Um Religion geht es dem Religionsforscher Detlef Pollack in diesem Buch einmal nicht. Auch wenn der „Glaube“ an die Versprechungen der Moderne schon etwas fast Religiöses hat. Denn sie lebt vom Aufstiegsversprechen an alle Mitglieder der Gesellschaft. Und sie enttäuscht dieses Versprechen für viele, obwohl sie wie keine andere Gesellschaftsformation der Menschheitsgeschichte Wohlstand geschaffen hat. Und genau das bringt die westliche Moderne heute in Gefahr. Ein Buch, das Vieles von dem erklärt, was heute rumort.
Und dabei hat Pollack seinem Buch einen Titel gegeben, der an einen großen Klassiker der Weltliteratur erinnert: Charles Dickens’ „Große Erwartungen“. Es ist die Geschichte des armen Waisenjungen Pip, der erst einen geradezu märchenhaften Aufstieg erlebt, sich am Ende aber des Reichtums nicht erfreuen kann, weil das Geld aus einer korrupten Quelle stammte.
Und so ein bisschen fühlen sich in der westlichen Moderne auch viele Menschen, wenn sie auf die Herkunft des – westlichen – Wohlstands schauen. Das schlechte Gewissen ist immer dabei und macht die Demokratien des Westens auch so kritik- und störanfällig – nicht nur durch rücksichtslose Autokraten, die das westliche Gesellschaftsmodell mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln angreifen.
Auch für die eigenen korrupten Politiker und Oligarchen, die die Demokratie unter Beschuss nehmen und dabei die – vorhandenen – Ängste und Enttäuschungen der Menschen ausnutzen.
Enttäuschungen, die ein ganz wesentlicher Bestandteil der Moderne sind, die als Begriff zwar oft im Munde geführt wird, in der Regel auch berechtigterweise assoziiert wird mit den westlichen Demokratien. Aber damit Menschen überhaupt das Dilemma spüren können, das nicht erfüllte Träume von Wohlstand und Aufstieg mit sich bringen, braucht es überhaupt erst einmal Vorstellungen von Fortschritt, eine völlig neue Zeit- und Zukunftsvorstellung, die es vor den Ideen der Aufklärung und der mit ihr einher gehenden Moderne gar nicht geben konnte.
Dazu mussten Menschen überhaupt erst einmal Ideen davon entwickeln, dass die Welt nicht auf ihr Ende hin existierte, so wie das im mittelalterlichen Denken die Norm war, sondern dass Zukunft als etwas Offenes gedacht werden konnte. Etwas, was nicht in Gottes Hand lag, sondern von Menschen gestaltet und verändert werden konnte.
Sensible Systeme
Als dieser Gedanke erst einmal in der Welt war, veränderte er alles – nicht nur die Wissenschaft, die Moden, die Kultur, die Politik, sondern auch die Wirtschaft. Also das gesamte Denken darüber, wie Menschen über ihr Leben verfügen können. Und es war kein Zufall, dass der enorme technische und ökonomische Aufschwung in den Ländern des Westens auch mit der Entwicklung der Demokratie einherging.
Eines bedingt das andere. Eines ermöglicht das andere. Auch Umfragen der Gegenwart bestätigen, wie die Menschen das Funktionieren der Demokratie daran messen, wie gut diese in der Lage ist, wirtschaftliche Prosperität und Wohlstand zu gewährleisten.
Man merkt schon, dass es Detlef Pollack beschäftigt, wie sehr ausgerechnet die westliche Moderne heute unter Beschuss geraten ist und zum Feindbild scheinbar der ganzen Welt geworden ist. Obwohl selbst ein oberflächlicher Blick in die Geschichtsbücher zeigt, dass es die Fortschritte in Technologie, Gesundheit, Bildung, Lebensmittelversorgung, Mobilität usw. weltweit ohne diese Moderne gar nicht gegeben hätte.
Und nun scheinen selbst viele Bürger der westlichen Staaten nur allzu bereit, all das zu opfern, um ganz offensichtlich grimmigen Vorstellungen autoritärer Politik den Raum einzuräumen. Was läuft da falsch? Oder hat das mit den Versprechungen der Moderne selbst zu tun?
Versprechungen, die so gar nicht erfüllt werden können, weil die moderne Demokratie eben kein Supermarkt ist. Sondern ein Ort, wo widerstreitende Interessen und Systeme miteinander konkurrieren?
Und der auch noch etwas Frustrierendes bereithält für Leute, die irgendwie glauben, Geschichte wäre ein linearer, planbarer und rationaler Prozess. Dabei gehört das Infragestellen von Anfang an zur Moderne, wie Pollack schreibt: „Ein Blick auf ihre inzwischen mehr als zweihundertjährige Geschichte lässt kaum einen Zweifel daran zu, dass die westliche Moderne bei allen weitgespannten Ansprüchen auf Wachstum und Expansion und teilweise gerade aufgrund dieser Steigerungsansprüche von Anfang an ein Bewusstsein ihrer Fehlerhaftigkeit und Korrekturbedürftigkeit entwickelt hat.“
Konkurrierende Systeme
Die Moderne kennt keinen Archimedischen Punkt, an dem die Welt aus den Angeln gehoben werden könnte. Dafür besteht sie aus mehreren Subsystemen, die ihre eigenen Prozesse unterhalten, mit denen nach erfolgreichen Strategien gesucht wird, Dinge hinzubekommen. Das ist das eigentlich Neue. Aber keines dieser Systeme ist so ganz autonom. Und keines kann die anderen dominieren – auch wenn das oft so aussieht, weil Kräfteverhältnisse immer wieder neu austariert werden.
Pollack schreibt ein ganzes Kapitel über „Autonomie und Abhängigkeit“. Und wer tatsächlich glaubt, sein Wille geschehe, wenn er nur bei der Wahl die „richtige“ Partei wählt, wird hier eines Besseren belehrt. Denn Demokratie lebt – das ist ganz essenziell – gerade von der Differenzierung, von immer neuen Aushandlungsprozessen, mit denen vielleicht nicht mal das bestmögliche Ergebnis erreicht wird, aber dafür das mögliche Ergebnis, wa oft genug für heftigste Enttäuschungen sorgt – oder so wie es auch Pollack betitelt: „Die irritierte Gesellschaft“.
Eben weil die Subsysteme nicht alle auf einen einzelnen „starken Mann“ an der Spitze fokussiert sind, der Befehle gibt (oder Dekrete schreibt) und damit seinen eigenen egomanischen Willen durchsetzt, ist die moderne Gesellschaft unübersichtlich, wirkt oft schwerfällig, ist aber gerade deshalb flexibel, weil alle Systeme immerfort aufeinander reagieren.
Eine Änderung an einer Stelle – ein neues Gesetz zum Beispiefl – löst in allen anderen Systemen Reaktionen aus. Niemand weiß wirklich, was bei solchen Veränderungen alles passiert. Und gleichzeitig sorgt das dafür, dass das Gesamtsystem auf manche Alarmzeichen mit einer geradezu frustrierenden Trägheit reagiert – man denke nur an das seit 50 Jahren manifeste Wissen um die Folgen des Klimawandels, die uns alle betreffen.
Und weil wir das alles wissen und über alle möglichen Dinge permanent diskutiert wird, entsteht ein Effekt, der zum Unbehagen in der Moderne direkt beiträgt. „Die Verarbeitungskapazitäten der Systeme sind permanent überlastet, mit der Folge, dass nicht nur ständig Neuerungen erforderlich sind, sondern viele dieser Neuerungen nicht mehr in die überkommenen Strukturen eingepasst werden können.“
Verdonnert zur Veränderung
Das heißt: Gerade das Wissen um Fehleranfälligkeit und das Wissen um die Notwendigkeit von Korrekturen schafft permanent Veränderungen und Neuerungen. Die ständige Erneuerung ist der Moderne damit fest eingebaut. Wir können gar nicht mehr anders. Und genau das überfordert die Menschen und schafft neue Krisen der Demokratie. Womit Pollack dann im Kapitel „Die soziale Dimension der Moderne“ auf das schöne Wörtchen Freiheit zu sprechen kommt.
Bei jeder Wahl immer ganz groß plakatiert, den Wählern wie eine Möhre hingehalten und meist so verkauft, als wäre Freiheit ein wohlfeil zu erlangendes Gut. Was sie nicht ist. Auch das erläutert Pollack recht ausführlich, denn die Handlungsfreiheit ihrer Bürger zu gewährleisten, braucht die moderne Gesellschaft überhaupt erst einmal eine rechtliche Grundlage, die diese Freiheiten gewährleistet. Ohne Recht keine Freiheit. Und übrigens auch nicht ohne einen funktionierenden Staat und eine unabhängige Justiz.
Man stöhnt innerlich, weil Pollack hier Dinge anspricht, die eigentlich selbstverständlich sind – und trotzdem agieren ganze Parteien so, als hätten sie von diesen Grundbedingungen von Freiheit noch nie etwas gehört. Und führen ihre Wähler damit an der Nase herum, reden blasiert von „Altparteien“, als wäre das ein monolithischer Block und nicht tatsächlich der Ausdruck einer demokratischen Vielfalt.
Und versprechen gleich einmal, den gesamten so mühsam austarierten Staat zu demolieren, umzukrempeln, abzuschaffen. Oder – wie es die Neoliberalen formulieren: zu „verschlanken“. Ohne dass die Wähler merken, dass diese Leute direkt die Axt an die Grundlagen genau der Freiheit legen, von der sie immerzu reden.
Das Individuum und seine Ansprüche
Ein erhellendes Buch. Gerade für Leser, die sich von den ganzen Legenden über die Verfehlungen der Moderne haben einlullen lassen, die es natürlich gab und gibt. Das führt auch Pollack an. Und vieles davon hätte es ohne die Entfesselung der Moderne nicht gegeben. Und gleichzeitig zeigen gerade diese Dinge, dass die Moderne kritik- und lernfähig ist.
Nicht unbedingt durch die Leute, die von diesen Dingen (Ausbeutung, Kolonisation usw.) profitieren. Sondern durch die Gegengewichte gesellschaftlichen Spiel – so wie der erstarkenden Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert, die es in den vormodernen Gesellschaften gar nicht hätte geben können. Oder den Emanzipationsbewegungen der Frauen, den Antirassismus-Bewegungen und viele weiteren sozialen Elemente und Bewegungen, die geradezu typisch sind für die Moderne.
Denn Fakt ist eben auch: In der Moderne spielt das Individuum überhaupt erst einmal eine Rolle, meldet sich zu Wort und stellt Ansprüche. Pollack: „Die Beachtung der Bedürfnisse und Interessen der Individuen unterscheidet moderne Gesellschaften von allen anderen Gesellschaftsordnungen. Die Einbeziehung der Menschen in die wirtschaftlichen, politischen und sozialen Kreisläufe macht moderne Gesellschaften dynamisch und erfolgreich.“
Und das schafft, darauf kommt Pollack besonders im abschließenden Kapitel „Dilemmata der Moderne“ zu sprechen, überhaupt erst die Basis dafür, für Krisen auch (gemeinsam) Lösungen zu finden. Auch und gerade deshalb, weil das so verdammt lange dauert und so viele Leute mitreden wollen. Der Blick in die Geschichte der westlichen Moderne gibt Pollack tatsächlich Zuversicht.
„Vor allem aber zeigen die Daten, dass die westliche Moderne zur Selbstkorrektur und zur Zurücknahme ihrer Steigerungstendenzen fähig ist“, schreibt er. Und geht auch auf die scheinbare Zaghaftigkeit westlicher Regierungen im Umgang mit autoritären Regimen und Kriegen ein. Eine Zaghaftigkeit, die sehr viel mit den eigenen Erfahrungen zu tun hat und ganz unübersehbaren Fehlern, die auch Europäer und Amerikaner gemacht haben.
Zaghafte Moderne?
Die Stimmen, die zur Vorsicht mahnen, haben mehr Gewicht bekommen. Andererseits aber bietet die mediale Öffentlichkeit gerade in den Staaten des Westens auch jede Menge Raum für die Untergangspropheten aller Art, für Radikalisierungen und Ohnmachtsgefühle. Hier geht Pollack auch auf die Klimakrise ein und die teils verhärteten Positionen dazu – von Untergangsbeschwörungen bis zur Technologiegläubigkeit.
Aber die verfügbaren Statistiken zeigen eben heute schon, dass gerade die Länder der westlichen Moderne reagieren und umsteuern können. Sie sind fähig zur Korrektur, auch wenn wichtige Entwicklungen viel zu langsam gehen. Oder Entscheidungen – wie in der Corona-Pandemie – zu zäh und vorsichtig kommen. Da kann man dann in ein Lamento ausbrechen.
Oder überhaupt erst einmal mit dem Abstand des Philosophen sehen, dass das scheinbar so chaotische System der Moderne zwar langam und oft zu schwerfällig reagiert – aber es ist fähig sich zu korrigieren, anders als die großen Autokratien der Vergangenheit und der Gegenwart.
Und da überrascht es Pollack dann auch nicht allzu sehr, dass sich die Unzufriedenheit mit dem Funktionieren der Moderne im rechtspopulistischen Spektrum sammelt. Gerade diese Unzufriedenheit erzählt ja davon, wie hoch die Erwartungen der Menschen an den Fortschritt und die Wohlstandssicherung der Moderne sind.
Und wie wenig genügt, hier dem Gefühl der Zurücksetzung, der Unzufriedenheit Raum zu geben und die Menschen mit der Behauptung zu ködern, man würde alles besser machen – wenn man nur das ganze System zerstört. Die Gefahr, dass diese Stimmung kippt, sieht Pollack durchaus. Die Entwicklungen in den USA, Ungarn, Italien oder den Niederlanden sind unübersehbar.
Aber er sieht eben auch die Mehrheit der anderen Bewohner der westlichen Demokratien, die keineswegs bereit sind, den Kopf hängen zu lassen, sondern genau diese Moderne auch als einen Raum begreifen, der Handlungsmöglichkeiten gewährleistet. Gerade in dem so heftig befehdeten System der miteinander kommunizierenden Subsysteme der westlichen Moderne steckt die Energie zu Lösungen, die aus dem Schlamassel der Gegenwart herausführen kann.
Und mit Bezug auf Charles Dickens’ Roman „Große Erwartungen“ geht Pollack in seinem Fazit eben noch einmal auf das ein, was am Anfang der Moderne stand: „Am Anfang stand die idealistische Hoffnung auf Freiheit, Gleichheit, Fairness und Wohlstand“. Er spricht auch von der Zweischneidigkeit idealistischer Hoffnungen.
Aber genau diese Ideale lassen die westliche Moderne nicht zur Ruhe kommen und zwingen sie geradezu, immer wieder neu zu justieren und Veränderungen zu wagen, von denen am Anfang keiner wirklich weiß, ob das Wagnis gelingt.
Detlef Pollack „Große Versprechen“ C. H. Beck, München 2025, 18 Euro.
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