2024 musste Britta Taddiken Abschied nehmen von ihrem Amt als Pfarrerin der Thomaskirche. Aber was bleibt? Die Frage stellte sie sich natรผrlich auch. Denn von 2011 bis 2024, als sie an der Thomaskirche wirkte, sprach sie in vielen Predigten eben auch den Mitgliedern der Thomasgemeinde aus dem Herzen. Und das tat sie beherzt und hielt auch mit deutlicher Kritik am unchristlichen Verhalten so mancher Zeitgenossen nicht hinterm Berg. Und dazu steht sie bis heute. Weshalb man diese Kritik auch in diesen von ihr ausgewรคhlten Predigten aus der Thomaskirche wiederfinden kann.

Und sie demonstriert damit auch, was der Titel nicht grundlos andeutet: dass Kirche nicht โ€žalt und verstaubtโ€œ daher kommen muss und gerade in den moralischen Zwickmรผhlen der Gegenwart eine echte Hilfe sein kรถnnte. Wenn Pfarrerinnen und Pfarrer ebenso beherzt predigen und die Mitglieder der Gemeinde bestรคrken โ€“ und zwar in einem umfassend menschlichen Sinn.

Denn dass ร„ngste und Krisen selbst die stรคrksten Charaktere aus der Bahn werfen kรถnnen, das ist Taddiken stets bewusst. Sie redete auf der Kanzel nicht nur von den Schwรคchen der Anderen, sondern bezog sich selbst mit ihren Schwรคchen, Sรผnden, Sorgen und ร„ngsten stets mit ein, wenn sie die jeweils aktuelle Bibelstelle des Tages in die Gegenwart deutete.

Sich immer dessen bewusst, dass es eine Deutung ist, dass man oft auch in und hinter den Zeilen lesen muss, um das Anliegen der Autoren zu verstehen, die die entsprechenden Passagen in der Bibel vor fast 2.000 Jahren geschrieben haben. Denn manche Bibelstellen sind, wenn man sie oberflรคchlich liest, unaushaltbar. Eine Zumutung selbst fรผr alle, die im Handeln vom Jesus Christus ein Vorbild sehen.

Aber der Bursche konnte auch deutlich und abweisend sein, streng in einem geradezu unerbittlichen Sinn. Was einen ja wirklich nicht trรถstet, gerade dann nicht, wenn man eh schon hadert und nicht weiรŸ, wo einem der Kopf steht.

โ€žAufgerichtet, getrรถstet, ermutigtโ€œ

Aber Taddiken kennt ihre Bibel. โ€žJeder und jede konnte ihr abspรผren, wofรผr sie brenntโ€œ, schreibt Christian Wolff, wie sie jahrelang als Pfarrer an der Thomaskirche tรคtig, im Vorwort zu diesem Buch. โ€žViele Menschen wurden durch ihre Verkรผndung auf der Thomaskanzel aufgerichtet, getrรถstet, ermutigt.โ€œ

Denn Taddiken weiรŸ, dass in der Strenge vieler Bibel-Texte auch die Anforderung an die Menschen steht, sich nicht wegzuducken, sondern die Herausforderungen an ein menschliches Handeln anzunehmen. Also im besten Sinne: christlich zu handeln. Mit schรถnen Worten und Parolen konnte sie nichts anfangen, weshalb sie im Reformationsjahr 2017 auch sehr deutlich nachfragte, was denn nun die Feier von 500 Jahren Reformation der evangelischen Kirche wirklich gebracht hat. Ob man da nicht vor lauter Feiern die Herausforderungen der durchaus konfliktbehafteten Gegenwart vergessen habe?

Einer Gegenwart, die Britta Taddiken in ihren Predigten immer wieder aufgriff. Aus gutem Grund. Denn die Bibel ist fรผr Taddiken auch immer ein Spiegel fรผr den menschlichen Anstand. Eine Herausforderung fรผr das tรคgliche Leben. Etwa wenn es um den um sich greifenden Egoismus unserer Gesellschaft geht, in der immer mehr Menschen nur noch โ€žIch! Ich! Ich!โ€œ schreien. Und schauen, dass sie sich รผberall Vorteile verschaffen.

So wie sie es 2016 in einer Predigt รผber Johannes den Tรคufer aufgriff, dem Jahr, als der Steuerskandal eines berรผhmten FuรŸballers die Medien aufregte: โ€žAber es ist viel zu billig, mit dem Finger auf die Ronaldos zu zeigenโ€œ, sprach Britta Taddiken von der Kanzel. Und brachte sofort sich selbst ins Spiel: โ€žEs ist die Haltung in mir selbst, wie hole ich das Beste fรผr mich heraus, ohne auf die Folgen zu achten bzw. sie wirklich ernst zu nehmen? Das billigste Fleisch, das billigste Brot? Die Botschaft des Johannes ist klar und deutlich: Hรถrt auf damit. Irgendjemand zahlt immer fรผr diese Einstellung. Andere und auch ihr selbst, tรคuscht euch nicht.โ€œ

Nicht mit den Wรผtenden heulen

Sie begrรผรŸte auch immer wieder die Unglรคubigen, die sich zu Predigt und Motette in der Thomaskirche einfinden. Denn sie weiรŸ, dass alle Menschen Trost und Rat brauchen. Und Stรคrkung in ihrem Menschsein. Und da wird etwas deutlich, was mรถglicherweise den Kern der heutigen Kirche betrifft โ€“ und ihr Verstummen an den falschen Stellen. Denn sie ist รถffentlich verstummt, wenn es um die relevanten moralischen Themen geht, die in den enthemmten und zunehmend rรผcksichtsloseren Diskussionen unter die FรผรŸe geraten.

Obwohl doch gerade die Jesus-Geschichte davon erzรคhlt, dass Menschen ein moralisches Rรผckgrat brauchen und den Mut, auch dann fรผr Menschlichkeit einzutreten, wenn die scheinbar Mรคchtigen und Rรผcksichtlosen auf den Schwรคcheren herumtrampeln. Oder wenn โ€“ wie sie es in der Heiligabend-Predigt von 2023 ansprach โ€“ Terroristen dafรผr sorgen, dass Wut und Zorn fรผr fette Schlagzeilen sorgen. Also genau das passiert, was Terroristen wollen: Dass ihr Handeln fรผr noch mehr Eskalation, Wut und Aggression sorgt.

Seit 2001 wissen wir, wie schnell unbedachte Menschen darauf hereinfallen und โ€žKrieg!โ€œ schreien und damit den Terroristen direkt auf den Leim gehen. Von den Leuten, die solche Anlรคsse nur zu gern dazu nutzen, sich in ihren Forderungen zu radikalisieren und ganze Menschengruppen zu Kriminellen zu erklรคren, ganz zu schweigen. Ein Thema das sich seit 2015 durch die Predigten von Britta Taddiken zog. Auch 2017 sprach sie es in der Weihnachtspredigt an, als sie von den Menschen sprach, die sich โ€žselbst an die Stelle Gottes setzen. Gerade aus dieser Haltung heraus werden doch letztendlich Religionskriege angezettelt: eben nicht aus religiรถsen Grรผnden, sondern der aufgrund fรผr sich selbst reklamierten Einzigartigkeit โ€“ bis hin zum Wahn der Unfehlbarkeit und Unverletzlichkeit.โ€œ

Die Herodese unserer Zeit

Unรผberhรถrbar: Diese Pfarrerin predigt auch den Mรคchtigen. Und ruckzuck ist man ins ferne Jahr 2011 versetzt, als Unionspolitiker die Republik mit der vรถllig inhaltsleeren Formel vom โ€žjรผdisch-christlichen Abendlandโ€œ schon mal darauf einstimmten, dass wohl alle Muslime nicht zu diesem Abendland gehรถren wรผrden. Der Rechtsruck beganh nicht mit der AfD. Da haben ganz andere konservative Politiker schon vorher fleiรŸig vorgearbeitet.

Und man merkt, dass die Thomaspfarrerin richtig wรผtend ist รผber diese Scheinheiligkeit: โ€žInteressanterweise soll da auf einmal die im letzten Oktober ja gerade in der Politik so viel beschworene jรผdisch-christliche Wertetradition nichts mehr beizutragen haben zu Themen wie Sonntagsรถffnung, Bildung und dergleichen. Das ist etwas, was die Diskussion im Nachhinein letztlich entlarvt, als das, was sie war: ein Versuch, diese wie auch immer zu verstehende Tradition โ€“ auch das wurde ja von kaum jemandem nรคher beschrieben โ€“ gegen die in Deutschland angeblich drohende Islamisierung in Stellung zubringen.โ€œ

Sie vergleicht diese Politiker mit ihrer fadenscheinigen Ablenkung mit dem Kรถnig Herodes. Da kann jeder in der Bibel nachlesen, was dieser Herodes so alles angerichtet hat.

Wenn das Gute zu Schimpfwort wird

Und manch ein Zuhรถrer in der Thomaskirche wird gespรผrt haben, wie wรผtend die Pfarrerin da oben in der Kanzel war โ€“ etwa im Jahr 2016, als der menschliche Anstand, mit dem Engagierte damals versuchten, die Aufnahme von fast 1 Million Flรผchtlinge aus Syrien in Deutschland zu organisieren, mit dem verlogenen Wort โ€žGutmenschโ€œ etikettiert wurden.

โ€žDas Gute wird zum Schimpfwort, das all die treffen soll, die gegen das Schlechte sind โ€“ und weil sie gleichzeitig verantwortlich gemacht werden fรผr all das Schlechte, das noch รผbrig ist. Und nicht die, die ein Problem verursachen, finden sich dann oft im Zentrum der Kritik wieder, sondern die, die auf das Problem hinweisenโ€œ, predigte Taddiken und fand genug Stellen in der Jesus-Geschichte, in denen genau das schon thematisiert wurde. Auch die Macht der Worte โ€“ im Guten wie im Schlechten. Sie hat sich diesen Jesus und seine Zeitgenossen immer vergegenwรคrtigt, in ihnen das Heutige und Immernoch-Menschliche gesucht โ€“ und gefunden.

2019 predigte sie von den โ€žIngenieuren der Liebeโ€œ, als die sie jene Menschen betrachtet, die das Gute in den Menschen stรคrken. Wozu dann, wenn man das weiterdenkt, auch die โ€žIngenieure des Hassesโ€œ gehรถren, die ihre Rolle darin begreifen, den โ€žGeist der Enthemmung, der Gleichgรผltigkeit, des Hasses und der Gewaltโ€œ zu verbreiten. โ€žDie Hรถlle machen wir uns selbst. Wir kรถnnen sie selbst schaffen auch und gerade in dieser Beziehung. Langsam und schleichend, wenn wir nicht mehr wahrnehmen wollen, was auf der Schwelle unseres Hauses passiert.โ€œ

Dabei weiรŸ Britta Taddiken auch, dass viele der Zuhรถrenden selbst Getriebene sind und auch dasitzen, weil sie Rat und Ermutigung suchen. Oder einfach das Gefรผhl, dass sie in einer zunehmend hysterischeren Welt nicht allein sind, sondern es noch Gleichgesinnte gibt, die ihr Herz nicht verschlossen haben.

Vom modernen Ablasshandel

Sie weiรŸ, dass der Druck mitten in unserer Gesellschaft sitzt, wo die Menschen immerfort strampeln mรผssen, um immer neue, noch grรถรŸere Wรผnsche irgendwie bezahlen zu kรถnnen. In ihrer Predigt vom Reformationstag 2017 vergleicht sie diese von Werbung und Statusdenken erzeugte Not mit dem Ablasshandel, den Luther in seinen 95 Wittenberger Thesen scharf gegeiรŸelt hatte.

โ€žGenau damit aber haben seinerzeit ja die Ablasshรคndler gute Geschรคfte gemacht. Und heute sind es die, die ihre Stelle eingenommen haben. Die laut schreien: โ€šKauft mich!โ€˜ Oder: โ€šWรคhlt michโ€˜ โ€“ und ihr habt euren Seelenfrieden und seid erlรถst von den Qualen der von euch selbst aufgerichteten Hรถlle, an die ihr so gerne glaubt. Nein, es war kein Zufall, dass Luther sich vor seiner theoretischen Auseinandersetzung mit dem Freiheitsbegriff damit beschรคftigt hat, den Ablass und seine Hรคndler zu entlarven. Nรคmlich all diejenigen, die sich im wahrsten Sinne des Wortes von unseren ร„ngsten nรคhren und sie schรผren und deswegen gar kein Interesse daran haben kรถnnen, dass sie verschwinden.โ€œ

Vom Leben her denken

Es sind zwar Predigten aus 13 vergangenen Jahren. Aber sie haben nichts an Aktualitรคt eingebรผรŸt. Hier hat eine Thomaspfarrerin der Gegenwart ins Gewissen gepredigt und in der Bibel gefunden, was nicht nur Glรคubigen heute ein MaรŸstab fรผr ein menschliches Handeln sei sollte. Wobei sie auch mehrfach betont, dass erst daraus auch Freiheit entsteht.

Gerade weil man sich seine Schwรคchen, Fehler und โ€žSรผndenโ€œ zugesteht. Denn dann sind nicht mehr โ€ždie Anderenโ€œ schuld daran, was einem passiert. Ein Thema zum Beispiel fรผr den Ostertag, an dem sie 2017 predigte und am Ende auf den Punkt brachte, worum es geht: โ€žWie dringend braucht unser Denken ein รถsterliches Korrektiv, um sich von den Gesetzen des Grabes und der Todesverfallenheit zu trennen und vom Leben her zu denken!โ€œ

Wenn man diese Predigten liest, wird man zum (Mit-)Denken gebracht. Fรผr viele Mitglieder der Thomasgemeinde werden die Texte Erinnerung an eine beliebte und beherzte Pfarrerin sein. Aber diese Texte gelten weiter und selbst die unglรคubigsten Thomasse werden darin etwas finden, was ihnen ein bisschen Last von der Schulter nimmt. Und ein bisschen Zuversicht gibt, die Welt nicht mehr als ein einziges Jammertal zu betrachten.

Britta Taddiken โ€žVon wegen alt und verstaubtโ€œ Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2025, 15 Euro.

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