Eigentlich hätte der Titel für Alexander Maßmanns Buch auch „Wie wollen wir leben?“ lauten können. Denn darum ging es in seiner Kolumne „evangelisch kontrovers“ auf evangelisch.de, die er in der Corona-Zeit startete, um sich dort Gedanken über all die großen Streitthemen unserer Zeit zu machen, die auch die großen Kirchen etwas angehen. Nur: Die Kirchen schwiegen und schweigen zu fast allen Themen. Oder kneifen regelrecht, wenn die Diskussion zum Beispiel auf Themen aus dem Bereich „Sexualität und Geschlechtergerechtigkeit“ kommt. Zu denen Alexander Maßmann natürlich auch Stellung bezieht.
Ganz bewusst als evangelischer Theologe, der zumindest so eine Ahnung hat, warum seine Kollegen schweigen. Oder eben so verklausuliert daherreden, dass kein Mensch mehr zuhören mag. Das Studium der Theologie macht ganz offensichtlich nicht sprachfähiger. Schon gar nicht im Gespräch mit den Menschen „da draußen“, die oft klare Antworten zu komplizierten Fragen haben wollen. Und keine weitere Interpretation irgendwelcher diffuser Bibelstellen, die mit der Gegenwart nichts zu tun haben.
Richtig leben in der „post-christlichen Gesellschaft“
Bibelstellen zitiert Maßmann auch. Sehr fein dosiert. Immer dann, wenn er deutlich macht, dass in den ausufernden Diskussionen von heute auch Probleme stecken, mit denen sich die Menschen auch schon vor 2.000 Jahren herumschlugen. Denn einfach und simpel waren menschliche Verhältnisse noch nie. Auch abseits von Sexualität und Familienbild. Spätestens wenn es um Politik ging, wurde es auch für die frühen Christen kompliziert. Auch wenn die Evangelien an wichtigen Stellen eine Idee für eine andere, menschlichere Politik zeichnen. Aber wie lebt man das?
Das wird für Viele tatsächlich zu einer sehr aktuellen Frage, wenn es um die „post-christliche Gesellschaft“ geht, wie Maßmann sie nennt. Denn auch wenn die Deutschen derzeit reihenweise aus den Kirchen austreten, hören für sie die ethischen Fragen nicht auf, drängend und wichtig zu sein. Was das Neue Testament anspricht, ist allgemein-menschlich. Steht immer als Herausforderung, nicht erst, wenn AfD-Mitglieder Kirchenämter übernehmen wollen.
Dürfen die das? Oder ist das genau – wie Maßmann es vorexerziert – eine ganz persönliche Frage, in der der Gläubige ebenfalls Stellung beziehen muss: Ist das lässlich für ihn und seine Gemeinde? Oder kann man derartigen Leuten so ein Amt auf keinen Fall geben, eben weil sie einer durch und durch menschenfeindlichen Partei angehören? Kann man überhaupt trennen?
Maßmann gibt keine einfachen Antworten, sondern faltet das ganze Problem mit Für und Wider erst einmal auf, macht die moralischen Fragen sichtbar, die darin verborgen sind. Und dann sagt er in der Regel: Ich. Denn das ist der Schritt, den jeder tun muss, wenn er sich Klarheit in seinem Leben schaffen will. Man kann sich nicht hinter einem großen „Wir“ oder „Alle“ verstecken. Moralische Entscheidungen sind immer persönliche Entscheidungen. Und sie brauchen oft genug so etwas wie Mut und Rückgrat – die sich ja bekanntlich derzeit bei einigen Politikern mit „C“ am Revers herzlichst vermissen lassen. Und Maßmann lässt seinen Lesern natürlich offen, wie sie entscheiden. Aber er sagt auch deutlich, wie er sich entscheiden würde.
Wie gehst du mit den Fremden um?
Und sein Büchlein mit 22 Beiträgen aus „evangelisch kontrovers“ bietet lauter solche brennenden Themen aus der Gegenwart. Auch zu dem Thema, das in dieser Woche den Bundestag regelrecht zerrissen hat: der Migration. Und wie man sich als verantwortlicher Mensch und Christ dazu verhalten kann. Und wohl auch sollte, wenn man die entscheidenden Passagen aus der Bibel noch ernst nimmt. Weil darin nun einmal das christliche Grundverständnis beschrieben ist: Wie geht man mit hilfsbedürftigen Fremden um?
Maßmann diskutiert es am Beispiel der EU-Asylreform, die selbst schon ein Tabubruch war, weil sie die Schutzsuchenden versucht, schon an den Grenzen Europas abzuschrecken, gar zu internieren. Womit die EU auch ihre eigenen Werte ab absurdum führt. Mal ganz davon zu schweigen, dass noch mehr Abschreckung zu noch mehr Tragödien führen wird – das Problem, dass Millionen Menschen auf der Flucht sind, aber nicht einmal ansatzweise löst.
Und genauso thematisiert Maßmann Israels Krieg im Gaza-Streifen und die Frage, die einige Parteien im Bundestagswahlkampf (wieder) postulieren: „Ukrainekrieg: Sollen Christen alle Gewalt ablehnen?“ Da erinnert Maßmann – berechtigterweise – daran, dass Deutschland vor Putins Überfall auf die Ukraine die russischen Staatskassen mit Milliarden gefüllt hat, weil man selbst nach dem Einmarsch der russischen Truppen auf der Krim 2014 nicht aufhörte, weiter russisches Gas und Öl zu kaufen.
Womit Deutschland ganz eindeutig die russische Kriegskasse gefüllt hat. Und damit einen Aggressor geradezu ermutigt hat, über einen friedlichen Nachbarn herzufallen. Christliche Friedensethik unterscheidet sich dann eben doch von dem derzeit von einigen Parteien praktizierten „Radikalpazifismus“, wie ihn Maßmann nennt.
Wie weit darf Protest gehen?
Aber das Wichtigste, was seine Beiträge zeigen, ist eben, dass es in eigentlich allen großen Streitfragen kein einfaches und billiges Ja oder Nein gibt, kein eindeutiges Schwarz oder Weiß. Sondern meist große Räume sich widerstreitender Argumente, innerhalb derer sich Menschen positionieren können und müssen. Und zwar möglichst unter Abwägung der verschiedenen Argumente und – etwa im großen Themenfeld von „Bio- und Medizintechnik“ – auch der wissenschaftlichen Erkenntnisse.
Und dasselbe trifft auch auf das große Feld „Klimakrise und Umweltschutz“ zu, wo Maßmann nur ganz sachte an den biblischen Topos von der „Bewahrung der Schöpfung“ rührt. Denn der wirkt natürlich eindrucksvoll – überfordert aber den Einzelnen. Denn: Wie soll das gehen? Auch hier geht es um die einzelne, stets individuelle Entscheidung. Etwa wenn es um das Fleischessen geht, wo die Veränderung für manche einfach schon heißt: weniger Fleisch zu essen.
Oder wenn es um das Recht von jungen Leuten geht, sich auf der Straße festzukleben, um endlich eine wirklich wirksame Klimapolitik einzufordern. Oder um die Frage, ob wir wirklich an einem Wohlstand festhalten wollen, der nur mit immer mehr Wirtschaftswachstum – und damit mehr Naturzerstörung – zu haben ist? Oder ob das vielleicht sogar auch anders geht.
Alexander Maßmann signalisiert seinen Leserinnen und Lesern letztlich: Es ist überhaupt nicht schlimm, wenn sie sich bei einer Sache unsicher sind. Er versucht möglichst genau, die manchmal durchaus komplexen Themen verständlich auseinander zu dröseln und zu zeigen, welche Entscheidungsmöglichkeiten sich jedem Einzelnen bieten und welche ethischen Fragestellungen dabei tangiert werden. Und dann erklärt er – meist mit einem kurzen Hinweis auf die Bibel – wie er die Sache sieht und warum er sich dann so entschieden hat, wie er es getan hat.
Lüge und Wahrheit
Und das ist schon ein wertvoller Schritt in einer völlig überhitzten Diskussionskultur, in der es kaum noch um die vielen unterschiedlichen Möglichkeiten geht, mit denen sich Menschen in der Welt positionieren können. Das führt Maßmann schon exemplarisch im ersten Beitrag „Kann eine Lüge moralisch gerechtfertigt sein?“ vor.
Ein Beitrag, der viele Prinzipienreiter überraschen dürfte. Und auch all jene, die über das menschliche Dilemma im Umgang mit der Wahrheit noch nie wirklich nachgedacht haben. Die dann aber stets nach „der Wahrheit“ rufen oder gar behaupten, in ihrem Besitz zu sein. Und andere dann anprangern, wenn sie bei durchaus menschlichen Lügen erwischt werden. Also eine Reinheit fordern, die nicht mal Heilige im Leben verwirklichen können. Während gleichzeitig andere Zeitgenossen ganz unverhohlen und bewusst lügen und alles tun, die Lüge zur gültigen „Wahrheit“ zu machen.
So verzwickt dieses Thema scheint: Auch hier zeigt Maßmann, dass man dabei sehr wohl eine klare Position beziehen kann. Und auch sollte, wenn man im eigenen Leben den Anspruch verfolgt, ein anständiger Mensch sein zu wollen. Oder eben – da er ja auch die noch gläubige Gemeinde anspricht – ein aufrechter Christ.
Der sich in der Moderne durchaus auch verloren vorkommen kann, wenn die wilden Debatten aufflammen und manche Leute mit den ganz großen Keulen aufeinander eindreschen – so wie in etlichen Bereichen der Cancel Culture oder im Umgang mit der „Künstlichen Intelligenz“, deren Anbeter ja schon alle naselang behaupten, intelligente Computer würden über kurz oder lang die Herrschaft über die Erde antreten. Das macht vielen Menschen natürlich Angst und Bange, hat aber mit der Realität, auf die Maßmann in seinen Beiträgen immer wieder recht ausführlich zu sprechen kommt, nichts zu tun.
Mit dieser Veröffentlichung zeigt er, dass man auch aus der ethischen Perspektive eines evangelischen Theologen über die Wirklichkeit und ihre brennendsten Probleme sprechen kann, ohne zu predigen oder ewig gültige „Wahrheiten“ zu behaupten. Stattdessen holt er Leserinnen und Leser da ab, wo sie gerade sind, fächert Für und Wider auf und landet in seiner eigenen Entscheidungsfindung meist irgendwo dazwischen, mal zum Ja tendierend, mal zum Nein.
Und gerade damit macht er deutlich, dass es nicht schlimm ist, auch bei großen Streitthemen unentschieden zu sein – oder einfach mit den Leuten nicht einer Meinung zu sein, die stets ein absolutes Ja oder Nein verlangen. Und selbst da kann man – ganz im biblischen Sinn – eindeutig sein. Man muss nur wissen, wie man selbst zu seiner Entscheidung gekommen ist.
Alexander Maßmann „Evangelisch kontrovers“ Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig2025, 19 Euro.
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