Ganz sicher hätte Henner Kotte sich selbst gefreut, hätte er das Erscheinen dreier Bücher für Chemnitz als Kulturhauptstadt Europas 2025 noch erleben können. Das Material für die drei Bücher war fertig, als Henner Kotte im Dezember 2024 starb. Eins dieser drei Bücher ist dieses hier, mit dem er Interessierten auch außerhalb der Kulturhauptstadt erzählt, dass die drittgrößte Stadt Sachsens auch in Sachen Politik und Wirtschaft ein paar berühmte Köpfe zu bieten hat. Sogar den eines Mannes, der nie in Chemnitz war.
Aber er ist nun einmal der berühmteste von allen. Und für die Herrschenden in Ostberlin war er eine regelrechte Heiligengestalt, sodass sie 1953 das sächsische Chemnitz kraft ihrer Wassersuppe in Karl-Marx-Stadt umbenannten. 1971 gab es dann als Dreigabe auch noch den 40 Tonnen schweren Riesenkopf von Karl Marx, gestaltet von Lew Kerbel, eingeweiht mit einem großen Staatsakt.
Und natürlich gab es nach 1990 einige Überlegungen in der wieder zu Chemnitz gewordenen Stadt, ob man sich von dem „Nischl“ nicht doch wieder trennen wolle. Aber immer dann, wenn solche Vorschläge auf den Tisch kamen, wurde Protest laut: Die Chemnitzer hatten den Riesenkopf irgendwie doch für sich entdeckt. Er ist zu einem Teil der Identität dieser Stadt geworden. Wer den „Nischl“ sieht, denkt an Chemnitz.
Und so gibt es in diesem Bändchen die Geschichte des Karl-Marx-Kopfes genauso zu lesen wie die Geschichte des einst berühmten Lokomotivenkönigs Richard Hartmann, aus dessen Fabrik tausende Lokomotiven auf die Schienen der sächsischen Eisenbahn gesetzt wurden.
Aber auch Georgius Agricola darf nicht fehlen, der einst als Fachmann für den (sächsischen) Bergbau Berühmtheit erlangte, von den Chemnitzern dann aber auch zum Bürgermeister gemacht wurde. Eine Plakette am Rathaus erinnert an den bis heute bekanntesten Chemnitzer Bürgermeister, auch wenn die Chemnitzer ihm – weil er hartnäckig am alten Glauben festhielt – bei seinem Tod eine Beerdigung in der Stadt verweigerten.
Nachhaltigkeit und Prinzenraub
Es ist wieder ein typischer Kotte geworden. Wo sich Spitzen gegen die Unvernunft der Menschen lohnen, hat sie Henner Kotte auch untergebracht. Da kannte er nichts. Etwa wenn er das Leben des Hans Carl von Carlowitz schildert, dem jüngere Politiker ja gern nachsagen, er hätte die Sache mit der Nachhaltigkeit erfunden. Wogegen sich der berühmte Oberforstmeister wohl ernstlich verwehrt hätte, auch wenn er den pfleglichen Umgang mit den Wäldern ja tatsächlich zu seinem Lebenswerk gemacht hat.
Aber das war trotzdem erst der Stand des 18. Jahrhunderts und genügt den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts schon lange nicht mehr, wo der von Carlowitz formulierte Begriff der Nachhaltigkeit von allen möglichen Leuten und Unternehmen regelrecht missbraucht wird, um umweltschädliches Tun mit einem schönen Wort zu verkleistern.
In manchen Geschichten, die Kotte für diesen Band ausgewählt hat, spielt Chemnitz eher am Rande eine Rolle, so wie beim Prinzenraub auf der Altenburg 1455. Aber durch die Spende der Kindersachen durch die Mutter der Prinzen, Margarethe von Österreich, an eine kleine Kirche, die heute zu Chemnitz gehört, kann man sie heute just dort noch besichtigen. Mit Auguste Eichhorn stellt Kotte eine der markanten Frauenrechtlerinnen vor, die im 19. Jahrhundert in Sachsen eine führende Rolle spielten.
Ein später Politiker und ein Behördenversagen von 1947
Mit Heinrich Bertsch kommt der Erfinder eines der bekanntesten Waschmittel aus Ostdeutschland ins Bild und mit Stefan Heym auch der bekannteste Schriftsteller aus Chemnitz. Auch das eine sehr augenzwinkernde Platzierung, denn in die Politik ging Heym erst im hohen Alter – erst mit seiner Rede auf der großen Berliner Kundgebung im November 1989 und dann mit seiner Kandidatur für die PDS für den Bundestag, wo er dann sogar Alterspräsident war – und die Fraktion von CDU/CSU für seine beherzte Rede den Applaus verweigerte.
Und das einem Mann, der seine wichtigsten Werke fast alle nur im Westen veröffentlichen konnte, weil er den Genossen in Ostberlin zu kritisch war. Und ein echter Kotte wäre nicht rund, wenn nicht auch noch ein deftiger Mordfall im Buch Platz finden würde.
Und den fand Henner Kotte mit dem Fall Bernhard Oehme, der schon für das ferne Jahr 1947 demonstriert, wie Ermittlungsbehörden dabei versagten, einen Verbrecher rechtzeitig aus dem Verkehr zu ziehen. Ein Versagen, das man ja auch aus heutigen Skandalen kennt.
Das Büchlein zeigt also auch dem Reisenden, der die aktuelle Kulturhauptstadt noch nicht kennt, ein paar bemerkenswerte Seiten dieser Stadt, ein bisschen Ruhm, ein bisschen Stolz, ein bisschen Abgrund. Wie in jeder anderen Stadt könnte man meinen.
Aber mit „Chemnitzer Köpfe“ werden die Persönlichkeiten dahinter greifbar, stellvertretend für eine von der Geschichte gebeutelte Stadt, die sich mehrmals neu erfinden musste. Aber das hört wohl auch nie auf, braucht aber auch immer wieder Leute, die mal was Neues wagen. Und die der Zeit ihre Stempel aufdrücken.
Henner Kotte Chemnitzer Köpfe in Politik und Wirtschaft Tauchaer Verlag, Leipzig 2025, 12 Euro.
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