzuschaffen, übernehmen die Gliazellen.”
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Beide sind fast mit demselben Satz an Genen ausgestattet, nutzen sie entsprechend ihrer Aufgaben jedoch jeweils mehr oder weniger. “Wir haben herausgefunden, dass beides sehr differenzierte Zellen sind, trotzdem können sie sich gegenseitig nicht ersetzen”, ergänzt Dr. Antje Grosche.
Zur Bedeutung der Ergebnisse sagt Prof. Reichenbach: “Für diese Art herausragender Grundlagenforschung ist es meist nötig, dass mehrere Arbeitsgruppen zusammenarbeiten. Niemand hat alle Techniken perfekt zur Verfügung. Kooperationen umfassen wie in unserem Fall häufig mehrere Länder. Wir hatten das Glück, dass wir am Ende den wichtigsten Teil beisteuern konnten.”
Die Forschungsergebnisse wurden aktuell im hochrangigen Wissenschaftsjournal “NEURON” veröffentlicht. “Relevance of Exocytotic Glutamate Release from Retinal Glia”.
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