Jagoda darf nicht verraten, wo sie jetzt mit ihrer Mama wohnt. Und in vier Tagen wird sie zehn Jahre alt. Eigentlich ist alles so vertrackt, dass sie gar keinen richtigen Geburtstag feiern kann. Schon gar keine Party mit Musik und großem Buffett. Denn sie lebt mit ihrer Mama im Frauenhaus. Zum zweiten Mal. Denn am Ende hat ihr Vater eben doch seine Versprechen nicht gehalten und Jagodas Mama doch wieder geschlagen. Ein Schicksal, das viele Frauen erleben. Und das auch immer die Kinder mitbetrifft, die diese „familiäre“ Gewalt erleben.
Weshalb es in Deutschland 400 sogenannte Frauenhäuser gibt, die auch Kinderhäuser heißen könnten, denn mit den gequälten Frauen finden auch ihre minderjährigen Kinder hier ein Obdach auf Zeit – weit weg von ihrer alten Wohnung, ihrem alten Viertel und der alten Schule.
Denn nur so können sie geschützt werden vor den gewalttätigen Männern, die ihre Macht über „ihre“ Familie nicht aufgeben wollen. Und die oft genug – wie es dann auch Jagodas Vater versucht – mit allen Mitteln versuchen herauszubekommen, wo Frau und Kinder sind. Was in Jagodas Geburtstags-Geschichte zu einem der vielen Momente führt, in denen alles wieder infrage steht.
Aber es ist eben nicht nur eine Geschichte über ein Mädchen, das mit seiner Mutter im Frauenhaus lebt und in der neuen Schule natürlich auch nach neuen Freundinnen sucht und mit Mia vielleicht sogar eine findet. Es ist auch eine Geschichte darüber, wie ernsthaft Kinder in diesem Alter mit all den Herausforderungen umgehen, die auf einmal auf sie zukommen. Und mehr als einmal bekommt Jagoda von den Erwachsenen gesagt, was für ein verantwortungsvolles und ernsthaftes Mädchen sie ist. Wie erwachsen sie sich benimmt.
Sich nicht kleinkriegen lassen
Man merkt, dass sich Anna Maria Praßler sehr intensiv mit diesem Thema beschäftigt hat. Und eben auch mit den Kindern, die mit solchen Brüchen in ihrem Leben umgehen müssen. Brüche, in denen auch die Mütter meist schon überfordert sind, denn sie müssen jetzt auch eine neue Wohnung für sich und die Kinder finden und auch Geld verdienen, während sie gleichzeitig immer neue Ämtertermine haben, um auch den ganzen Behördenkram zu erledigen.
Sodass Jagoda sich gar nicht erst traut, die Erwachsenen im Frauenhaus zu fragen, ob sie ihr helfen, binnen vier Tagen eine richtige Party auf die Beine zu stellen. Eine Party, die Jagoda einfach mal so angekündigt hat, als Mia nach ihrem Geburtstag gefragt hat.
So geht das meist los: Man verspricht etwas. Und dann merkt man, dass man dazu überhaupt nicht die Mittel hat. Kein Geld, keine Musik, auch keinen richtigen Ort, wo man feiern kann. Denn im Frauenhaus geht es ja nicht.
Mia darf ja gar nicht wissen, wo das ist. Und die anderen Leute, die Jagoda in den nächsten drei Tagen kennenlernt, eigentlich auch nicht. Juri zum Beispiel, der wahnsinnige Angst vor Hunden hat, dem sie im Park hilft, mit dem tollenden Hund Otto fertigzuwerden.
So manches Kind wird sich beim Lesen und Vorlesen sagen: Das kenne ich irgendwie. Zumindest wenn es aus einer Welt wie der von Jagoda kommt, wo das Geld sowieso immer knapp ist und die Mama froh ist, wenn sie im Gebrauchtwarenladen passende T-Shirts für ihr Kind findet. Das ist die leise Hintergrundmelodie, die eigentlich die ganze Zeit mitläuft, wenn Jagodas Geschichte erzählt wird.
Und die man nicht überhören darf, denn für diese Second-Hand-T-Shirts wird Jagoda auch in ihrer neuen Schule gemobbt, auch wenn sie cool damit umgeht. Wie sehr sie das verletzt, das hat sie gelernt zu verbergen. Lieber legt sie los und nimmt die Dinge selbst in die Hand, schreibt eine lange Liste, was sie alles braucht für die Party, und macht sich dann daran, Punkt für Punkt abzuarbeiten.
Und wenn dann alles schiefgeht?
Denn eines hat Jagoda gelernt: Von nichts kommt nichts. Man muss sich etwas einfallen lassen, wenn man eine richtige Party haben will. Und man muss die Leute einspannen, weil die von allein in der Regel nicht drauf kommen. Obwohl sie dann, wenn sie eine konkrete Aufgabe bekommen, mit Feuereifer dabei sind.
Die Kinder aus dem Frauenhaus genauso wie einige der Erwachsenen, die Jagoda in den drei Tagen trifft. Womit sie eigentlich eine dritte Geschichte in der Geschichte erzählt: Dass man die wirklich schönen Erlebnisse im Leben nur hinbekommt, wenn man einander hilft. Solidarität nennt sich das. In der deutschen Politik längst zu einem Schimpfwort geworden, weil man den Egoismus für den Kern einer echten „freien“ Gesellschaft hält.
Obwohl alle wissen, dass der Egoismus nichts anderes produziert als Kälte, Einsamkeit und Härte.
Was ja nicht heißt, dass alles klappt, was Jagoda sich vorgenommen hat, obwohl sie drei Tage lang regelrecht rotiert. Am letzten Abend vor ihrem Geburtstag gibt es dann auch noch – so ist ja das Leben – echte Rückschläge, scheint der ganze schöne Traum von der Party noch auf dem letzten Meter zu platzen.
Aber das wäre dann kein Mutmacherbuch, wenn das so ausginge. Und würde auch von einer Gleichgültigkeit erzählen, die eigentlich für kleine Familien in solchen Lebenslagen nicht typisch ist. Denn wenn man da etwas lernt, dann ist das, einander zu helfen, wenn man kann und die Möglichkeiten hat.
Auch, weil man dafür die Resonanz immer bekommt. Echte Dankbarkeit und das verflixt selten gewordene Gefühl, dass man von anderen Menschen wahrgenommen wird. Dass man mit seinen Sorgen und Wünschen nicht wirklich allein ist. Und dass die kleinen Wünsche fast alle erfüllbar sind, wenn jeder ein bisschen was dazu tut.
Vom Vertrauen und Einander-Helfen
Und genau das erlebt Jagoda dann am letzten Tag, der dann völlig anders abläuft, als sie das noch in der Nacht befürchtet hat. Mit vielen Überraschungen, ohne die ein richtiger Geburtstag kein richtiger Geburtstag ist. Und so wird Anna Maria Praßlers Geschichte viel mehr als nur die Geschichte eines Mädchens im Frauenhaus.
Es wird eine Geschichte vom Sich-nicht-kleinkriegen-lassen, vom Die-Dinge-selbst-in-die-Hand-nehmen, vom Vertrauen und vom Einander-Helfen. Also von dem, was eigentlich am Ende unser Leben in Gesellschaft erst lebenswert macht. Und wozu es manchmal einfach Mädchen wie Jagoda braucht, die die Menschen um sich herum anstupst und in ihr Netzwerk spinnt.
Auch wenn man all ihren Unsicherheiten und Enttäuschungen miterlebt. Denn dass ihr großer Traum, den sie da einfach so fröhlich in die Welt entlassen hat, als Mia nach ihrem Geburtstag fragte, auch platzen könnte. Das weiß sie nur zu gut.
Genauso wie, dass auch kleine Lügen, die man aus Verlegenheit über die Lippen lässt, alles wieder verderben können. Aber mit zehn Jahren liegen all diese Emotionen noch offen zu Tage. Jagoda hat sich nach all ihren Erfahrungen jedenfalls noch keinen dicken Panzer wachsen lassen, wie ihn viele Erwachsene durchs Leben schleppen.
Und so vergisst man – wie Jagoda selbst – streckenweise einfach, dass sie mit ihrer Mama im Frauenhaus lebt. Sie lässt sich manchmal einfach fortreißen von ihrer Freude am Leben – und erschrickt, wenn sie merkt, dass sie sich beinah verplappert hätte.
Aber gerade das sorgt dafür, dass dieses unermüdliche Mädchen am Ende alle in Bewegung versetzt. Und auch den anderen Mitbewohnern im Frauenhaus zeigt, dass das Leben weitergeht. Und dass es sich lohnt, sich seine richtigen Wünsche auch zu erfüllen.
Wenn es keine Frauenhäuser bräuchte …
So betrachtet: Ein liebevoller Blick von der Seite auf eine Gesellschaft, die diese Beherztheit schon lange verloren hat. Und in der Männer meist gar nicht gelernt haben, ihre Mitwelt mit Vertrauen und Liebe zu behandeln. Auch deshalb ist unsere Gesellschaft so, wie sie ist. Und braucht es lauter Frauenhäuser, um die Schwächsten zu schützen.
Im Anhang erklärt Anna Maria Praßler die ganze Sache mit den Frauenhäusern noch und wohin sich Betroffene wenden können, wenn ihr Zuhause unsicher wird.
Aber eine nicht ganz unwichtige Botschaft, die auch die Illustrationen von Theresa Strozyk erzählen, ist letztlich, dass niemand sich zu schämen braucht, wenn er mit knappen Mitteln irgendwie durchs Leben kommen muss und die Kinder der Reichen einen verspotten.
Denn die wirklichen Reichtümer sind die, die im menschlichen Miteinander entstehen. Bei unverhofft gelungenen Partys im Garten, wenn am Ende doch alle da sind, die man unbedingt einladen wollte.
Anna Maria Praßler Keine Party ist auch keine Lösung Klett Kinderbuch Verlag, Leipzig 2025, 16 Euro.
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