In zartem Gelbton veröffentlicht Mark Lehmstedt seit kurzer Zeit eine Reihe, die er bewusst „Buchgeschichte(n)“ genannt hat. Darin präsentiert er Arbeiten zu Kapiteln der (Leipziger) Buchgeschichte, die auch in der Forschung bisher selten berücksichtigt werden. Oder völlig unterm Radar laufen wie die Geschichte des Gebrauchtbuchhandels. Dabei sind Bücher nun einmal Produkte, die man nicht einfach entsorgt nach einmaligem Lesen. Aber wie fing das eigentlich an?
Denn wenn sich Forscher mit der Geschichte von Buch und Verlagswesen beschäftigen, haben sie ihren Fokus bislang vor allem auf Verlegern und Verkäufern. Es geht ums neue Buch, um Messen und Werbung. Auch in Leipzig fokussiert sich die Erinnerung fast ausschließlich auf die berühmten Verleger und Drucker – und damit auf das neue Buch.
Doch Bücher „vergehen“ nicht. Jedenfalls nicht von allein. In Bibliotheken können sie Jahrhunderte überdauern – zumindest, wenn sie nicht auf vergänglichen Papieren gedruckt sind. Aber das waren sie ja in der Frühzeit des Buchdrucks nicht. Und so entstand schon frühzeitig ein Phänomen, das mit dem ersten Buchmarkt eher nichts zu tun hatte: Bücher kamen ein zweites Mal auf den Markt, wechselten ihre Besitzer, erlebten ein zweites, drittes, viertes Leben.
Was dann im späten 18. Jahrhundert zu einem völlig neuen Beruf wurde: dem Buchhändler, der nur noch mit gebrauchten Büchern handelte. Wofür es dann freilich erst ab 1860 die Bezeichnung Antiquar gab.
Auktionskataloge und Zeitungsanzeigen
Was ein weiterer Grund dafür ist, warum der Erwerbszweig der Gebrauchtbuchhändler bislang in der Forschung kaum sichtbar war. Die schlechte Quellenlage kommt hinzu. Denn während Verleger mit Name und Druckort in ihren Büchern und Katalogen bis heute präsent sind, muss man nach den Händlern, die sich auf den Verkauf gebrauchter Bücher spezialisierten, suchen. So systematisch, wie es Mark Lehmstedt in diesen zwei Bänden für Leipzig getan hat.
Wobei der zweite Band vor allem die Bibliografie seiner Hauptquellen beinhaltet: die auffindbaren bzw. benennbaren Leipziger Auktionskataloge von 1670 bis 1800.
Auch das bislang ein vernachlässigtes Quellenmaterial, denn Buchauktionen gehörten bislang ebenso wenig zu den zentralen Forschungsfeldern der Buchwissenschaft. Obwohl sich jeder Kundige, der sich mit Büchern und Bibliotheken beschäftigt, irgendwann fragt: Ja, wo bleiben die Bücher dann, wenn ihr Besitzer stirbt? Manche wurden vererbt.
Etliche wurden makuliert, wie das so schön heißt, also einer anderen Verwertung zugeführt. Denn Papier ist ja praktisch: Man kann daraus neue Bucheinbände bauen, kann es hinter Tapeten kleben oder aufs stille Örtchen mitnehmen. Aber man kann es auch wieder in die Papierherstellung zurückführen und neues Papier für Bücher draus machen.
Alles Schicksale, die ganz bestimmt Millionen Büchern auch in der Epoche zustießen, auf die sich Mark Lehmstedt konzentriert, den freilich eher interessierte, wie gebrauchte Bücher wieder in den Buchmarkt zurückfanden. Und wann das begann. Und mit wem. Am Ende kann er gleich dutzende Männer namhaft machen, die in Leipzig damals als Gebrauchtbuchhändler tätig waren – manche auf kargem Niveau als Büchertrödler, manche so erfolgreich, dass sie ein Begräbnis mit dem kompletten Thomanerchor bekamen.
Mit wenig Geld zur eigenen Bibliothek
Und genauso zeichnet sich dabei ein völlig neues Bild der Buchstadt Leipzig, in der nicht nur die neuesten Buchproduktionen aus ganz Deutschland Messe für Messe gehandelt wurden, sondern auch – parallel dazu – hunderttausende Bücher auf Auktionen versteigert wurden und so den Weg zu neuen Eigentümern fanden.
Weshalb auch das Leipziger Auktionswesen aus dem Dunkel der Geschichte tritt – mit den beiden jeweils von Universität und Stadt beauftragten Proklamatoren, die dafür zuständig waren, die zur Auktion vorgesehenen Bibliotheken an den Mann zu bringen. Natürlich stand gerade im Umfeld der Universität Leipzig schon früh die Frage, was mit den meist aufwendig beschafften Bibliotheken der Professoren passieren sollte, erst recht, wenn sich kein Erbe fand oder die Erben die Bibliothek in Geld verwandeln mussten.
Und zum Ende des 17. Jahrhunderts hatten sich in den Bibliotheken schon gewaltige Buchbestände angesammelt. Die – anders als das heute der Fall wäre – auch nicht veraltet waren. Und Auktionen galten schon früh als eine ideale Gelegenheit für interssierte Käufer, sich selbst eine eigene Bibliothek zuzulegen oder an Buchtiteln zu kommen, die man für wenig Geld erwerben konnte.
Und schon früh muss es auch zu diesen Auktionen gedruckte Kataloge gegeben haben, in denen sich Interessierte über die angebotenen Titel informieren konnten. Auch wenn solche Kataloge nur in wenigen Fällen tatsächlich in Archiven und Bibliotheken überdauerten.
Aber wo sie überdauerten, erzählen sie von dem, was damals in gelehrten Kreisen gelesen wurde, über große Gelehrtenbibliotheken und natürlich die Auktionen selbst, die oft mehrere Tage und Wochen dauerten. Und wieder erweisen sich auch amtliche Streitsachen als überraschende Quellen, weil sie von den Streitigkeiten damals erzählen, die es um die Arbeit der Proklamatoren gab, die Konflikte mit den Sortimentern und den schwierigen Grenzziehungen zwischen dem klassischen Buchhandel und dem neuen, unregulierten Gewerbe der Gebrauchtbuchhändler.
In den Gewölben der Gebrauchtbuchhändler
Auch darüber erzählt Mark Lehmstedt, der eigentlich anfangs gar nicht plante, aus dem Thema ein Buch zu machen. Doch die Reise zu einer Tagung in Wien machte ihm deutlich, dass er da ein Thema aufgetan hatte, das in dieser Weise bislang noch niemand aufgearbeitet hatte. Obwohl es die Entwicklung in anderen Universitätsstädten auch gegeben hat.
Nur hat Mark Lehmstedt mit den Auktionskatalogen und den zahlreichen Anzeigen in den Leipziger Zeitungen, die die Auktionen ankündigten, ein Material aufgetan, das ihm einen Einblick in ein ganzes Gewerbe gab, das bislang schlichtweg ausgeblendet war. Nicht wahrgenommen, nicht ernstgenommen.
Obwohl genau dieses Material zeigt, dass der Handel mit gebrauchten Büchern im 18. Jahrhundert ganz ähnliche Dimensionen annahm wie der mit neuen Titeln. Auch die Orte der jeweiligen Versteigerungen lassen sich so ausmachen. Und welche Dimensionen diese Auktionen annehmen konnten, schildert Lehmstedt am Beispiel einiger ausgewählter Großauktionen.
Und viele der so versteigerten Bücher landeten dann als Paket wieder im Buchladen, wurden von jenen Männer ersteigert, die sich dem Handel mit gebrauchten Büchen verschrieben hatten. Und da tut sich erst recht eine Welt auf, denn selbst Mark Lehmstedt staunt über die Zahl der großen und kleinen Antiquariate, die im Lauf des 18. Jahrhunderts in Leipzig entstanden.
Adressbücher und Bestandskataloge geben Auskunft. Und Stück für Stück zeichnet sich das Bild einer Stadt, in der man damals praktisch jedes Buch, das auf dem Markt war, finden konnte – die neuesten Produktionen, die die Verleger mit zur Messe brachten. Aber auch fast alles, was in den 100 Jahren davor gedruckt wurde und sich jetzt in den Magazinen der Gebrauchtbuchhändler und Trödler fand.
Kleine und große Gebrauchtbuchhändler
Manche diese Händler mit gebrauchten Büchern lebten am Rand des Existenzminimums, andere wurden reich damit. Und die Leser der Zeit freute es natürlich, dass es alle diese Verkaufsgewölbe gab, denn so kamen sie auch an längst vergriffene Buchtitel, konnten speziellen Sammelleidenschaften frönen oder sich Bibliotheken zusammenkaufen, die sie sich mit neuen Büchern nie hätten leisten können.
Denn natürlich ging es ihnen wie heutigen Lesern auch: Ist man erst einmal neugierig auf bestimmte Exemplare und Autoren, dann sucht man sich Möglichkeiten, auch vergriffene Titel in die Hand zu bekommen. Denn während manche Leute nur auf teure Einbände und luxuriöse Bebilderung schauen, geht es dem eigentlichen Leser um den Inhalt. Was so manchen Lesefreund auch schon mal in die Überschuldung treiben konnte, wenn er sich bei Bestellungen aus Auktions- und Bestandskatalogen nicht zurückhalten konnte. Auch diese Gestalten kommen im Buch zu Wort.
Am Ende streift Mark Lehmstedt auch noch den Beginn des modernen Antiquariats, also jenes Teils der preisgesenkten Buchverkäufe, in dem praktisch neuwertige Ware zum Verkauf angeboten wurde, die in der Regel aus Verlagen stammte, die ihre Überproduktion loswerden und das Lager räumen wollten oder die wegen des Todes des Verlegers aufgelöst wurden.
Und so sieht man regelrecht zu, wie sich im späten 17. und im 18. Jahrhundert nach und nach jene Bücherwelt entwickelte, die Leipzig bis ins frühe 20. Jahrhundert auch zur Hauptstadt des antiquarischen Buches machte. Sehr zur Freude der Leser, die im Gewölbe des Antiquars auf Raritäten stoßen konnten, die sie im etablierten Buchhandel nicht finden konnten.
Ein Herz für die Buchdealer
Und so zeichnet Lehmstedt hier erstmals für eine deutsche Stadt die Entstehung eines ganzen Gewerbes mit seinen teilweise markanten Protagonisten, von denen einige sehr gut verstanden, wie man mit den preiswerteren Büchern ein gutes Geschäft machen konnte. Wobei Mark Lehmstedt ebenfalls betont, dass sich die Buchforschung bislang sowieso wenig und selten mit der Geschichte des Buchhandels beschäftigt hat. Obwohl alle wissen, dass es ohne Buchhändler keinen Buchmarkt und auch keine Buchstadt gibt.
Leute, die eben mehr waren als nur spezialisierte Kaufleute. Denn sie mussten ihre Bestände kennen, mussten einschätzen können, was gut verkäuflich war und was nicht. Und auch, wie man die Lesehungrigen neugierig machen konnte, auch wenn die Vorstellungen vom Wert und der Rarität eines Buches sich damals deutlich von dem unterschieden, wie wir heute den (Sammel-)Wert eines Buches einschätzen.
Alles in allem ist das ein opulenter und vor allem sehr anschaulicher Besuch in der Buchstadt Leipzig in jener Zeit, als der antiquarische Buchhandel parallel mit der Aufklärung Gestalt gewann. Und natürlich gehört beides zusammen. Die Aufklärung ist ohne das Buch und ohne opulente Gelehrtenbibliotheken nicht denkbar. Aber auch nicht ohne die armen Studenten, die damals die Gewölbe der Händler durchstreiften, um für ihr kleines Barvermögen jene Bücher zu erwerben, die sie fürs Studium brauchten.
Aber an vielen Stellen verweist Lehmstedt natürlich auch darauf, dass noch eine Menge Forschungsbedarf nötig wäre, um das hier schon sehr plastisch skizzierte Forschungsfeld zu ergänzen und Lücken zu füllen. Wozu man, wie er zitiert, sich „die Hände in den Archiven und Bibliotheken schmutzig“ machen muss.
Aber schon dieser erste Besuch in der Frühzeit der Antiquariate ist eine Fleißarbeit. Und dürfte für viele Leser eine echte Überraschung sein, weil es eine solche Übersicht über diesen Teil der Bücherwelt bislang noch nicht gab.
Mark Lehmstedt „Der zweite Buchmarkt“ (zwei Bände), Lehmstedt Verlag, Leipzig 2025, 98 Euro.
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