Was es alles so gibt. Aber es scheint tatsรคchlich eine der begehrtesten Publikationen des Bรผrgerkomitees des Landes Thรผringen e.V. zu sein: Das 2017 erstmals erschienene โLexikon der innerdeutschen Grenzeโ, das inzwischen in der dritten Auflage vorliegt. Wie ein ordentliches Lexikon listet es alle Schlagworte zu jener Grenzbefestigung auf, die 40 Jahre lang Deutschland mittendurch teilte und zur Todesfalle fรผr viele Menschen wurde, die versuchten, diese Sperranlagen irgendwie zu รผberwinden.
Heute ist von der Brutalitรคt dieser รผber die Jahrzehnte immer weiter ausgebauten Grenzanlagen nur noch wenig zu sehen. Die meisten Zรคune und Mauern wurden abgebaut, die Minenfelder berรคumt, die Selbstschussanlagen beseitigt, die Wachtรผrme verschwanden aus der Landschaft. Oft sind es nur noch die mit Betonplatten ausgelegten Kolonnenwege, auf denen die Grenzer einst unterwegs waren, die heute an den Verlauf der Sperranlagen erinnern.
Und natรผrlich findet man im Buch auch jene Kette von Gedenkstรคtten und Museen, die vor allem an einstigen Grenzรผbergรคngen zeigen, wie streng und unerbittlich das Grenzregime war bis zu jenem 9. November 1989, an dem โdie Mauer fielโ.
Obwohl sie da ja gar nicht fiel, sondern nur durchlรคssig wurde, weil tausende Ostberliner wissen wollten, ob die Nachricht stimmte, dass die Grenze nun offen wรคre, und damit auch die Grenzer dazu zwangen, den รbergang freizugeben. Ohne jahrelange Antragstellung, ohne Schikanen, ohne Extragenehmigung. Einfach so. Und die Bilder von damals sind ja bis heute lebendig: Ost- wie Westdeutsche erlebten diese Tage wie eine Befreiung von einem Albdruck.
Die neue Normalitรคt, dass man diese Grenze einfach so รผberschreiten konnte, war gerade fรผr DDR-Bรผrger etwas geradezu Unerhรถrtes, Unglaubliches. Denn erfahren hatten sie die Abschottung ihres Landes ja auch als ein regelrechtes Eingesperrtsein, als Unmรถglichkeit, die weite Welt zu bereisen. Und oft genug als Drama in ihrer Familie, wenn Angehรถrige oder Bekannte beim Versuch eines Grenzรผbertritts zu Tode kamen.
Daran erinnern in dieser Broschรผre auch die langen Listen mit den Namen all derer, die an der innerdeutschen Grenze โ aber auch an anderen Grenzen des Warschauer Paktes โ ums Leben kamen: erschossen wurden, in der Ostsee ertranken oder nach einem gescheiterten Fluchtversuch hingerichtet wurden.
Wie martialisch die Grenze โ und nicht nur die โMauerโ um Westberlin โ ausgestattet war, machen dann die einzelnen Schlagworte deutlich, in denen auch der konkrete Auf- und Ausbau der Grenzanlagen geschildert wird. Immerhin war mit Andreas Rudolph auch ein ehemaliger Major der Grenztruppen der DDR an der Erarbeitung des Lexikons beteiligt. 1989/1990 arbeitete er in der Reformkommission der Grenztruppen der DDR mit.
Das Lexikon geht auf den immer wieder diskutierten Schieรbefehl an der Grenze ein, auf die Luftraumรผberwachung, die รberwachung des Transitverkehrs und auf die Sperrgebiete. Man liest von Grenzgรคngern (in den frรผhen Jahren der innerdeutschen Grenze) und Agentenaustauschen. Und natรผrlich auch vom Abbau der Anlagen, die das Land so lange geteilt hatten.
Fรผr jรผngere Leser dรผrfte das Buch zumindest beklemmend sein, weil man sich heute beim Passieren dieser nun fast unsichtbar gewordenen Grenze kaum mehr vorstellen kann, wie martialisch das Grenzregime zwischen Ost und West war. Und nicht nur hier. Viele DDR-Bรผrger kamen ja auch beim Versuch, in Bulgarien oder der CSSR die Grenze zu รผberwinden, ums Leben. Oder sie wurden beim Fluchtversuch gefasst und dafรผr drakonisch bestraft.
Das Buch hilft, sich an ein wirklich bedrรผckendes Kapitel in der jรผngeren deutschen Geschichte zu erinnern. Eine Erinnerung, die durchaus aktuell ist, wenn heute migrationsfeindliche Parteien wieder eine Abschottung Deutschlands verlangen und eine Abschaffung der europรคischen Freizรผgigkeit, diesmal um Menschen auszusperren, die Asyl in Deutschland suchen. Das Thema Flucht gilt jetzt fรผr die โAnderenโ.
Und so mancher Politiker geriert sich als groรer Grenzschรผtzer und vergisst vรถllig, dass Flรผchtlinge in der Regel ganz humanitรคre Grunde haben, wenn sie sich auf eine gefahrvolle Flucht begeben. Dass der neue Aufbau eines Grenzregimes diese Probleme nicht lรถst, mรผssten die Deutschen eigentlich aus 40-jรคhriger Erfahrung wissen.
Aber vielleicht braucht es wirklich erst so ein Buch, das die ganzen Schrecken eines rรผcksichtslos ausgebauten Grenzregimes zeigt, damit sich die Leser an dieses Kapitel in der jรผngeren Vergangenheit wieder erinnern und auch beim Besuch der vielen Gedenkstรคtten und Museen sehen wollen, was dieses Abschottungsdenken fรผr ein Land und seine Bewohner tatsรคchlich bedeutet.
Man kann das schwergewichtige Lexikon direkt beim Bรผrgerkomitee des Landes Thรผringen e.V. bestellen.
Ingolf Hermann, Hartmut Rosinger, Karsten Sroka โLexikon der innerdeutschen Grenzeโ, Bรผrgerkomitee des Landes Thรผringen e.V., 2020, 10 Euro.
Empfohlen auf LZ
So kรถnnen Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstรผtzen:
Keine Kommentare bisher