Ja, wo bleiben wir? Wo sind wir überhaupt? Oder: Sind wir überhaupt? Können wir das Gefühl überhaupt noch wahrnehmen, dass wir irgendwo sind? Und nicht im Kopf schon wieder woanders. Also eigentlich nicht da. Ein Gefühl, das am besten wohl die Dichterinnen zu beschreiben vermögen. Zu umkreisen, wie Lydia Daher es in diesem Gedichtband tut. In Erinnerung auch an eine besonders verstörende Zeit.
Die wir alle erlebt haben. Und die – wer es konnte – dazu nutzte, aufs Dorf zu fliehen. Weg aus der engen Großstadt, „weit genug entfernt von / Virusfallnestern / und Rückkehrerflügen …“ Manch einer holte da ja Boccaccios „Dekamerone“ aus dem Regal und tauchte ein in die Welt längst vergangener Seuchen. So fern, dass die Bewohner der Gegenwart damit gar nichts mehr anfangen konnten. Und sich sträubten, aufbliesen, protestierten. Vergessen macht dumm.
Aber was passierte da eigentlich, wenn sich Menschen tatsächlich aufmachten in die scheinbar heile Welt abseits der lauten und gefährlichen Städte? Entdeckten sie ein neues Sein? Kann sein. Es schwingt mit, wenn Lydia Daher das Erlebte in Verse transformiert. Oder einfach weiter singt. Denn so dichtet sie – an einem großen Webteppich, in dem sich alles Erlebte und Geschaute sofort in Gedanken, Bilder und Anklänge verwandelt. Das Be-Denken der Welt, das wir alle im Kopf tragen. Ganz da sind wir dadurch tatsächlich nie.
Abseits
Eher da-bei, Zuschauende, Rätselnde, Be-Denkende. Neuzeitbewohner, die selbst im Abseits noch über Beziehungen und Bezüge nachdenken, „und immer riechts nach feuchtem Gras und jeden Tag / zur gleichen Zeit gleitet das lange Tuuuut des Zugs / am Supermarkt vorbei und durch die Felder, rein ins Dorf …“
Natürlich eine Auszeit mit Kind. Das Kind meldet sich – klug und weise wie alle Kinder – natürlich zu Wort: „Warte, Mama, gleich / wird was schön …“
Eine Weisheit, nach der man sich als erwachsener Mensch nur noch sehnen kann. Denn diese selbstverständliche Nähe zum Sein ist weg. Weggelernt, wegrationalisiert, weggedacht. Wir können nicht mehr anders. Immer ist das unser Grübelndes Ander-Ich, das keinen Moment so lassen kann, wie er ist: „Wer bin ich / auf die windschiefe Wildkirsche schwörend / die morsch, doch zart / helles Grün austreibt? / Werde ich eines Tages zurückblicken / auf die ‚schwere Zeit‘, in der ich an die Blüte glaubte?“
Man versteht sie nur zu gut. Und dabei schaut sie ja mit den Augen der Dichterin auf das, was ihr geschieht. Aber so unvermittelt ganz im Augenblick wie die Kinder, das sind wir nicht mehr. Nicht mal in unseren poetischsten Momenten.
Zurück in der Stadt
Wobei man die klugen Ein-Sprüche des Kindes vermisst. Später, wenn im Kapitel „mit der kälte zu gehen“ die Stadt wieder zur Welt wird. In der selbst das Unmittelbare, was im Sommer auf dem Dorf noch spürbar war, manchmal fast greifbar, wieder verloren ist. Sich auflöst in Unrat, Unrast, Ortlosigkeit. „Die Stadt klebt uns am Körper. / Wir beten. / Mach, dass alle gut wird …“
Noch ist das Kindliche da, das kleine Vertrauen, dass das ein lebbarer Ort sein könnte. Aber längst sind alle Antennen wieder aufgespannt. Nichts ist mehr gut und selbstverständlich. „Kind, bleib weg von den Bäumen / Meide die Wege / abseits der Säumung aus Stein …“ Der Weg zurück in die hitzeglühende Stadt ist ein Bruch. Das eben gefundene Stille und Aushaltbare ist wieder ersetzt durch den Daueralarm im Kopf.
Die Orte und Momente, an denen das Lärmen im Kopf einmal nachlässt – selten und überraschend im Nachhinein. „Ich wusste nicht, wohin es ging / und so – / wie war es möglich, / dass es dennoch tröstlich schien?“
Ein Moment an der Spree. In dem die Schauende sich einfach treiben lassen konnte. Obwohl es diese Momente sind, in denen die Dichtende Ruhe finden kann. Sich selbst wieder spürt in der Stadt. „Mein Herz. Nah an den Gleisen / der Gneisenaustraße hörte man es, / wenn es still wäre.“
Abe still ist es nie in der Stadt. „Fahrlässig folgen die Häuser / den Bäumen, die Bäume den Straßen. / Das Geheimnis für sich bewahren: / Den Augen hilft man, indem man sie schließt.“
Wo ist Trost?
Auch so entsteht ein Bild vom Gewebe der Zeit, in der wir leben, in der die Dichterin lebt und lauscht und schaut. Immer auf der Suche nach dem Tröstlichen, das uns Hoffnung gibt, uns selbst wiederzufinden in einem Moment, der schon beim Da-Sein seine ganze Flüchtigkeit zeigt: „Es heißt hineinzufinden, weiter, / in Straßennetze und geliehene Zimmer, / unter dieser einen Sonne, die jede Nacht / aus Liebe zu uns / ihre Besinnung verliert.“
Das sind schon Gedichte von einer Reise. Irgendwohin in den Süden. Doch geprägt von derselben Ruhelosigkeit. „Dieses vorsichtige Warten auf / die Empfindung für das Leben / anderswo.“ Einem Anderswo, in dem sich die Dichtende zu verorten versucht. Obwohl alles nur ein Vorübergleiten ist. „Es ist kein Leuchten, aber immerhin / tröstlich. Die Straße ist tröstlich. / Der Abend ist tröstlich. / Die Kiefern sind tröstlich.“
Was nicht heißt, dass wir getröstet sind. Denn das trägt das Wort tröstlich ja nicht. Es umreißt nur die Möglichkeit, dass das möglich sein könnte: Getröstet zu sein in einer trostlosen Welt, die so ist, weil wir ganz offensichtlich alle Getriebene und Vertriebene sind. Nie richtig da, immer in Gedanken anderswo.
Und so entsteht ein Webteppich von Bildern und Gedanken, wie wir ihn alle erleben, wenn wir aufmerksam sind. Vielleicht nie wirklich ganz da, schon gar nicht so absolut und ungebrochen wie die Kinder. Oft genug verwirrt, weil wir uns beim Abgelenktsein und Müdesein erwischen und dann verblüfft feststellen, was um uns geschieht.
Da-Sein und Distanz
Wenn wir es denn wahrnehmen und nicht wieder abgelenkt sind von „rasch getippten Fast-Wahrheiten“. Mit denen wir uns zerstreuen. Tatsächlich genau so: auflösen und nicht mehr da sind. Nicht einmal so, wie wir es sein könnten, staunend, wenn auch verstört, so wie an dem Tag der Rückkehr in die Stadt: „Sollte ich den Kiez malen, / wählte ich Taupe und zwei Spritzer Blau. / Betrunkene vorm Protzbau, / Tauben gespiegelt im Wasserglas, / Kippensammler auf dem Gleis …“
Es stimmt: Unsere Welt ist voller Bilder, auch hier in der Stadt. Auch wenn es keine tröstlichen sind. Aber sie erzählen vom Da-Sein und von der Distanz dazu. Gleichzeitig. Weil die Dissonanz überall spürbar ist. „Schwäne daneben. / Nisten im Müll. Sprechen nicht mehr / vom Märchen.“
Womit die ganze Sehnsucht benannt ist, die wir mit uns herumschleppen. Nach einer Welt, in der wir nicht ständig vorsichtig auf unsere Schritte achten müssten, ja nicht die Wege verlassen, aufpassen müssen. Überall sichtbare und unsichtbare Vorsicht-Tafeln. Die Stadt: ein vermintes Gelände. Und am Ende fehlt einfach dieses herrlich naseweise Kind, das sagt, was ist. Mehr nicht.
„Die Menschen sind alle Gespenster.“
Wie recht es hat.
Und wie tröstlich diese kindliche Stimme im Gewebe der Gedichte von Lydia Daher, die ihre Leserinnen und Leser hier mitnimmt auf die Suche nach etwas, das wir meistens vermissen: dem wärmenden Gefühl, jetzt tatsächlich da zu sein. An einem Ort, der das Wörtchen Wo verdient hat.
Lydia Daher „Wo wir bleiben“ Edition Azur, Berlin und Dresden 2024, 20 Euro.
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