Das Kleine Mythologische Alphabet aus der Edition Hamouda wächst – nach den Buchstaben G, J und S kommt nun das F heraus, das für Fabelwesen steht. Wesen, die unsere Welt bevölkern, auch wenn es sie gar nicht gibt. Aber sie gehören seit Jahrtausenden zu den Erklärmustern, mit denen Menschen versuchen, das (noch) Unerklärliche in ihrer Welt irgendwie zu deuten. Egal, ob es physikalische Phänomene am Himmel sind, Vorgänge in der Mikrowelt oder literarische Geschichten, die sich verselbständigen und auf einmal selbst zum Mythos werden.

Denn das menschliche Gehirn produziert Überschüsse beim Erkennen der Welt. Worauf gleich im ersten Beitrag Elmar Schenkel eingeht. Er bleibt zwar im mythologischen Rahmen. Aber es hat mit Psychologie zu tun und der schlichten Tatsache, dass wir gar nicht in der Lage sind, die Welt so wahrzunehmen, wie sie wirklich ist. Die Welt in unseren Köpfen ist eine Konstruktion. Im Lauf des Lebens immer wieder getestet, verfeinert, vielleicht auch korrigiert. Denn am besten kommen wir mit der Welt zurecht, wenn das Bild, das wir uns von ihr machen, möglichst nahe an die Realität herankommt.

Mit der Aufklärung kam auch der große Gedanke auf, wir könnten es tatsächlich einmal schaffen, die Welt völlig rational und wissenschaftlich zu begreifen. Aber die Gegenwart erzählt einmal wieder davon, dass eine Menge Leute dazu gar nicht in der Lage sein wollen, dass ihnen Märchen, Fakenews und die wildesten Behauptungen über die Wirklichkeit völlig genügen.

Eine Welt voller Geister

Eigentlich ein schweres Fahrwasser für Mythologen. Aber die Mitstreiter im Leipziger Arbeitskreis Mythologie wissen, wie sehr Mythen und Fabelwesen zum menschlichen Denken gehören und warum sie sogar eine wichtige Rolle spielen können bei der Erklärung von Naturvorgängen, für die es schlicht keine wirklich für unser Gehirn greifbaren Bilder gibt. Man denke nur an die Fantasie von Forschern wie Einstein, Schrödinger oder Kekulé, die Schenkel erwähnt. Weil sie bis heute wirksame Bilder gefunden haben, uns Dinge in der physikalischen Welt zu erklären, die wir normalerweise weder sehen noch anschauen können.

Aber diese überschüssigen Möglichkeiten unseres Gehirns sind eben keine Erfindung des wissenschaftlichen Zeitalters, sondern begleiten die Menschheitsgeschichte seit mindestens 4.000 Jahren, wahrscheinlich sogar seit 25.000 Jahren, seit die Menschen der Eiszeit die „Geister“ der Tiere an die Höhlenwände malten, die sie bei ihren Treibjagden getötet haben. Für sie war die Welt noch lebendig, voller Geister und Götter. Und jeder Eingriff in die lebendige Welt brauchte notwendigerweise einen Akt der Kommunikation mit den Seelen der Getöteten.

Und das blieb auch in späteren Zivilisationen so. Das Wissen der Menschen wuchs. Doch nie konnten sie die Natur im Ganzen verstehen. Stets blieb ein Rest von Unbegreiflichem, das sich dann in den Religionen der Welt manifestierte. Maria Fleischhack versucht es anhand der ägyptischen Fabelwesen zu erfassen, Constanze Timm anhand der Fabelwesen aus Mesopotamien – man denke nur an das beeindruckende Ischtar-Tor, das im Pergamonmuseum in Berlin zu besichtigen war (das seit 2023 geschlossen ist und wahrscheinlich erst in 23 Jahren wieder öffnet – was dann wieder ein Mysterium der Gegenwart ist).

Drachen und Einhörner

Dietmar Grundmann geht in seinem Beitrag auf die Fabelwesen der chinesischen Mythologie ein und Patrick McCafferty auf die mögliche Herkunft der weltweit verbreiteten Bilder von Drachen aus der Beobachtung am Himmel lodernder Meteore. Wofür er auch Belege aus mittelalterlichen Sagen und Himmelsbeobachtungen liefert. Denn natürlich wollen auch Mythologen herausbekommen, woher eigentlich die starken mythischen Gestalten eigentlich kommen und warum sie oft bis heute für Furore sorgen.

Wie das Einhorn, das möglicherweise aus einem nach Hörensagen aufgeschriebenen Bericht eines griechischen Historikers stammt, aber heute ganze Kinderzimmer in Pink füllt. Nebst etlichen Verfilmungen und Romanen, in denen es oft um so seltsame Dinge wie Jungfräulichkeit geht.

Franziska Burstyn und Leonore Sell begeben sich in ihrem Beitrag auf die Spur des Einhorns, finden es auf alten französischen Wandteppichen, in mittelalterlichen Legenden und in christlichen Interpretationen, in denen das Einhorn zur Inkarnation Jesu Christi wird. Natürlich wegen der Jungfrau Maria. Es wird also sehr komplex. Oft genug symbolisieren die Fabeltiere Dinge, die sich ihre Verehrer nur zu gern aneignen würden, wenn das hienieden so einfach wäre.

Und so tauchen die Drachen als Wappentiere in Wales auf, die Sphinx wacht über ägyptische Tempel, geflügelte Stiere bewachen den Palast Nebukadnezars. Und der Jadehase aus der chinesischen Mythologie fährt heute als chinesisches Erkundungsfahrzeug über die Mondoberfläche.

Mythen machen also auch Mut, Dinge auszuprobieren. Über den Erkenntnisstand von heute hinauszudenken und sich Dinge auszudenken, die man vielleicht einfach mal ausprobieren könnte. Sie helfen, das Noch-Unmögliche zu denken. Und gehören deshalb eben doch zum menschlichen Denken. Das oft genug verwirrend ist. Keiner weiß das so gut wie die Mathematiker.

Weshalb Elmar Schenkel auch einen der berühmtesten Mathematiker zitiert, der durch zwei Bücher weltberühmt wurde: Lewis Carroll. In den Geschichten von „Alice im Wunderland“ und „Alice im Spiegelland“ zeigt er vor allem, wie sich „Wissenschaft, Sprache und Fabelwesen“ verbinden, wie aus den herrlichen Spielereien mit Sprache auf einmal neue Fabelwesen entstehen – wie die Grinsekatze (die sehr viel mit Schrödingers Katze zu tun hat), der Märzhase oder Humpty Dumpty.

Bilder der Wirklichkeit

Womit man auch gleich noch in der Kinderwelt landet, in der diese Figuren ja erst recht zu Hause sind. Und damit in der Welt kindlicher Fantasie, die sich manche Erwachsene bewahrt haben. Kinder können sich noch alles Mögliche und Unmögliche vorstellen. Und haben ihren Spaß dabei. Während viele Erwachsene dazu neigen, alles mit bitterem Ernst zu behandeln und die Mythen, an die sie glauben, tatsächlich für die reale Welt zu halten. Und richtig sauer reagieren, wenn man sie darin verunsichert. Denn sie halten auch aus einer gewissen Angst in ihrem schiefen Bild von der Wirklichkeit fest.

Denn auch nur die Ahnung, es könnte doch anders sein, verunsichert. Wissenschaftler – man denke nur an Heisenberg und die Unschärferelation – können damit umgehen. Sie wissen, dass eine scheinbar gut begründete Erkenntnis korrigiert werden muss, wenn man zu neuen Erkenntnissen kommt oder Experimente eine These nicht bestätigen. Sie wissen, dass unsere Vorstellungen von der Welt stets vorläufig sind.

Alte Mythen sind – so betrachtet – auch alte Vorstellungen von der Welt. So wie sich Menschen die Erscheinungen in unserem Kosmos vor Jahrtausenden erklärten. Mit starken Bildern und Geschichten, so stark, dass die Bilder uns noch heute faszinieren. Und Historikern, Ethnologinnen und Literaturwissenschaftlern bis heute jede Menge Anregung geben, sich mit Herkunft und Funktion von Mythen in der menschlichen Geschichte zu beschäftigen. Das Buch gibt einen kleinen Eindruck davon.

Constanze Timm, Elmar Schenkel (Hrsg.) „Fabelwesen“ Edition Hamouda, Leipzig 2025, 13 Euro.

Empfohlen auf LZ

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar