Den Spruch hat Landolf Scherzer schon oft in seiner journalistischen Laufbahn gehört: „Schreib das auf, Scherzer!“ Ein Spruch, der ursprünglich mal auf Egon Erwin Kisch gemünzt war. Und es sind eigentlich auch Kischs Fußstapfen, in die die der junge Journalist Landolf Scherzer trat, nachdem er 1966 – kurz vor seinem Diplom – vom Studium exmatrikuliert wurde und – statt zur „Neuen Berliner Illustrierten“ zu kommen – zur Tageszeitung „Freies Wort“ in Suhl „delegiert“ wurde. Um sich zu bewähren. Und er bewährte sich.
Denn in der Redaktion dort fand er Gleichgesinnte, die seine Reportagen aus dem ganz gewöhnlichen Alltag der Thüringer zu schätzen wussten. Die auch damals wussten, dass der wirklich lebendige Journalismus erst entsteht, wenn einer neugierig loszieht und die Menschen dort besucht, wo sie leben, arbeiten und träumen.
Und wenn er ihnen nicht die Phrasen des jüngsten Parteitages abfragt, sondern sie wirklich nach ihren Kümmernissen fragt, ihren Sorgen, ihren Wünschen, dem, worauf sie stolz sind, dem, was sie sich unter einem lebenswerten Leben vorstellen. Und wenn er sie dann schildert auch in der Schwere und den Abenteuern ihrer Arbeit.
Grenz-Gänger und Weltreisender
Bis 1975 blieb der 1941 in Dresden geborene Landolf Scherzer beim „Freien Wort“, beschloss dann aber, als Schriftsteller freischaffend zu werden. Und eben Bücher zu veröffentlichen, in denen er – wie dereinst Kisch – Reportagen über die ganze spannende Welt zu schreiben und dafür eben auch dahin zu gehen, wo das Leben spielte. Wie eben in „Fänger und Gefangene“ auf ein Schiff der DDR-Hochseeflotte.
Aber richtig Furore machte dann 1988 sein Buch „Der Erste“, für das er den 1. Sekretär der SED-Kreisleitung Hans-Dieter Fritschler im damaligen Kreis Bad Salzungen vier Wochen lang begleitete und erstmals zeigte, wie die Arbeit so eines SED-Kreischefs tatsächlich aussah – und wie auch er an den Realitäten der DDR scheiterte.
Die meisten seiner Bücher veröffentlichte Scherzer erst nach der „Wende“. In der DDR waren ihm immer wieder massive Steine in den Weg gelegt worden.
Und auch nach 1990 griff er Themen auf, die in den meisten Medien nicht wirklich als opportun galten. Die aber zeigen, wie die Menschen tatsächlich leben und mit welchen Sorgen sie tatsächlich kämpfen. Er wurde tatsächlich zum „Grenz-Gänger“, wanderte durch den Osten Europas, schrieb über die Verlierer der deutschen Einheit, reiste nach China, nach Kuba und auf die Krim, begleitete den ersten und bisher einzigen linken Ministerpräsidenten und zeigte die Mühsal der Macht auch in der heutigen Zeit.
Und zwischendurch begegnete er auf seinen Ausflügen auch immer wieder Menschen wie Marianne Stracke, die ihm ihre Lebensgeschichten erzählten. Oder auch nicht erzählen wollten, weil sie glaubten, diese seien nicht wichtig. Aber Scherzer hatte die wichtigste journalistische Tugend verinnerlicht: zuzuhören. Und das scheinbar Unwichtige nicht zu übersehen, nur weil es scheinbar die Welt nicht umgestürzt hat.
Wir sind allesamt darauf geeicht, immer nur das Poltern und Schwadronieren der scheinbar wichtigen Männer im Rampenlicht wahrzunehmen und gelten zu lassen. Und unser eigenes Tun und das unserer Mitmenschen für nicht so wertvoll zu halten. Obwohl wir alle wissen, dass es diese kleine und große tägliche Mühsal der ganz normalen Leute ist, die den Laden am Laufen hält.
Sogenannte „kleine Leute“
Die der sogenannten „kleinen Leute“, die immer übersehen werden, die nicht mitreden können bei politischen Entscheidungen. Die aber gebraucht werden, wenn die Generäle mal wieder einen Krieg spielen wollen, die Nahrungsversorgung gesichert werden muss, das Land hinterher wieder aufgebaut werden muss. 1994 lernte Scherzer Marianne Stracke kennen, auf einer sehr regnerischen Wanderung.
Entstanden ist daraus eine langjährige Freundschaft, in der Marianne am Ende die Geschichte ihre Familie erzählte – die der Kämpfs aus Benshausen, aus der Sicht des Thüringers Landolf Scherzer also gleich hinterm nächsten Berg. Zehn Jahre später vertraute ihr Sohn ihm praktisch ihr Familienarchiv an. Motto: Mach was draus. Doch dann zögerte Scherzer lange, reiste nach China und Kuba. Und schaute sich die Kiste dann erst 2024 wieder gründlich an.
Manche Themen brauchen ihre Zeit. Auch die Geschichten sogenannter „kleiner Leute“. Es ist ein Topos in der deutschen Sprache, den die meisten Menschen oft mit viel Emotion benutzen, auch wenn er manchmal auch abwertend gemeint wird, manchmal auch die Sicht verstellt. Weshalb Scherzer auch dutzende Menschen in ganz Deutschland gefragt hat, was sie selbst unter den „kleinen Leuten“ verstehen.
So viele Auskünfte, so viele unterschiedliche Sichtweisen. Aber es ist kein ganz so abseitiges Thema, was gerade bei den Aussagen verschiedener Thüringer Landsleute deutlich wird. Denn dahinter steckt auch eine Haltung, mit der viele Menschen auf Politik reagieren – nämlich frustriert, wütend, enttäuscht.
Ganz nach dem Muster, das auch Günter Wallraff (noch so ein Kisch-Nachfolger) in seinen Büchern oft verwendete: „Ihr da oben, wir da unten“ (mit Bernt Engelmann, 1973). Was natürlich Folgen hat.
Denn wenn sich die Menschen nicht (mehr) mit den von ihnen gewählten (oder nicht gewählten) politischen Vertretern identifizieren und das Gefühl sich verstärkt, dass „die da oben“ gar nicht mehr wissen, was „hier unten“ vor sich geht, dann entstehen auch Wut, Frustration und ein Ärger, der für Radikalisierungen anfällig ist. Dann stehen die Wütenden auf „Montagsdemonstrationen“, schimpfen wie die Rohrspatzen und wählen immer extremere Parteien. Man muss ja „denen da oben“ einen Denkzettel verpassen.
Die Träume der Menschen
Aber Landolf Scherzer weiß, dass man kein Gespräch hinbekommt, wenn man versucht, Menschen zu belehren. Man muss zuhören, muss von sich selbst erzählen, Brücken bauen. Denn nur so findet man die gemeinsame Gesprächsebene und öffnet Türen. Denn dann fühlen sich auch die Anderen verstanden und akzeptiert. Es ist ein berührendes Buch. Und ein wichtiges. Weil es etwas zeigt, was in unserer medialen Wirklichkeit kaum noch vorkommt: Wie Menschen sich in einer Welt behaupten, in der sie immer um das Lebensnotwendigste kämpfen müssen, ihnen nichts geschenkt wird und sie trotzdem ihre kleinen und großen Träume zu erfüllen versuchen.
Und so beginnt Scherzer die Geschichte der Kämpfs im Grunde mit zwei Liebesgeschichten, beide noch unter den strengen moralischen Vorzeichen der Kaiserzeit. Und gerade deshalb so anrührend, weil sich die Liebenden auch gegen die Widerstände der Gesellschaft und der eigenen Familien durchsetzen. Eigentlich Geschichten, die man schön mit einem Hochzeitsfest beenden könnte, also einem Happy End.
Aber seit Tucholsky wissen wir ja alle, dass dann die Kitschfilme zwar enden, aber das richtige Leben mit allen seinen heftigen Überraschungen erst beginnt. Und dazu gehören nun einmal auch Krankheiten, Wirtschaftskrisen und leider auch Kriege. Zwei große Kriege spielen in diesen Lebensgeschichten eine Rolle und das gar nicht so nebenbei. Denn mit Werner Kämpf erlebt man auch das Kriegsschicksal eines Soldaten, der am Ende froh ist, dass er sich nie nach vorn gedrängelt und deshalb diesen Krieg überlebt hat.
Und natürlich hören die ganzen Unruhen um den richtigen, von den Eltern akzeptierten Partner auch danach nicht auf, stehen neue Lebensentscheidungen an, als sich im besetzten Ostteil Deutschlands die Sowjets und die SED etablieren: Hierbleiben oder weggehen? Und welchen Beruf jetzt ergreifen? Das ist dann Mariannes Zeit, sind es ihre „wilden Jahre“, über die sie Scherzer beim Bärwurzschnaps erzählt hat.
Sie wird in der LPG ihre Zukunft sehen – und das „planmäßige“ Dekretieren der Genossen für Mumpitz halten, aber nachts trotzdem die ausgebrochenen Kühe einfangen und in den Stall zurücktreiben. Während Artur Kämpf sich entschließt, in den Westen zu gehen, weil ihm die Genossen unerfüllbare Bedingungen stellen, wenn er wieder als Berufsschullehrer arbeiten will.
Das unberechenbare Leben
Am Ende wandert Scherzer durch Benshausen und sucht nach einer noch überlebenden Schneiderei in dem Ort, der einmal bekannt dafür war, dass hier dutzende Schneiderfamilien sesshaft waren. Die Kämpfs waren eine dieser Familien. Immer wenn es darum ging, das nötige Geld zu verdienen, setzte sich Karl Kämpf auf seinen Schneidertisch. Nach den Kriegen nähte er aus den Uniformen neue Kleider für die Kunden. Auch seinem Sohn Artur brachte er das Schneiderhandwerk bei.
Es kommen keine Politiker vor, keine Künstler, keine Helden. Und trotzdem oder gerade deswegen werden sich viele Leserinnen und Leser in dieser Familiengeschichte aus Thüringen wiedererkennen, werden sich an die Schicksale ihrer Großeltern und Eltern erinnert fühlen, an Geschichten, die in alten Briefen und Fotoalben bewahrt sind und von denen man meistens denkt: Das interessiert doch eigentlich niemanden mehr.
Es sei denn, man erzählt es den Enkeln, für die das Geschichten wie aus einer anderen Welt sind. Geschichten, die eben davon erzählen, wie Menschen sich auch unter widrigsten Umständen durchschlagen, den Rücken krumm machen, um die Familie über Wasser zu halten, und auch dem Schicksal die Stirn bieten, wenn es sich sperrt. Auch wenn es meist nur andere Leute mit ihren engen Moralvorstellungen sind, die einem das Leben und die Liebe sauer machen. Eine Liebe, die meist durchs Leben trägt – so wie die Liebe des Schneiders Karl zu seiner Jugendliebe Anna, die aber schon mit 25 Jahren gelähmt ist. Oder Mariannes Liebe zu ihrem Roland, der viel zu früh schon an Krebs stirbt.
Man kann das Leben nicht berechnen, auch nicht ahnen, was da alles auf einen zukommt. Aber die Geschichten, aus denen sich hier die Schicksale dreier Generationen ergeben, erzählen eben davon, dass es immer die eigenen Entscheidungen sind, die einen Lebenspfad prägen. Und die wichtigste ist die Wahl der Menschen, mit denen man sich in das Leben wagt, von dem man als „kleiner Mensch“ zumindest weiß, dass es Arbeit und Mühe sein wird.
Kleine Leute, große Leute
Die Frage ist eher: Gibt man sich dann damit zufrieden, sich als ein „kleiner Leut“ zu empfinden, also sich selbst im Kopf auch noch klein zu machen und das eigene Tun nicht wertzuschätzen? Oder definiert man es um, wie es viele der Angefragten getan haben, die Scherzer zitiert. Denn die Zeit, dass der Topos „kleine Leute“ als Gegensatz zum Auftritt der „großen Leute“ gedacht wurde, ist ja schon lange vorbei. Der stammt ja aus Feudelzeiten, als mit der Definition der „kleinen Leute“ auch ein niedriger Status und weniger Rechte verbunden waren.
Aber es ging nie um menschliche Größe dabei. Und viele, viel zu viele Mächtige erweisen sich in ihrem Tun eben ganz und gar nicht als groß, sondern schäbig und menschlich klein. Während viele der scheinbar so kleinen Leute in ihrem Alltag immer wieder Größe und Herzlichkeit zeigen. Manchmal etwas raubeinig, weil man in dieser Welt nicht gelernt hat, sich selbst für besser zu verkaufen oder großspurig von seinen Taten zu reden. Beiläufiug bemerkt: Ein sehr ostdeutsches Thema. Man bescheidet sich, auch weil man weiß, was Bescheidenheit wirklich bedeutet. Und dass zuletzt jede auf jeden und jeder auf jede angewiesen ist.
Und trotzdem erleben wir alle solche berührenden Momente, wie sie ganz am Ende Mariannes Sohn Hans erlebt, als ihm Scherzer Mariannes Brief in die Hand drückt, in dem sie über die Geburt von Hans erzählt. Und das tun Mütter sowieso viel zu selten.
Wissen, wie man zuhören kann
Da braucht es meistens einen Zuhörer wie diesen Landolf Scherzer, der nicht nur so tut, als würde er sich auch für die Abenteuer der „kleinen Leute“ interessieren, sondern sich wirklich interessiert. Und der nun hier ein Buch vorgelegt hat, das die Leser daran erinnert, dass jedes Leben erzählenswert ist. Und jedes Leben auch von seiner Zeit erzählt, oft intensiver als die schönen Geschichten um die „großen Leute“, die sich immer für viel zu wichtig nehmen. Und auch heute noch den „Kleinen“ nur zu oft das Gefühl geben, dass ihre Stimmen unerwünscht sind und ihre Arbeit nicht viel wert.
Das empfinden diese berechtigt als Respektlosigkeit. Die sie nicht verdient haben. Oder um den Dichter und Theaterintendanten Steffen Mensching zu zitieren: „Den kleinen Leuten wird ihre Kleinheit eingeredet, um zu begründen, warum man sie übersieht und nicht beachtet.“
Aber Scherzer beachtet sie. Und hinterfragt natürlich selbst den Topos von den „kleinen Leuten“. Denn was er als Journalist gelernt hat, ist eben, den Menschen Respekt zukommen zu lassen, von denen er schreibt. Sie in all ihrer Würde in den Mittelpunkt ihrer Geschichte zu stellen. Und auf keinen Fall anzufangen, zu moralisieren und zu werten. Denn wie sich das anfühlt, ein Leben am Limit durchzustehen, das wissen nur die, die es erlebt haben. Und die hinterher sogar stolz davon erzählen, wie sie das alles geschafft haben.
Und so gesehen war die Begegnung mit Marianne auch ein Glücksfall für Scherzer, der diese Geschichten oft weit weg in anderen Ländern gesucht hat. Und dabei sind sie gleich im Nachbardorf zu finden, wenn man weiß, wo man klingeln kann und die Schuhe auszieht, um am Kaffeetisch bei selbstgebackenem Apfelkuchen über die Geschichten einer ganz normalen alten Schneiderfamilie zu erzählen.
Landolf Scherzer „Die Kämpfs“ Edition Ornament im quartus Verlag, Bucha bei Jena 2024, 25 Euro.
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