Mit seinem Buch „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ landete der französische Ökonomieprofessor Thomas Piketty 2014 einen Welterfolg. Und traf damit eigentlich den Nerv der Zeit. Ein ähnlich hochaktuelles Buch schrieb der Harvard-Professor Michal J. Sandel: „What money can’t buy“. Nun trafen sich die beiden, um einmal ausführlich darüber zu sprechen, warum die Machtkonzentration in den Händen einiger Superreicher die Gesellschaften des Westens zerstört und es bei Wahlen eigentlich um Gleichheit und Gerechtigkeit gehen sollte. Aber nicht geht.

Dass Pikettys Buch so ein Aufsehen erregte, hat vor allem damit zu tun, dass er in „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ zeigte, wie die Vermögensverteilung bestimmt, wer in den Ländern der westlichen Demokratien eigentlich über Macht verfügt. Und wer nicht. Wessen Politik also gemacht wird, weil Geld in diesen Dimensionen eben auch bedeutet, dass man sich damit Macht und Einfluss kaufen kann. Auf allen Ebenen.

Und dass man damit auch das Denken verändert, genau so, wie es die neoliberale Wirtschaftstheorie in den vergangenen 40 Jahren getan hat. Und zwar so radikal getan hat, dass sich selbst die führenden Politiker der sozialdemokratischen Parteien eine andere Art des Wirtschaftens und der Steuerpolitik gar nicht mehr vorstellen können.

Die fatalen Folgen neoliberaler Politik

In ihrem Gespräch erinnern Piketty und Sandel an die prägenden linken und demokratischen Politiker, die – statt die Gesellschaft wieder gerechter zu machen, in ihrer Amtszeit die „Globalisierung“, den Freihandel und die „Liberalisierung“ der Wirtschaftsgesetzgebung vorangetrieben haben – an Bill Clinton, Gerhard Schröder und Tony Blair. Was sie angerichtet haben – auch mit massiven Programmen der Steuersenkung für die (Super-)Reichen und der Dereregulierung der Finanzmärkte (die dann erst den großen Crash von 2007/2008) ermöglichten, – erörtern die beiden im Gespräch immer wieder.

Das eigentlich ein Gespräch war, mit dem sie Lösungen für die aktuellen Krisen der westlichen Demokratien suchten. Und für die Frage, warum die linken Parteien ihre Chancen nicht genutzt haben und geradezu mit wegenden Fahnen eingeschwenkt sind auf den neoliberalen Kurs des Denkens, der heute die Wirtschaftspolitik im Westen bestimmt.

Und natürlich auch die Stimmungslage bei den Wählern, die nun seit Jahren mit der verqueren Behauptung geködert werden, die Migration sei schuld an den Verwerfungen in den westlichen Wirtschaften. Obwohl jeder nüchterne Blick in die abgehängten Industrieregionen der USA (über die ja der heutige US-Vizepräsident J. D. Vance in seiner „Hillbilly-Elegie“ schrieb) und Frankreichs (wo die Partei Marie Le Pens ihre Wahlerfolge feiert) zeigt, dass der Auslöser des Niedergangs überall die Abwanderung der hier einst ansässigen Industrien in Billiglohnländer wie China war.

Die sogenannte „Globalisierung“ kam vor allem den Konzenren und ihren Aktionären zugute (die dann auch noch von den Steuergeschenken der Regierungen profitieren), während die Industriearbeiter in einer Region zurückblieben, in der auf einmal die wichtigsten Infrastrukturen nicht mehr bezahlbar waren und alles vom Niedergang erzählte. Und so wie 2016 holte Donald Trump auch 2024 in diesen abgehängten Staaten die Stimmen, die er zum Sieg brauchte.

Piketty und und Sandel brauchen gar nicht lange, um das sehr klare Fazit zu ziehen, dass es heute die rechten und rechtspopulistischen Parteien sind, die von dieser Entwicklung profitieren, weil sie den Abgehängten Nationalismus und Rassismus als Beruhigungsangebot unterbreiten. Motto: Die Ausländer haben Schuld. Wenn man sie aus dem Land schmeißt, wird alles wieder gut.

Warum es um Gleichheit und Gerechtigkeit geht

Obwohl nichts in den Programmen der rechten Parteien wirklich ein Angebot für die Underdogs ist. Sie bieten keine bessere Bildungspolitik an, keine besseren Löhne, keine neuen Industrien, keine bessere Altersversorgung, auch wenn sie es auf ihre Plakate schreiben. Denn da sind sich Piketty und Sandel einig: Wer die Lage der Abgehängten verbessern will, muss wieder Gleichheit und Gerechtigkeit zum Inhalt seiner Politik machen.

Und das bedeutet – egal aus welcher Richtung man darauf schaut – Umverteilung. Nur eben nicht von unten nach oben, wie es das derzeitige und maximal ungerechte Steuersystem in allen Ländern des Westens befördert, sondern von den Vermögenden und Vielverdienern an den Staat, der es für soziale Programme, eine barrierefreie Bildungslandschaft und Investitionen in eine gute Infrastruktur einsetzen kann. Denn Geld ist genug da.

Aber das sehen auch die Wähler nicht, weil ihnen jeden Tag aufs neue von allen möglichen Politikern gepredigt wird, man könne sich das nicht leisten, der Staat müsse sparen und die Schuldenbremse sei eine heilige Kuh. Die Ansprüche der Menschen an den Staat seien einfach zu groß. Und jeder möge sich doch selber anstrengen, dann käme er auch nach oben, würde sich was leisten können, wir lebten ja in einer Meritokratie. Auf schlecht deutsch: Leistungsgesellschaft.

Nur wissen die meisten Leute, die jeden Tag eine Menge leisten, dass sie für ihre Leistung überhaupt nicht belohnt werden. Im Gegenteil. Sie sind immer diejenigen, die am Ende der Schlange stehen. Während die großen Gewinne einer nach wie vor erfolgreichen Wirtschaft von den Reichen und Vermögenden abgeschöpft werden. Leistungslos. Und das auch noch verbunden mit einer offiziellen Verhöhnung der Armen und Ausgebeuteten. Bis in die Bildungspolitik hinein, wo man dann denen, die keinen Platz an westlichen Eliteuniversitäten bekommen haben, nur zu gern vorwirft, sie hätten sich nicht genug angestrengt.

Elitäre Verachtung und die Würde der Arbeit

Wobei Piketty und Sandel auch mit dem damit verbundenen Märchen aufräumen, dass Nicht-Akademiker doof und ungebildet sind. Das sind sie nämlich nicht. Im Gegenteil: Ohne sie würde der ganze Laden überhaupt nicht laufen. Sie stehen am Fließband, halten das Gesundheitswesen am Laufen, genauso wie die Logistik. Sie flicken die Dächer und reparieren die Heizung.

Sie bauen die Straßen, Brücken und Kraftwerke. Aber Piketty und Sandel haben recht: Das ganze Gerede der Politik, wenn es um „höhere Bildung“ geht, trieft vor Beleidigung all derer, die keinen akademischen Grad haben.

Michael Sandel sagt an einer Stelle: „Eine der mächtigsten Quellen der Gegenreaktion auf die Eliten – wir haben es im Votum für Trump und ähnliche Figuren in Europa erlebt – ist das Gefühl vieler Arbeiter und anderer Bürger ohne höheren Bildungsabschluss, dass die Eliten auf sie herabsehen und ihre Arbeit nicht würdigen.“

Und so kommen sie im Lauf des Gesprächs auch auf ein ganz zentrales Thema zu sprechen, das viele linke Parteien sträflichst vernachlässigt haben: die Würde der Arbeit. Und die Würde der Menschen überhaupt.

Denn dass die rechtspopulistischen Parteien (Piketty würde den Begriff Populismus freilich am liebsten vermeiden) bei vielen Wählern so eine Resonanz finden, hat mit dem Gefühl vieler Menschen zu tun, dass sie (von der Politik) nicht mehr respektiert werden. Sie werden mit Peanuts abgespeist, während all die Sorgen, die sie haben, überhaupt nicht verstanden werden und dafür auch keine relevanten Lösungen geboten werden.

Das Versagen der Linken bei der Steuerprogression

Und wo die Lösung gelegen hätte, da haben die eher sozialdemokratischen Parteien auf ganzer Linie versagt, wie Thomas Piketty feststellt. Denn ob ein Staat Gerechtigkeit und Wohlstand schafft, das hängt direkt mit seiner Steuerpolitik zusammen.

Und wer in die aktuellen Wahlprogramme schaut, der sieht, dass die meisten – und vor allem die rechten – Parteien das faule Spiel gerade noch weitertreiben und den Reichen noch mehr Steuern ersparen wollen. Und das in einer Zeit, in der dem Staat hinten und vorne schon das Geld fehlt und den Kommunen das Wasser bis zum Hals steht.

Thomas Piketty bringt die Fehlsteuerung so auf den Punkt: „Die intellektuelle Rechte kämpft erbittert für die Abschaffung der Steuerprogression, aber die intellektuelle Linke hatte keine große Lust, sie zu verteidigen. Für mich erklärt das zum Teil, weshalb die Konservativen den Kampf gewonnen haben.“

Auch mit dem Ergebnis, dass die westlichen Staaten allesamt in einer veritablen Finanzierungsklemme stecken und konservative Politiker mit Trauermiene behaupten, man könne sich all die Wohltaten für die sozial Schwächeren nicht mehr leisten. Logisch, dass das bei den Leuten in der unteren Hälfte der Gesellschaft die blanke Angst erzeugt. Denn das bedeutet für sie neue Einschnitte, neue unlösbare Probleme i ihrem Leben. Sie werden wie einfache Verfügungsmasse für eine Wirtschaft behandelt, die ein Recht auf billigste Arbeitskräfte zu haben glaubt.

Ein wehrlos gemachter Staat

Und die Heuchler an den Parteispitzen tun dann immer so, als wüssten sie gar nicht, wo der gesellschaftliche Reichtum eigentlich hinverschwunden ist. Und stimmen dann auch gleich noch ein großes Geheul um den Niedergang der Wirtschaft an, obwohl sie gerade den wichtigsten Investor zahn- und handlungsunfähig gemacht haben: den Staat.

Denn anders als die Lobhudler des Neoliberalismus behaupten, schmeißt der Staat das Geld nicht zum Fenster raus und dann ist es weg. Jeder Euro, den der Staat ausgibt – ob für Renten, Gehälter oder Investitionen – fließt wieder in den Wirtschaftskreislauf, schafft damit Arbeitplätze und Bruttoinlandsprodukt. Nur so am Rande. Wer Piketty gelesen hat, weiß das.

Und der Blick in die Geschichte der USA zeigt, dass der Wohlstand und die Leistungsfähigkeit der amerikanischen Wirtschaft gerade in der Zeit am stärksten wuchsen, als der Spitzensteuersatz dort bei 80 Prozent lag. Und im Lauf des Gesprächs kommen die beiden Ökonomen natürlich zu dem Schluss, dass Regierungen auch in den heutigen Zeiten der enthemmten „Globalisierung“ nicht wirklich machtlos gegenüber stehen, was das Steuern mit Steuern betrifft.

Aber statt über gerechtere Steuern und eine faire Lastenverteilung zu sprechen, debattiert fast der ganze politische Klub über Migration und Abschottung. Und besorgt damit das Geschäft der Rechtsextremen. Und das der Superreichen, die sich gar nicht mehr einkriegen über den Riesenbonus, den sie Jahr für Jahr kassieren, weil die Politik nach ihrer Pfeife tanzt.

Thomas Piketty wird in Bezug auf die Migrationsdebatte (die von rechten Parteien und Thinktanks in den USA und Frankreich genauso angeheizt wird wie in Deutschland) sehr deutlich: „Wenn man das der Öffentlichkeit jahrzehntelang erzählt, wenn man behauptet, das sei das Einzige, was man beeinflussen könne, dann muss man sich nicht wundern, wenn die gesamte politische Diskussion um Grenzkontrollen und Identität kreist. Ich halte das für eine Falle, für etwas, was wir um jeden Preis vermeiden sollten, weil es am Ende zum Sieg der nationalistischen Seite führen wird.“

Warum es um Würde und Anerkennung geht

Und natürlich überlegen die beiden, wie man aus der „Globalisierungs“-Sackgasse wieder herauskommt. Drei Aspekte diskutieren sie in ihrem Gespräch. Michael Sandel bringt sie so auf den Punkt: „Einer ist ökonomischer Natur und betrifft die Verteilung von Einkommen und Vermögen. Ein zweiter ist politischer Natur, da geht es um Mitsprache, Macht und Partizipation. Dann gibt es diese dritte Kategorie, bei der es um ‚Würde‘, ‚Status‘, ‚Respekt‘, ‚Anerkennung‘, ‚Ehre‘ und ‚Wertschätzung‘ geht. Meine Vermutung ist, dass diese dritte Dimension politisch und vielleicht auch moralisch die größte Kraft ist.“

Piketty sieht durchaus Chancen, dass linke Parteien, die solche Werte in den Mittelpunkt stellen, tatsächlich wieder Respekt beim Wähler erlangen könnten. Und Sandel deutet an, dass das Märchen von der Meritokratie, dass einige Leute also „verdient“ hätten, mit Millionengehältern und fetten Boni versorgt zu werden, einer der Hauptgründe dafür ist, dass die Gesellschaft auseinanderfliegt und Menschen, die ihr Leben lang den Buckel hinhalten, berechtigt das Gefühl haben, verachtet und beleidigt zu werden.

Ihre ganze Lebensleistung wird vor aller Augen entwertet und gleichzeitig müssen sie auch noch die Verächtlichmachung durch arrogante Politiker ertragen. Dabei sehen sie im täglichen Leben, dass nichts von Meriten der Top-Verdiener „verdient“ ist, aber in ihrem Leben tatsächlich immer mehr nicht mehr funktioniert.

Und dass das direkt mit dem Einfluss auf die Politik zu tun hat, bringt Thomas Piketty auf den Punkt, wenn er sagt: „Die einen haben große Macht und die anderen verlieren die Kontrolle. Bei Wohlstand und Eigentum geht es also nicht bloß um Geld. Es geht um Verhandlungsmacht gegenüber anderen und um Kontrolle über das eigene Leben.“

Und so wird eben auch deutlich, worum es in den „Kämpfen der Zukunft“ gehen muss: um so simple Dinge, wie sie schon 1789 auf den Fahnen der Französischen Revolution standen – um Gleichheit und Gerechtigkeit. Und – wie Sandel betont – um Würde und Anerkennung.

Wenn man das weiß, sieht man mit anderen Augen auf den Erfolg der Rechtspopulisten. Und auf die tiefe Enttäuschung vieler Wähler, was ihnen die vergangenen Wahlen tatsächlich gebracht haben.

Thomas Piketty, Michael J. Sande „Die Kämpfe der Zukunft“ C. H. Beck, München 2025, 20 Euro.

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