Es sind kleine Hinweise im Text, die darauf hindeuten, dass Andrej Murašov auch mit seinem zweiten Roman um fünf Freunde aus Bielefeld in ein weit zurückliegendes Jahr abtaucht, das Jahr 2007. Für andere ist das gar nicht so weit weg. Und die Gefühle von Nejla, Kazim, Bobby und Dilek sind jedem, der einmal so jung war, auch nur zu vertraut. Gefühle des Nicht-Gesehen-Werdens, die ganze vertrackte Sache mit der Liebe, dem Leben und dem Ort, an dem man es nicht mehr aushalten will.
2022 erschien der erste Band: „Alles Gold“, in dem die fünf Freunde mit Schrammen und Niederlagen nach dem Weg suchten, der sie in ihr eigenes Leben führen könnte. Denn da helfen meist Eltern und Schule und Staat nicht die Bohne. Das muss man selbst herausfinden. Und muss das Scheitern mit einplanen (was man eigentlich nie schafft), weil man die eigenen Stärken und Schwächen noch nicht kennt oder die Kontakte fehlen, die Kumpel, die einem die richtigen Tipps geben, wo man andocken kann.
Bobby und Dilek ergriffen da lieber gleich die Chance, aus Bielefeld wegzukommen. Dilek auch deshalb, weil sie von ihrer kaputten Familie wegwollte. Beide haben in Berlin versucht, der großen Ausprobier-Station für junge Menschen, ihre Träume zu erfüllen. Bobby mit jeder Menge Wut im Bauch. Während Artur und Kazim zusammenfanden und AK602 gründeten, ihr Rap-Duo, mit dem sie Erfolg hatten. Artur eigentlich als Texter, Kazim als Rapper.
Und alles schien gut. Nach vielen Aufs und Abs schienen alle Freunde auf dem Weg in ein richtig tolles Leben.
Wenn einer fehlt …
Doch so spielt das Leben nicht. Bestenfalls in schmalzigen Hollywood-Filmen. Der Folgeband beginnt mit einer Erschütterung, die auch den Leser von den Socken reißt. Denn Artur, der mit Nejla in ihre Heimatstadt Sarajevo gefahren ist, wird gleich zu Beginn Opfer eines tragischen und völlig sinnlosen Verkehrsunfalls. Bobby und Dilek brechen sofort ihren Urlaub in Barcelona ab, um nach Berlin zurückzufliegen und von dort mit einem geklauten Auto nach Bosnien zu fahren. In Bielefeld gabeln sie noch Kazim auf.
Doch als sie ankommen, ist Artur schon tot. Und man ahnt: Jetzt wird nichts mehr so sein wie zuvor. Und so kommt es auch. Das Leben ist nicht berechenbar. Sicher schon mal gar nicht. Und auch Freundschaften können zerbrechen, Liebe sowieso. Manchmal einfach auch deshalb, weil einer fehlt, der für alle Beteiligten immer der Bezugspunkt war. Und besonders hart ist es natürlich für Nejla, auch wenn sie sich mit Kazim in ein zweites „AK602“-Projekt stürzt. Denn auf Arturs Computer liegen noch etliche eingespielte Tapes, aus denen sich eine zweite „AK602“-Scheibe machen lässt. Der Tiitel ist schnell klar: „Lost Tapes“.
Und weil man auch ein par gute Videos braucht, um die Musik zum Leben zu erwecken, kommt Tengis ins Spiel, der begabte Kommilitone, den Nejla an der Kunsthochschule kennengelernt hat, und der aus alten Videosequenzen und den Songs ein richtiges Kunstwerk macht. Irgendwie ohne den Wunsch, dafür irgendetwas zu bekommen. Aber auch Tengis hat seine Last zu tragen. Nur verschließt er seine Gefühle in sich. Aus guten Gründen, wie Nejla weiß, der gegenüber er sich wenigstens ein bisschen öffnet. Was am Ende aber das zweite Drama nicht verhindert, das Nejla endgültig von den Füßen reißt.
Die Last, die jeder trägt
Ganz zwangsläufig wird Nejla zur Hauptperson in diesem Band. Doch es gibt Lasten, die kann man nicht tragen. Schon gar nicht, wenn man vorher schon gefürchtet hat, dass es noch einmal passiert. Denn wie stark ist man eigentlich allein? Erst recht, wenn die Freunde weit weg sind oder sich – wie Kazim – rarmachen und sich nicht melden?
Und dass es bei Kazim nicht nur um die Hochzeit geht, die seine Familie plant, spürt man. Auch wenn es nicht ausgesprochen wird. Denn da geht es auch diesen jungenLeuten so wie den anderen jungen Menschen in Deutschland: Über das, was einen selbst zerfetzt, hat man nicht sprechen gelernt. Schon gar nicht in den ziemlich kaputten Familien, aus denen Murašovs Heldinnen und Helden stammen. Über Nejlas Kindheit wetterleuchtete der Krieg, Bobby kämpft mit den Drogen, Dilek will eigentlich von ihrer Familie in Bielefeld nicht mehr wissen.
Und das lässt auch die Liebe von Bobby und Dilek scheitern. Man erwartet so unheimlich viel in diesem Alter. Und merkt nicht, wie man den geliebten Menschen überfordert und beängstigt. Manche lernen das sowieso nie. So flott und mitreißend Murašov schreibt, merkt man trotzdem, dass er die seelischen Zustände seiner Helden sehr genau kennt. All diese Zweifel, Ruppigkeiten, Versagensängste und riesengroßen Erwartungen, die an einer Welt scheitern müssen, in der für Träume eigentlich kein Platz vorgesehen ist. Bestenfalls gibt es einen Aushilfsjob in der Kneipe. Und ein kostenloses Obdach bei Freunden. Damit man wenigstens die nächste Zeit über die Runden kommt.
Der Rest ist Zähnezusammenbeißen. Weitermachen. Auch wenn das Leben einen eigentlich an die Dielen nageln will. Und die Gedanken an Artur sowieso keine Ruhe geben. Denn wirklich fertig wird man mit so etwas nicht über Nacht. Dieses Loch in der Welt ist nicht so einfach zu stopfen. Und selbst die Eifersucht kocht ihr Süppchen, auch unter Freunden, sodass die „AK602“-CD doch nicht vor Weihnachten fertig ist.
Nichts ist sicher
Was Andrej Murašov hier wieder gelingt, ist zu zeigen, wie in den scheinbar ganz normalen Leben junger Leute aus Bielefeld trotzdem Dinge passieren, die Stoff für aufregende Romane sind. Die aber nur wenige Erzähler so dicht und lebendig erzählen, wie es Murašov hier tut. Auch mit einem Gefühl dafür, dass die meisten Storys in unserem Leben eben nicht nach dem Hollywood-Muster Liebe, Drama, Happyend ablaufen, sondern viel verstrickter, verzwickter und verknoteter sind. Unberechenbar sowieso.
Nichts ist sicher. Und nicht nur Bobby und Dilek in Berlin lernen, dass es im Leben tatsächlich nur weiter geht, wenn man sich selbst bewegt. Wenn man Herausforderungen annimmt. Auf Neudeutsch: die Challenge. So wie in den Spielen, die Arturs kleiner Bruder mit Begeisterung spielt.
Denn das ist ein Mechanismus in den guten Computerspielen, der tatsächlich realistisch ist: Dass man sein Spiel nur zu einem erfolgreichen Schluss bringen kann, wenn man die ganzen unerwarteten Herausforderungen unterwegs annimmt. Und reagiert auf das, was einem begegnet. Sich selbst nicht aufgibt, sondern immer neue Wege sucht, vielleicht doch noch das eigene Leben zu finden. Das ist das Ermutigende, das immer mitschwingt in diesen Erlebnissen von Arturs Freunden, die irgendwie mit seinem Verschwinden zurechtkommen müssen wie mit den Herausforderungen im eigenen Leben.
Am Ende sind die vier alle wieder in Bielefeld. Es ist Weihnachten. Die Stadt feiert Party. Und noch einmal kann alles schiefgehen, als es im Fußgängertunnel zu einer wilden Schlägerei kommt. Da ist auch die Sache mit Tengis längst geschehen. Tengis, der irgendwie doch Teil des Projekts „AK602“ geworden ist, als er das Video dazu baute und bildhaft den „Ruf der Sterne“ ins Spiel brachte. Der auch zum Cover-Motiv für das Buch geworden ist. Am Ende spuckt der gelblich-schwarze Himmel über der Stadt mal wieder Regen aus. In Bielefeld ist das so. „Nur die Regentage zählen“, sagte Nejla.
Da kann man sich auch als Leser ein bisschen umarmt fühlen. Und mancher wird sich fragen, ob er auch einmal solche Freunde hatte. Oder sogar noch hat. Und ob man sich vielleicht doch endlich mal wieder melden sollte. Vielleicht auch mit dem nagenden Gefühl, dass auch die Anderen einen brauchen könnten. Denn manchmal trägt man seine Last nur, weil man weiß, dass man nicht verloren ist in einem Himmel ohne Sterne.
Andrej Murašov „Der Himmel ist so laut“ Katapult Verlag, Greifswald 2025, 24 Euro.
Empfohlen auf LZ
So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:
Keine Kommentare bisher