Dieses Buch des Schriftstellers und Journalisten Uwe Wittstock ist schon im Jahr 2018 erschienen. Aber eigentlich ist es lรคngst ein Klassiker, der die jetzige Verรถffentlichung bei C.H. Beck verdient hat. Denn es ist Lesestoff nicht nur zum tragischen Leben einer Ikone der Linken, die Wittstock geradezu lustvoll und menschlich vom Sockel holt. Es ist auch ein Buch รผber das Scheitern eines genialen Mannes, der beim akribischen Arbeiten an seinem Lebenswerk von der Wissenschaft seiner Zeit รผberholt wurde. Ein sehr persรถnliches Drama.

Das den meisten Lesern und Verehrern von Karl Marx , geboren 1818, gestorben 1883, gar nicht bewusst ist. Aber um das deutlich zu machen, verlรคsst Wittstock in diesem Buch die ausgetretenen Pfade klassischer Biografien, rรผckt die drei Monate in den Vordergrund, die der schwer erkrankte Karl Marx ab Februar 1882 in Algier verbrachte, um sich im โ€žsonnigen Sรผdenโ€œ auszukurieren.

Nur lag รผber seiner Reise โ€“ der ersten รผberhaupt, mit der er den europรคischen Kontinent verlieรŸ, die ganze Zeit auch ein Schatten, denn statt drei Monate Sonne erlebte Marx auf seiner ganzen Reise fast nur regnerische, stรผrmische und wechselhafte Tage. Er schien zwar leidlich kuriert zu sein, als er die Rรผckreise Richtung Frankreich antrat. Aber da hatten sich auch seine behandelnden ร„rzte geirrt.

In der Klemme

In Algier hatte sich Marx eigentlich vorgenommen, die Druckfahnen fรผr die dritte Auflage des ersten Bandes des โ€žKapitalโ€œ durchzusehen. Doch dazu kam er nicht. Genauso wenig, wie er es vor seinem baldigen Tod noch schaffte, den lang erwarteten zweiten und dritten Band fertigzustellen. Diese Bรคnde stellte erst sein Freund Friedrich Engels aus den nachgelassenen Fragmenten und Notizen von Marx zusammen.

Und richtigerweise stellt Wittstock gleich zu Beginn der Reise die nur Frage, warum Marx sein Lebenswerk nie vollendet hat. Obwohl der erste Band schon 1867 erschienen war โ€“ und das auch erst nach einem jahrelangen Warten all der Freunde und Wegbegleiter, die im Grunde seit 1848 auf dieses Werk gewartet hatten, mit dem Marx die Grundlagen der kapitalistischen Wirtschaftsweise grรผndlich und endgรผltig erklรคren wollte.

Der erste Band des โ€žKapitalโ€œ wurde geradezu zur Bibel der sozialistischen Bewegung. Und ist trotzdem schon lange von der Zeit รผberholt. Und das hat Marx wohl auch schon beim Arbeiten an diesem Mammutwerk geahnt oder sogar gewusst. Belege dafรผr gibt es nicht. Welcher Forscher wird auch gern kundtun, dass er mitten in der Arbeit merkt, dass seine Forschungsergebnisse รผberholt sind?

Dass Marx รผberhaupt in so eine Klemme geriet, hรคngt mit seiner Art des Arbeitens zusammen. Da werden sich auch heutige Journalisten, Schriftsteller und Wissenschaftler nur zu sehr wiedererkennen: Er war ein regelrechter Perfektionist, der seine Texte immer wieder รผberarbeitete, verbesserte, ausfeilte, bevor er sie aus der Hand gab. Ein Problem, das auch schon bei seiner Arbeit als Redakteur der โ€žRheinischen Zeitungโ€œ und dann der in der Revolution 1848 gegrรผndeten โ€žNeue Rheinischen Zeitungโ€œ deutlich wurde: Er wurde mit seinen Artikeln einfach nicht fertig. Der elegantere und flottere Schreiber war eindeutig Friedrich Engels.

Ein unheimlicher Leser

Und dazu kam โ€“ das wird schon bei den Schilderungen von Marxโ€™ Studienzeit in Berlin deutlich: Er wรผhlte sich in langen Lesenรคchten immerfort durch jede Art erreichbarer Literatur, die seine Arbeiten ergรคnzen konnte. Was ihn schon als jungen Man zu einer faszinierenden Gestalt gemacht haben muss, die seine Gesprรคchspartner mit einem Wissen und einer Argumentationsfreude รผberwรคltigte, die ihresgleichen suchte. Im Grunde hatte er schon 1844 in den โ€žร–konomisch-philosophischen Manuskriptenโ€œ das Gedankengebรคude fรผr seine Theorie notiert. 1858 erschien dann die Vorarbeit zum โ€žKapitalโ€œ, die โ€žKritik der politischen ร–konomieโ€œ.

Da war Marx noch lange nicht berรผhmt und auch noch nicht die Heiligengestalt der linken Bewegung. Das kam erst spรคter. Und war auch sein Verhรคngnis, das Wittstock in den zwischengeschalteten Rรผckblenden sehr genau und sehr mitfรผhlend beleuchtet. Denn mit seiner Emigration 1849 nach London lebte er mit Jenny und den Kindern in extremer Armut. Teilweise selbstverschuldet, was sich ebenfalls schon in seiner Studentenzeit abgezeichnet hatte.

Denn der Vordenker der politischen ร–konomie konnte nicht mit Geld umgehen. Und Wittstock hat wohl recht, wenn er am Ende resรผmiert, dass Marx ohne die finanzielle Hilfe seines Freundes Friedrich Engels wohl einfach schon in seinen frรผhen Londoner Jahren gestorben wรคre.

โ€žSelbst stattliche Betrรคge verflรผchtigen sich mehr oder minder spurlos, sobald sie ihm in die Finger gerietenโ€œ, beschreibt Wittstock das Phรคnomen. โ€žEr war kein Verschwender, er schwelgte nicht in Luxus. Vielmehr hatte er schlicht kein Verhรคltnis zum Geld. รœberlegungen zu einem haushalterischen Umgang mit Finanzen waren so etwas wie ein blinder Fleck in seinem Bewusstsein.โ€œ

Die letzte Fotografie

Und er neigte zum Sich-Verzetteln. Vielleicht war es auch ein Ausweichen. Denn die Arbeit am โ€žKapitalโ€œ lieรŸ Marx immer wieder auch liegen, um neue Streit- und Kampfschriften zu verfassen und zu verรถffentlichen. Manche verblรผffend hellsichtig, manche auch folgenreich wie seine Schrift รผber die Pariser Commune, die Marx tatsรคchlich erst berรผhmt โ€“ und berรผchtigt โ€“ machte. In der aber auch seine lรคngst trรผgerisch gewordene Hoffnung sichtbar wird, die groรŸe Weltrevolution wรผrde bald kommen.

Und kam einfach nicht. Die Krisen, die Marx beobachten konnte, hatten stattdessen nur zur Folge, dass der Kapitalismus sich jedes Mal neu hรคutete. Und einfach weitermachte. Und da Wittstock dann doch immer wieder auf die Tage in Algier zu sprechen kommt, in denen Marx eigentlich nur damit zu tun hatte, sich irgendwie zu kurieren, steht natรผrlich die Frage im Raum, die sich Marx selbst gestellt haben muss โ€“ vielleicht sogar direkt im Zusammenhang mit der letzten Fotografie, die er von sich anfertigen lieรŸ: Was bleibt?

Eine Frage, die sich auch Wittstock am Ende stellt, wo er sรคuberlich auseinander sortiert, was sich aus der Theorie des besessenen Weltverbesserers tatsรคchlich bestรคtigt hat โ€“ und was nicht. Und schon zeitgenรถssische ร–konomen zeigten ja, dass die im โ€žKapitalโ€œ ausgebreitete Theorie der kapitalistischen Wirtschaftsweise zu simpel gedacht war, den subjektiven Faktor Mensch โ€“ der ja eben nicht nur Ausbeuter und Ausgebeuteter ist โ€“ viel zu wenig berรผcksichtigt hat.

Denn Mรคrkte (Vielzahl bitte!) sind wie alles, was Menschen betreiben, soziale Interaktionsfelder, auf denen Menschen impulsiv, chaotisch, eigensinnig agieren und selten das tun, was sich die ร–konomen im stillen Kรคmmerlein ausgedacht haben.

Das Problem, Wirtschaft berechenbar zu machen, begleitet die verschiedenen รถkonomischen Theorien bis heute. Und die Rechenmethoden, mit denen man den โ€“ unberechenbaren โ€“ Faktor Mensch in diese Gleichungen einzubeziehen versucht, werden immer komplizierter. Und scheitern jedes Mal an der ganz realen รถkonomischen Wirklichkeit.

Die Grenzen des Wachstums

Das muss auch Marx geahnt haben. Denn er las alles, was an aktuellen Schriften zur damaligen ร–konomie erschien. Und versuchte es dann natรผrlich wieder einzuarbeiten in sein Riesenwerk. Kein Wunder, dass das nie fertig wurde und Fragment bleiben musste.

Und so schildert Wittstock in Algier im Grunde einen Mann, der das Ringen um sein Lebenswerk eigentlich aufgegeben hat. Der endlich zur Ruhe gekommen ist. Vielleicht auch durch den Tod seiner geliebten Jenny, die all die Jahre auch in bitterster Armut zu ihm gehalten hat.

Wobei Wittstock auch noch darauf hinweist, dass Marx mรถglicherweise auch schon ein neues Feld vor Augen hatte, das seine รถkonomische Theorie erst recht sprengte โ€“ ein Themenfeld, mit dem sich die meisten ร–konomen tatsรคchlich erst ab den 1970er Jahren ernsthaft beschรคftigten: der Endlichkeit der irdischen Ressourcen.

โ€žFalls Marx nรคmlich angesichts der neuen wirtschaftswissenschaftlichen Forschungen seiner Zeit Zweifel gekommen sein sollten, ob die eigenen Theorien รผber die unvermeidlich selbstzerstรถrerischen Krisen des Kapitalismus stichhaltig waren, dann drohte fรผr die Zukunft eine andere Gefahrโ€œ, schreibt Wittstock.

โ€žDie ungehemmte Fortentwicklung des Kapitalismus musste, das lag in der Natur dieses Wirtschaftssystems, zu einer ebenso ungehemmt anwachsenden Produktion von Gรผtern fรผhren. Zur einzigen Grenze der kapitalistischen Verwertungslogik wurden dann letztlich die begrenzten Ressourcen des Planeten.โ€œ

Das kรถnnte, so Wittstock, Grund genug gewesen sei fรผr die neuen Studien, die Marx ab den 1870er Jahren unternahm. Und wenn er das in ein Buch umgesetzt hรคtte, wรคre das eine โ€žwahrhaft visionรคre รถkologische Kritikโ€œ geworden.

Letzte Hoffnung Algier

Es gibt also durchaus viele belastbare Ansรคtze zu verstehen, warum Marx โ€žDas Kapitalโ€œ nie vollendet hat. Und am Ende wohl auch keine Kraft mehr hatte, an seinem Lebenswerk weiterzuarbeiten. Aber das Erstaunliche ist dabei auch โ€“ und Wittstock stellt es auch fest -, dass zentrale Ideen von Karl Marx heute so selbstverstรคndlich geworden sind, dass man sie kaum noch wahrnimmt. Etwa die simple Tatsache, dass es die wirtschaftlichen Grundlagen sind, die die Geschichte der gesellschaftlichen Entwicklung bestimmen.

Wir haben regelrecht vergessen, wie idealistisch selbst Historiker vor Marx die menschliche Geschichte interpretierten. Bis hin zu Hegel, von dem immer noch eine Menge in den Schriften von Marx steckt. Was dann auch einige grundlegende Irrtรผmer begrรผndet. Aber auch das erzรคhlt Wittstock sehr plastisch, dass ja auch Hegel zu seiner Zeit eine regelrechte philosophische Revolution bewirkte.

Und so lernt man den viel zu oft und stur gefeierten Karl Marx auf einmal als Akteur in seiner Zeit kennen โ€“ mit all seinen unรผbersehbaren Schwรคchen, die mit dazu beitrugen, dass er sich und seiner Familie ein unnรถtig hartes und armseliges Dasein im Exil zumutete. In einer Armut, die nicht nur seine Familie krank machte, sondern auch ihn selbst. Auch wenn er mit der Hoffnung nach Algier gereist war, dort wieder gesunden zu kรถnnen.

So macht Wittstock den Glorifizierten wieder zu einem Menschen und auch zu einem Mann, der erfahren musste, dass Ideen veralten kรถnnen, von der Zeit und der Wissenschaft binnen weniger Jahrzehnte รผberholt werden kรถnnen. Was man auch deshalb immer wieder รผbersah, weil viel zu viele Akteure Marx und sein Werk einfach kanonisierten, als es als das zu betrachten, was es wirklich war: ein Fragment gebliebener Versuch, die damals noch neue Welt der kapitalistischen Produktion zu verstehen. Ein Projekt, an dem die klรผgsten ร–konomen bis heute arbeiten, eine ganze Menge klรผger.

Ohne wirklich sagen zu kรถnnen: Jetzt haben wir alles verstanden.

Auch wenn manche ร–konomen so tun und die ร–ffentlichkeit mit scheinbar wissenschaftlich berechneten Zahlen zu beeindrucken versuchen, die schon nach der nรคchsten Konjunkturkurve wieder Makulatur sind. Vielleicht hat das der gealterte Marx in Algier auch begriffen: Dass es eventuell gar nicht tragisch ist, wenn man am Ende nicht recht behรคlt.

Und es den Jรผngeren รผberlรคsst, die Sache weiter zu erforschen. Wer weiรŸ. Jedenfalls bedrรผckte ihn am Ende das immerzu regnerische Wetter viel mehr, das ihn bis zu seiner Rรผckkehr nach London immer wieder begleitete. Selbst fรผr Leser, die Marx sonst nicht so mรถgen, ist das ein sehr berรผhrendes und in vielen Facetten auch erhellendes Buch.

Uwe Wittstock โ€žKarl Marx in Algierโ€œ C. H.Beck, Mรผnchen 2025, 26 Euro.

Empfohlen auf LZ

So kรถnnen Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstรผtzen:

Ralf Julke รผber einen freien Fรถrderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar