Im Zeitgeschichtlichen Forum in der Grimmaischen Straße ist seit Februar die Ausstellung „Die Straße ist mein Atelier“ mit Fotografien von Mahmoud Dabdoub zu sehen. Schon das eine gute Gelegenheit, einen der bekanntesten und aufmerksamsten Fotografen Leipzigs kennenzulernen. Aber das Archiv Bürgerbewegung legt jetzt noch einmal nach. Denn Dabdoub hat sein Fotoarchiv dem Archiv Bürgerbewegung anvertraut. Vielleicht etwas ungewöhnlich, denn Opposition und Widerstand in der DDR waren eigentlich nicht seine Themen. Aus guten Gründen. Und trotzdem passen seine Fotos in dieses Archiv. Und nun in diesen großen Fotoband mit über 140 Aufnahmen.

Der Grund ergibt sich schon beim Blättern. Denn auch die Inszenierung der Macht war nie das Thema des jungen Fotografen, der 1981 nach Leipzig kam. Geboren und aufgewachsen war er als Sohn palästinensischer Eltern in einem Flüchtlingslager in Baalbek im Libanon.

In Leipzig studierte er erst am Herder-Institut und dann fünf Jahre an der Hochschule für Grafik und Buchkunst bei Prof. Helfried Strauß. Den hatten Dabdoubs Aufnahmen aus dem Libanon beeindruckt. Und vielleicht wäre Mahmoud Dabdoub, wie er das anfangs geplant hatte, nach dem Studium auch als Fotograf in den Libanon zurückgekehrt. Doch der bis 1989 tobende (erste) Libanon-Krieg hatte die Lage in dem Land so verändert, dass an eine Rückkehr nicht zu denken war.

Also stürzte sich Dabdoub in eine Existenz als freier Fotograf, fotografierte auch etliche Jahre für die Zeitung. Aber nicht seine Zeitungsfotos haben ihn zu einem der markantesten Fotografen der Stadt gemacht, sondern seine – in diesem Sinne – künstlerischen Aufnahmen auf Straßen und Plätzen.

Das ganz normale Leben

Künstlerisch deshalb, weil er hier all dem, was an der HGB gelernt hat, freien Lauf lassen konnte, ganz im Sinn seiner begnadeten Lehrer/-innen Evelyn Richter, Helfried Strauß und Arno Fischer. Alle drei längst berühmte Legenden der DDR-Fotografie, die ihren Schülern immer beibrachten, die Wirklichkeit der Menschen aufzunehmen, ohne sie zu inszenieren. Das Ergebnis sind heute viel gefragte Bildbände mit Fotografien, die das Leben in der DDR tatsächlich so zeigen, wie es war.

Heute denkt man kaum noch an die Fotos, die Dabdoub im Libanon „bei meinen Leuten“ aufgenommen hat, auch wenn diese Fotos seine ersten Ausstellungen in Leipzig dominierten. Dieser Auswahlband zeigt natürlich einige davon. Denn dieser Band lebt auch vom Vergleich. Genre-Szenen, die scheinbar das Allernormalste von der Welt zeigen, machen den Alltag im Flüchtlingslager Shatila in Beirut genauso sichtbar wie das Alltagsleben im ramponierten Leipzig der 1980er Jahre.

Dabdoub zeigt hier, was Goethe einst in seinem West-Östlichen Diwan poetisch zu Ausdruck brachte, ohne selbst jemals im Orient gewesen zu sein. Dabdoub kennt beides – Orient und Okzident. Er kann vergleichen. Und er weiß, dass die Menschen dort wie hier dieselben Träume leben, dieselben Sorgen haben und oft genug ganz ähnlich mit ihrem Alltag zu kämpfen haben. Mit dem Unterschied, dass die Bewohner von Shatila seit Jahrzehnten auf eine Lösung für ihre ungeklärte Lage als Flüchtlinge warten, während die Leipziger jenen furiosen Herbst 1989 erlebten, der sie in das neue, größere Deutschland spülte.

Doch wer Bilder von Montagsdemonstrationen von Mahmoud Dabdoub sucht, findet sie nicht. Denn als die Leipziger stolz auf die Straße gingen, hatte er Angst, dort mit der Kamera aufzutauchen und falsche Reaktionen auszulösen. Nicht wissend, wie die Demonstranten auf einen derart eifrigen Fotografen reagieren würden. Dafür war er am 9. November am richtigen Platz – nämlich in Berlin, als Schabowski jene ungeplanten Worte von der unverzüglichen Grenzöffnung sagte.

Diese Fotos findet man im Buch. Nebst vielen persönlichen Aussagen Dabdoubs zu seinem Leben in Leipzig und seiner Art zu fotografieren. „Ich habe mit dem Herzen fotografiert“, sagt er zu seinen Fotos aus Shatila. „Mehr nicht.“

Der eingefangene Moment

Und genau so hat er es auch gehalten, als er dann in Leipzig loszog und das Leben auf den Leipziger Straßen festhielt, die Menschen in ihrem ganz alltäglichen Tun fotografierte – beim Schlangestehen, beim Altstoffsammeln, beim Wäscheaufhängen, beim Warten und Musizieren. Also das ganz gewöhnliche Leben, das damals so selbstverständlich war, dass kaum jemand daran dachte, wie schnell es verschwinden könnte.

Da muss man wohl – gefühlter – Außenseiter sein, um dieses Besondere wahrzunehmen und sich von seiner Kamera regelrecht führen zu lassen, wenn wieder eins dieser markanten Motive sich anbahnte, das viele Jahre später geradezu frappierend den Moment und die Zeit auf den Punkt bringen würde.

Was nicht neu war. Das erfuhr Dabdoub ja beim Fotografikstudium an der HGB, wo man ganz bewusst Bezug auf den „humanistischen Fotografen“ Henri Cartier-Bresson nahm. Aber bei diesem Einfangen des Moments brauch es den unabhängigen Beobachter, der fähig ist, den Moment zu erfassen, der ganz ohne Brimborium eine Geschichte erzählt.

Gültig über den erfassten Moment hinaus, auch wenn spätere Betrachter auf einmal staunen, was da noch alles mit ins Bild geraten ist, was der Fotograf so gar nicht wahrgenommen hatte – hier eine eben gerade eilig überstrichene Losung an der Wand, dort jene Straßenmusikanten, die die Leipziger Polizei 1989 wenig später einkassierte, weil auch ein Straßenmusikfestival in der DDR eine verbotene Sache war, ein von Schaulustigen umlagertes Westauto auf dem Leipziger Marktplatz, Soldaten am Rand einer offiziellen Demonstration …

Es gibt Brüche im Buch. Es kann gar nicht anders sein. Denn die „Wende“ bedeutete auch, dass sich auf Leipzigs Straßen über Nacht gewaltig etwas änderte – mit Teppichhändlern, riesigen bunten Plakaten an bröckelnden Fassaden, Schlangen an Zeitungskiosken, wo es jetzt auch Zeitschriften mit viel nackter Haut drin gab. Andere Fotografen schauten verstört auf diese „Wende“- und „Nachwende“-Jahre. Aber Mahmoud Dabdoub machte eigentlich weiter wie zuvor, maßte sich einfach kein Urteil an über das Land, das ihn gastfreundlich aufgenommen hatte.

Auch nicht über die Politik. Die Deutschen würden schon wissen, was sie da wählten und was es ihnen brachte. Er fotografierte, erfasste weiter den Alltag auf den Straßen, der sich natürlich veränderte. Mit neuen Wahlplakaten, neuen Parteien, neuen Zeitungen. Und Senioren, die stolz mit abgehängten Honecker-Bildern posierten.

Der aufmerksame Blick von der Seite

So wurde Dabdoub zu einem der bekanntesten Fotografen der Leipziger Veränderungen. Und „verknipste“ hunderte Filme in Schwarz-Weiß, die heute im Grunde ein ganzes Zeitalter dokumentieren. Und zwar mit dem freundlichen, immer aufmerksamen Blick von der Seite, aus der zugewandten Position des Mannes, der das Fotografieren des Leipziger Alltags nie als „Projekt“ verstand.

Dass er die Stadt so intensiv seit zwei Jahrzehnten mit der Kamera begleitet hatte, wurde erst um das Jahr 2000 erst so richtig bekannt. Auch wenn das nur eine Facette seines Fotografierens war. Wenn auch eine, die heute all seine anderen Arbeiten überstrahlt. Und die gleichzeitig jenen so wichtigen Jahrzehnten ein Gesicht gibt, die Leipzig seither völlig verändert haben. Und zwar nicht nur die Straßen und Plätze, sondern auch die Menschen.

Es sind auch die Leipzigerinnen und Leipziger, die Dabdoub in den 1980er Jahren fotografierte, die dann 1989 und 1990 dabei waren und Geschichte machten. Es ist ihr offener Blick in die Kamera, der davon erzählt, dass der Traum von einem offenen Land mit freien Menschen nicht aus dem Nichts kam, sondern immer mit dabei war – selbst bei den alltäglichsten Verrichtungen.

Das Wort Würde darf einem einfallen. Ein Wort, das heute so oft vergessen wird. Der Alltag war zwar oft genug rustikal und prekär – aber die Menschen, die freundlich in Dabdoubs Kamera schauen, sind sich ihrer ganz menschlichen Würde bewusst. Ihre Arbeit ist oft hart und schmutzig – aber sie selbst schämen sich dessen nicht. Sie wissen, was sie tun und wie ihr Tun gebraucht wird.

Egal, ob Land oder Leute: Dabdoub wollte niemanden beurteilen, gar verurteilen. „Ich habe kommuniziert durch die Kamera, durch meinen Blick, mein Lächeln gegenüber den Menschen, die ich mit Würde und Respekt abgelichtet habe“, sagt er. „Die waren nicht meine Objekte, sondern meine Ergänzung, um hier anzukommen.“

Deshalb wirken die Fotos auch nach Jahrzehnten noch wie ein Gespräch der Fotografierten mit dem Betrachter. Als hinge immer die Frage in der Luft: Was nun? Gehen wir einen trinken? Kommst du noch mal wieder? Soll ich noch was dazu erzählen?

Aber das Dazu-Erzählen übernimmt jetzt der Betrachter. Wenn er selbst die Zeit noch erlebt hat, kommen ihm die eigenen Erlebnisse, Orte und Begegnungen in den Sinn. Und wenn er es nicht erlebt hat, bekommt er zumindest ein Gefühl dafür, wie das damals war, als der junge Hochschulabsolvent durch Leipzigs Straßen ging und Dinge entdeckte, die selbst sein strenger Lehrer an der HGB zuvor nie wahrgenommen hatte. Dinge, die in vielen Fällen heute längst verschwunden sind. Und oft genug hilft nur die Bilderklärung, wenn man die Orte, an denen der Fotograf die Szene festhielt, heute im Stadtbild noch festmachen möchte.

Archiv Bürgerbewegung Leipzig e.V. (Hrsg.) „Die Straße ist mein Atelier. Der Fotograf Mahmoud Dabdoub“ Passage Verlag, Leipzig 2025, 19,50 Euro.

Empfohlen auf LZ

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar