Dass der DDR am Ende die Luft ausging, hat viele Gründe. Einer war der absolute Vertrauensverlust, den dieser Staat, seine Staatspartei und ihr Machtapparat verzeichneten. Ein Vertrauensverlust, der seit den 1970er Jahren immer mehr Bürger dazu brachte, einen Ausreiseantrag zu stellen. Mit allen Risiken, die das mit sich brachte. Denn damit verwandelten sich die Antragsteller in den Augen der „Sicherheitsorgane“ sofort in „staatsfeindliche Elemente“.
Sie verloren ihre Arbeit, mussten ihr Studium abbrechen, wurden schikaniert und überwacht. Selbst ihre Kinder bekamen das in der Schule zu spüren. Und manche zerbrachen daran – wie der Sohn von Monika Lembke – Ingo. Eigentlich hätte dieses Buch auch seine Geschichte werden können, wären in den Stasi-Akten nur mehr Hinweise zu den „Maßnahmen“ zu finden gewesen, die an seiner Schule ergriffen wurden, um ihn auszugrenzen, zu demütigen, zu „bekämpfen“, wie das im MfS-Jargon hieß. Aber diese Hinweise sind ganz offensichtlich aus den Akten, die sich Monika Lembke hat aushändigen lassen, verschwunden.
Auch wenn der Direktor der Schule, an der Ingo lernte, nachweislich Informeller Mitarbeiter war und die Staatssicherheit an den Jenaer Schulen ein regelrechtes „Sicherungssystem“ eingerichtet hatte, mit dem die Schüler überwacht, ausgehorcht und – laut den Belegen eines Extra-Ordners zu Vorfällen an den Jenaer Schulen, den Monika Lembke in die Hand bekam – auch gezielt schikaniert wurden.
Auch um die Eltern unter Druck zu setzen, damit sie ihren Ausreiseantrag zurückziehen. Während dahinter gleichzeitig das perfide System sichtbar wird, mit dem das MfS jede Abweichung vom sozialistischen angepassten Staatsbürger registrierte und auszumerzen versuchte. Die Akten erzählen bis heute davon. Von gebrochene Karrieren, zerstörten Lebenswegen und der massiven Einmischung der „Sicherheitsorgane“ in die Leben der Menschen, die man auf amtlichem Wege zu Staatsfeinden erklärt hatte.
Die Bürokratie der Überwachung
Und Jena spielte dabei auch im DDR-Maßstab Anfang der 1980er Jahre eine besondere Rolle. Schon in den 1970er Jahren war die Stasi gegen den von Lutz Rathenow gegründeten Arbeitskreis Literatur und Lyrik massiv vorgegangen. 1975 hatte man den heute als Schriftsteller bekannten Jürgen Fuchs an der Friedrich-Schiller-Universität exmatrikuliert und ihn 1976 „wegen staatsfeindlicher Hetze“ verhaftet. Noch in den 1980er Jahren galt er für die Jenaer MfS-Dienstelle als Rädelsführer hinter allen Protestbewegungen, die in der Stadt entstanden.
Anders konnten die Sicherheitsbürokraten nicht denken. Menschliches war ihnen zutiefst fremd. Die Nöte der Menschen, die sich in Friedenskreisen engagierten und ihre Sorgen artikulierten, waren ihnen völlig egal. Jedenfalls wenn man ihre von stereotypen Worthülsen strotzenden Protokolle liest, von denen Monika Lembke einige auch dem Buch beigegeben hat.
Sie erzählt nicht nur vom Tod ihres Sohnes, sondern auch von der Entstehung des Weißen Kreises in Jena, der so hieß, weil sich Ausreisewillige dort auf dem Platz der Kosmonauten am Samstagmorgen in weißen T-Shirts versammelten und einen Kreis bildeten, mit dem sie stumm an ihren Wunsch erinnerten, die DDR verlassen zu können. Eine damals neue Protestform, mit der die Jenaer Stasi nicht umgehen konnte – so wenig wie in Leipzig mit den stillen Kerzenprotesten. Denn dass Menschen friedlich für ihr Anliegen protestieren könnten, das kam im Kosmos der Überwacher nicht vor.
Der Weiße Kreis zeigt Wirkung
Und so dauerte es auch mehrere Wochen, in denen man die Ausreisewilligen gewähren ließ, bevor man anfing, neue Methoden zu entwickeln, um diesen Protest ebenfalls zu unterlaufen. Was schwieriger war als etwa bei den Kirchengruppen – denn unter den Ausreisewilligen hatte man keine IM. Also versuchte man wieder „Rädelsführer“ zu identifizieren und sie mit der Zusage, dass sie das Land alsbald verlassen könnten, vom Mitmachen an diesem stillen Protest abzuhalten. Das Ergebnis aber war ein anderes, denn mit mehreren Beiträgen im westdeutsche Fernsehen und in dortigen Zeitungen wurde der Weiße Kreis auch republikweit bekannt und die Zahl der Teilnehmenden vergrößerte sich zusehends.
Bis die Stasi dann doch wieder zugriff und dutzende Teilnehmer verhaftete. Also wieder mit „altbewährten“ Methoden versuchte, den ungeliebten Protest zu beenden. Denn das zumindest hatte man begriffen: dass die öffentliche Wirksamkeit solcher Proteste auch Andere ermutigte. Was der Staat damit auszuhebeln versuchte, dass er gleich dutzenden Ausreisewilligen die Ausreise zusagte – und gleichzeitig Schweigen und Enthaltung verordnete. Auch die Lembkes konnten so nach Jahren des Wartens ihrem Ausreisewunsch Nachdruck verleihen. Anschaulich schildert Monika Lembke die Termine bei den sichtlich überforderten Sachwaltern des Staates.
Bis die kleine Familie dann tatsächlich ausreisen durfte. Ohne dass das in Jena den Druck aus der Sache genommen hätte. Denn im Folgejahr stieg die Zahl der Ausreiseanträge dort erst recht an. Ganz offensichtlich fühlten sich gerade viele Jenaer durch das Auftreten des Weißen Kreises ermutigt und verloren ihre Angst vor dem System und seinen sinnlosen Schikanen. Die auch dazu führten, dass der eh schon in wirtschaftlichen Nöten steckenden Republik zusehends die qualifizierten Arbeitskräfte fehlten.
Ein Land in der Dauerkrise
Womit sich die Krise des Landes weiter verschärfte – forciert durch die Arbeit eines völlig verselbstständigten Überwachungsapparates, der systematisch immer neue Menschen kriminalisierte. 1989 ist das Ergebnis dieser Entwicklung, die spätestens seit der Ausbürgerung von Wolf Biermann 1976 ins Rollen gekommen war. Und gerade weil Monika Lembke in ihrem Buch die Ausreisewilligen und den Weißen Kreis ins Zentrum der Erzählung rückt, wird deutlich, dass die sich über die Jahre verschärfenden „Zersetzungsmaßnahmen“ des MfS einen ganz elementaren Anteil daran hatten, dass sich immer mehr Menschen in diesem Land nicht mehr zuhause und willkommen fühlten.
Womit eben auch die Bewegung der Ausreisewilligen Teil jenes vielfältigen Protests war, der zuletzt das Ende von SED-Herrschaft und Überwachungsstaat herbeiführte. Eigentlich eine Posse für sich, wäre sie für viele Menschen nicht so tragisch ausgegangen: Gerade der bürokratisch-verbissene Ton der Stasi-Protokolle erzählt davon, dass dieser Apparat sich längst völlig von der Realität des Landes abgekoppelt hatte und sich geradezu als kafkaeske Disziplinierungsmaschine verstand, deren Offiziere nicht einmal begriffen, dass sie selbst es waren, die dem Land die Vertrauensbasis entzogen.
Aber so ticken solche Apparate bis heute. Sie können nichts anders, als Angst und Misstrauen zu verbreiten und jeden Funken menschlicher Aufrichtigkeit zu zertreten. Und das bleibt tatsächlich in den Köpfen mancher Menschen zurück, die sich diesem Regime angepasst und untergeordnet haben. Ihnen begegnete Monika Lembke nach 1990 in Jena wieder – und war entsprechend entsetzt. Denn ganz offensichtlich verschwindet autoritäres Denken nicht einfach mit der Zeit. Jedenfalls nicht, wenn man dessen Folgen auch Jahrzehnte nach der Friedliche Revolution nicht offen diskutiert.
Des Kaisers Kleider
Um es in ihrer Erzählung deutlicher zu machen, zitiert Monika Lembke das geniale Märchen von Hans Christian Andersen „Des Kaisers neue Kleider“, wo sich selbst die Leute am Fenster einreden, der Kaiser müsste höchst prächtige Kleider anhaben, die nur die Klügsten sehen. Und um nicht für dumm gehalten zu werden, plappert man eben die Schwärmerei von des Kaisers Kleidern nach, obwohl der gekrönte Depp ja ganz offensichtlich nackt vor dem Volke paradiert.
Das funktioniert bis heute, auch dort, wo die DDR immer wieder verklärt wird, weil etliche Menschen sich dort wohlfühlten, weil niemand von ihnen eigenes Denken und selbstverantwortete Entscheidungen verlangte. Denn ein autoritärer Staat entlastet auch – er nimmt seinen Untertanen die Entscheidungen für ihr Tun und Lassen ab, bestimmt Bildungswege und Berufswahl, wer studieren darf und wer Karriere macht. Dafür verlangt er nur fortwährende Anpassung und Mitschwimmen im Schwarm. Manchen Menschen ist das genug.
Doch all jenen, die ein freies Leben leben möchten, ist das eine Qual. Auch wenn sie wissen, dass Freiheit eben auch Herausforderungen mit sich bringt. Denn dann ist man für alles, was man tut, selbst verantwortlich. Das macht Menschen, die lieber bevormundet werden, Angst. Auch das klingt an.
Aber das verleiht der DDR keinen nachträglichen Glanz. Im Gegenteil: „Ich kann die DDR nicht denken, ohne die dunkle Seite zu sehen“, schreibt Monika Lembke. „Für mich war die DDR eine einzige große Lüge.“
Und das sagt sie gut begründet, denn sie hat einige der Leute, die damals über sie und den Ausreiseantrag ihrer Familie verfügten, kennengelernt. Den Rest erzählen die Stasi-Akten, auch wenn sie gerade über das Tragischste in der Geschichte der Familie Lembke schweigen.
Monika Lembke „Wir dulden noch viel zu viel. Der Weiße Kreis – ein stiller Protest, der in die Freiheit führte“ Paramon Verlag, Zug 2024, 18 Euro.
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