Von einer Würde für Tiere steht zwar nichts im deutschen Grundgesetz. Aber es steht in Artikel 20 zumindest dieser Satz: „Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung.“ Nur: Wie passiert das? Oder passiert das gar nicht, weil zwischen Anspruch und Wirklichkeit ein riesiger Abgrund klafft?
Ein Abgrund, der die kognitive Dissonanz enthält, über die der Rechtsphilosoph Johannes Caspar in seinem Beitrag „Tierschutzethische Forderungen und rechtliche Gestaltung im Bereich der landwirtschaftlichen Tierhaltung“ schreibt. Das ist ja der Spezialbereich, über den – wenn es um Tierwohl geht – am intensivsten diskutiert wird und zu dem immer neue Gesetze erlassen werden.
Die Konsumenten begegnen ihm beim Einkauf im Supermarkt, wenn bei Eiern, Fleisch, Milch und so weiter angegeben ist, unter welchen Bedingungen die Tiere gehalten werden. Was manchmal wie ein Fortschritt klingt, aber oft nicht wirklich Wesentliches an den Haltungsbedingungen der Tiere ändert. Von Würde ist dort erst recht keine Rede. Denn Tierhaltung in der Landwirtschaft unterliegt gewaltigen ökonomischen Zwängen.
Der Blick ins Tierschutzgesetz zeigt Ansprüche, die in der Praxis überhaupt nicht erfüllt werden.
„Die Generalklausel in § 2 TierSchG suggeriert einen stabilen und fairen Tierschutz“, schreibt Caspar. „Der Blick auf die Praxis zeigt indes, dass die Norm daran scheitert, den Veterinärbehörden rechtsstaatlich nachvollziehbare Vorgaben für tierschutzgerechte Standards der landwirtschaftlichen Tierhaltung zu machen.“
Der § 1 wird sogar noch gründlicher negiert. Der lautet nämlich: „Zweck dieses Gesetzes ist es, aus der Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf dessen Leben und Wohlbefinden zu schützen. Niemand darf einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen.“
Wer hat eigentlich ein Recht auf Würde?
Die acht Beiträge im Buch diskutieren das Problem von verschiedenen Seiten. Und lassen auch sichtbar werden, warum das Tierwohl in der Gesetzgebung immer wieder unter die Räder kommt – trotz existierender Tierschutzbeiräte in deutschen Ministerien (über die Philipp von Gall schreibt) oder der neuen Stelle einer Bundestierschutzbeauftragten (über welche die Beauftragte Ariane Kari selbst schreibt).
Ein Problem an dieser Diskussion ist: Es fehlt die Gegenposition. Denn darin, dass das Tierwohl heute – weder in Praxis noch Gesetz – gewährleistet ist, sind sich alle Autor/-innen in diesem Band einig. Und dass es auch völlig neue Former der Anerkennung der Würde der Tiere braucht. Wobei die Philosophin Friederike Schmitz in ihrem Beitrag auf die Grundlagen einer Tierethik eingeht und der Theologe Kurt Remele auf die sichtlichen Probleme der Kirchen, über die Würde eines Tieres überhaupt nur nachzudenken.
Wobei die Wahrnehmungsprobleme der Kirchen historisch bedingt sind, denn aus der Bibel lassen sich nur zwei Würden ableiten: die Würde der gesamten (göttlichen) Schöpfung. Und (indirekt) die Würde des Menschen.
Hier hätte jetzt noch ein Aufklärungsphilosoph oder eine Aufklärungsphilosophin gefehlt, die aufgezeigt hätten, dass auch der Begriff der Würde des Menschen sehr jung ist. Denn vor der Aufklärung war Würde ganz unmittelbar mit feudalen Präsentationsämtern verbunden. Würde kam nur hochgestellten Personen zu. Sie war Teil der mittelalterlichen Präsentation. Ihre Diskreditierung zog drakonische Strafen nach sich (was heute teilweise noch in juristischen Vokabeln wie der Majestätsbeleidigung mitschwingt).
Die meisten Menschen der Feudalzeit hatten keine Würde, waren im ganz reale Sinn würde-los. Erst die Aufklärung schuf die ethischen und philopsophischen Grundlagen dafür, dass jedem Menschen – ausnahmslos – Würde zukommt. Erst ein Mensch in seiner ganzen Würde ist auch ein respektierter Staatsbürger.
Diese Diskussion fehlt leider im Buch. Sie hätte deutlicher gemacht, wie sehr gerade die letzten 300 Jahre geprägt waren von einer Neujustierung und Ausweitung des Würdebegriffs. Und wie sehr das erst einmal eine ganz auf den Menschen bezogene Emanzipation war, die aufs Engste mit Staatsbürgerrechten gekoppelt ist.
Würde und Recht
Was die Diskussion einer Würde für alle Tiere entsprechend kompliziert macht. Denn um Staatsbürgerrechte geht es da ja nicht. Eher um einen weiteren Weißen Fleck in der Debatte, die von einigen Tierschützern längst sehr radikal geführt wird.
Man denke nur an die berechtigten Proteste gegen die massenhaften Tierversuche (über die in diesem Band die Fachtierärztin Kathrin Herrmann schreibt) oder die so genannte Rassezucht bei Haustieren, die im 19. Jahrhundert ihre Ursprünge hat und das dubiose Denkgebäude erst erschuf, mit dem dann auch menschliche „Rassen“ gedacht und definiert wurden.
Obwohl die Natur und auch die wissenschaftliche Nomenklatur keine Rassen kennt. Am Beispiel von Hunde- und Katzenzucht macht der Fachtierarzt Achim D. Gruber deutlich, dass all die „niedlichen“ Züchtungen, die heute als „edle“ Rassen angeboten werden, vor allem die Herauszüchtung von Fehlbildungen sind, welche die betroffenen Tiere gesundheitlich belasten und in der Regel weitere körperliche Defekte mit sich bringen, die mit einem würdevollen Tierleben nichts zu tun haben.
Das heißt: Die Diskussion über die Würde der Tiere geht wieder (und auch logischerweise) vom menschlichen Standpunkt aus. Denn wir sehen ja, was wir den Tieren antun, was in den Massentierhaltungen passiert. Die Tiere selbst haben keine Stimme. Sie können sich nicht vor Gericht Gehör verschaffen und ihr Recht auf ein ihnen gerechtes Leben einklagen.
Das müssen Menschen für sie tun. Und deshalb sind es eben auch Menschen, die Tieren eine Würde zuschreiben.
Nicht ganz zwecklos, denn wenn einem Lebewesen Würde zukommt, dann kann man es nicht einfach nur als ein Stück verwertbares Lebensmittel behandeln, bei dem egal ist, ob es in der Aufzucht leidet und unter Bedingungen vegetiert, die man wirklich keinem Schwein zumuten möchte.
Empathie und Goldene Regel
Ganz ohne Ironie. Denn in seinem Beitrag „Ethische Handlungsoptionen in Bezug auf Wildtiere“ kommt der Veterinärmediziner Rudolf Winkelmayer auf jenen Grundsatz zu sprechen, mit dem schon Kant die Grundlagen menschlicher Würde definiert hat – die so genannte Goldene Regel. In der von ihm vorgeschlagenen Version: „Behandle jedermann so, wie du selbst an seiner Stelle wünschtest behandelt zu werden.“
Die Goldene Regel ist natürlich viel älter als die Aufklärung. Aber sie erzählt von etwas, was Menschen – wenn sie glauben „vernünftig“ zu entscheiden – oft vergessen: die Empathie. Denn Menschen sind empathisch. Die meisten.
Sie können sich nicht nur in andere Menschen in Freud und Leid hineinversetzen, sie können das auch bei Tieren. Was ja auch Winkelmayer in Bezug auf das Waidwerk anmerkt, wo es seit Jahrhunderten Regeln gibt, welche Tiere geschossen werden dürfen, wann es Schonzeiten gibt und dass man verletzte Tiere nicht leiden lassen darf.
Das ist zwar schon eine stark rationalisierte Form der Empathie, zeigt aber, dass diese Fähigkeit, tierisches Leid nachzuempfinden, keine neuerliche Erfindung ist.
Und auch, dass es dabei – auch beim Tierleid in der Massentierhaltung – um menschliche Gefühle geht. Um menschliches Mitgefühl mit Tieren. Und letztlich um die Frage: Wieviel Würde schreiben wir den Tieren zu? Was dann das menschliche (Mit-)Gefühl in die rechtliche Dimension verschiebt. Denn wenn wir den Tieren eine Würde zuschreiben, dann muss diese Würde auch in Praxis und Gesetz zur Geltung kommen.
Und das tut sie schlichtweg nicht. Und das empfinden viele Menschen – zu recht – als skandalös. Und sie machen sich – wie die Autor/-innen in diesem Band – Gedanken darüber, wie eine solche – letztlich juristisch verfasste – Tierethik aussehen kann.
Wieviele „Rechte“ also Tiere bekommen und wer eigentlich für sie sprechen darf. Und wer nicht.
Der unaushaltbare Normalzustand
Aber letztlich geht es auch hier um uns selbst, unser eigenes Handeln, das – wie ja Caspar anmerkte – ebenso unter der kognitiven Dissonanz leidet, dass wir fühlen und sogar wissen, wie schäbig und brutal mit Tieren in unserer Welt umgegangen wird, aber es nicht fertigbringen, diesen Missbrauch der lebenden Kreatur zu beenden. Nämlich auch durch Gesetze, die auch durchgesetzt werden.
Genau da aber versagt unser Wissen, weil auf einmal ökonomische Faktoren die Überhand gewinnen und Konzerne und ihre Lobbyisten dafür sorgen, dass Tierschutzgesetze das Papier nicht wert sind, auf dem sie gedruckt sinbd.
Und wir lassen es ihnen – und ihren Gschaftlhubern aus der Politik – durchgehen, dass sie die Tierschutzgesetze immer wieder aushöhlen und zu Nonsense verwursten, nur um mit einer Praxis fortfahren zu können, die für Tiere unendliches Leid bedeutet (und mitfühlende Menschen massiv verstört), aber ihren Profit und das reibungslose Funktionieren einer Maschinerie absichert, in der die „Verwertung“ natürlichen Lebens der Normalzustand sind.
Wobei eben einige Autoren auch die Dimension der Konsumenten ansprechen, die ja mit ihren tägliche Kauf- und Essentscheidungen mitentscheiden, wie am anderen Ende der Verwertungskette mit Tieren umgegangen wird. Wie geht man mit diesem Dilemma des Wissens im eigenen Kopf um?
Denn das muss man, so lange die „Tierverwerter“ auf allen politischen Ebenen immer wieder am längeren Hebel sitzen und damit letztlich bestimmen, wie gnadenlos mit Tieren in unserer Welt umgegangen wird. Und da ist die Dimension der zerstörten Natur- und Lebensräume noch gar nicht erfasst.
Ein Buch, das zum Nachdenken anregt, auch wenn einige Dimensionen darin noch keinen Platz gefunden haben.
Bernd Kappes (Hrsg.) „Würde und Rechte von Tieren“ oekom Verlag, München 2025, 20 Euro.
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