Letztlich geht es in Jakob Springfelds neuem Buch nicht nur um den Westen, auch wenn es โ mit Absicht โ provokant so im Titel steht und auch in mehreren Kapiteln so thematisiert wird. Denn dass die AfD im Osten derart erstarkt ist und die Landtagswahlen in Thรผringen, Sachsen und Brandenburg aufgemischt hat, ist nun einmal kein allein dem Osten zuzuschreibendes Problem. Lรคngst sitzt sie auch in westdeutschen Parlamenten und im Bundestag. Wer das Problem allein dem Osten zuschreibt, verharmlost es. Und hat nicht verstanden, wie systematisch die Rechtsextremen die Demokratie angreifen.
Aber der Osten spielt dennoch eine Rolle. Denn den habe Rechtsradikale aus Westdeutschland schon frรผhzeitig zu ihrem Experimentierfeld fรผr die Schaffung von ihnen dominierter Regionen gemacht. Jakob Springfeld ist zwar noch jung, hat seine ersten politischen Erfahrungen quasi mit Fridays for Future gesammelt.
Aber er hat sich auch mit der Geschichte seiner Heimatstadt Zwickau beschรคftigt, anders als so viele Jรผngere und รltere, die in der sรคchsischen Politik mitmischen und noch immer so tun, als wรคre das Aufkommen einer rechtsextremen Partei ein ganz selbstverstรคndliches Ereignis. Irgendwie ein Naturereignis, mit dem man jetzt irgendwie gutbรผrgerlich umgehen muss.
Wenn staatliche Instanzen versagen
Aber wer die sรคchsische Geschichte der vergangenen 35 Jahre kennt, der weiร, dass gerade die regierende CDU stets ein Problem damit hatte, das Aufkommen der Rechtsradikalen im Land wahrzunehmen oder gar Strategien dagegen zu entwickeln. Nicht einmal dann, als die rechtsextremen Mรคnnerbรผnde immer aggressiver auftraten und daran gingen, mit Einschรผchterung und Gewalt No-Go-Areas fรผr Andersdenkende zu schaffen โ vor allem in den kleinen Gemeinden und Stรคdten im Land, wo die demokratische Gesellschaft aus mehreren Grรผnden schon geschwรคcht war.
Der eine ist die Transformation der 1990er Jahre, in der auch hunderttausende Sachsen ihre Arbeitsstelle verloren und in ebensolcher Zahl den Freistaat Richtung Westen verlieรen. Zurรผck blieben dabei vor allem die Alten. Die Geburtenraten brachen ein, Kinder wurden zur Seltenheit.
Und die Abwanderung gerade der jungen Leute aus den sรคchsischen Provinzen dauert bis heute an. Spรคtestens wenn sie Ausgrenzung, Schikane und Diskriminierung erfahren, packen sie ihre Sachen und ziehen entweder in den Westen oder in die Groรstรคdte des Ostens, wo das Klima auf den Straรen bis heute ein anderes ist, friedlicher, toleranter, weltoffen.
Auch Springfeld machte diese Erfahrung, auch wenn er sich eigentlich lieber weiter in Zwickau engagiert hรคtte. Er lebt heute in Halle und Leipzig, kehrt aber regelmรครig auch zu Demonstrationen nach Zwickau zurรผck, wohl wissend, dass es ohne solche gemeinsamen Aktionen gegen den aufmarschierenden Rechtsextremismus noch viel finsterer aussehen wรผrde in der Provinz.
Wo man oft genug das Gefรผhl haben kann, nicht nur die scheinbar bรผrgerlichen Rechtsextremen in Blau hรคtten die Mehrheit lรคngst รผbernommen, sondern auch ihre gewalttรคtigen Helfershelfer aus den rechtsextremen Kleinparteien und Neonazi-Netzwerken. Denn sie leben davon, dass sie ihre Mitwelt einschรผchtern.
Wenn man die Parolen der Rechtsextremen รผbernimmt
Selbst die demokratischen Parteien, die in Sachsen nach wie vor 70 Prozent der Stimmen bei Wahlen einsammeln, ziehen die Kรถpfe ein oder haben sich oft komplett aus den lรคndlichen Rรคumen zurรผckgezogen. Fรผr manche Mandatstrรคger dieser Parteien gerade auf lokaler Ebene existieren auch die viel beschworenen โBrandmauernโ zur AfD nicht mehr. Man arbeitet zusammen, als wรคre es das Normalste von der Welt. Und selbst auf Bundesebene werden die Forderungen der AfD รผbernommen, als gelte es einen Wettlauf darin zu absolvieren, wer sich gerade in der Migrationspolitik noch rรผcksichtsloser austobt als die Vertreter der AfD.
Aber das stรคrkt nur eine Partei: die AfD. Denn natรผrlich forciert das selbst bei den Wรคhlern das Gefรผhl, dass die Rechtspopulisten mit ihren Ideen aus der rassistischen Mottenkiste Recht haben kรถnnten, dass alle Probleme โ die ja die Ostdeutschen tatsรคchlich haben โ ganz allein auf die Migranten zurรผckzufรผhren sind. Dass alles gleich besser wird, wenn man die zugewanderten Menschen einfach rigoros abschiebt.
Aber das war schon immer eine Lรผge. Und Springfeld weiร genug, wie gerade diese Sรผndenbock-Politik dazu dient, von den wirklich zu lรถsenden Problemen abzulenken. Und von den wirklich Schuldigen an einem gefรผhlten wirtschaftlichen Stillstand im Land und der zunehmenden Angst auch vieler Ostdeutscher vor dem neuerlichen wirtschaftlichen Abstieg. Eine Angst, die missbrauchbar ist.
โIch mรถchte die demokratischen Parteien nicht mit der AfD gleichsetzenโ, schreibt Springfeld, โdennoch halte ich es fรผr unzulรคssig und grundfalsch, wenn sich Ampel und CDU veranlasst sehen, AfD-Politik zu betreiben und dabei allem Anschein nach nicht verstehen, dass sie die extrem Rechten damit noch weiter stรคrken.โ
Wenn Demokraten schutzlos gemacht werden
Aber durch intensive Beobachtung vor Ort weiร er auch, wie es den AfDlern gelingt, einen Keil in das demokratische Parteienspektrum zu treiben. Denn das tun sie, indem sie all jene, die (noch) den Mut haben, AfD-Politik zu kritisieren, als Linksextremisten diffamieren, ihnen genau jene Gewalttรคtigkeit zuschreiben, die in den Reden von AfD-Politikern und den Aktionen ihrer gewaltbereiten Verbรผndeten lรคngst normal sind. Oder mit Springfelds Worten: โWenn Menschen, die berechtigterweise extrem rechte Demokratiegefahren beim Namen nennen, von AfDlern, aber eben auch von Elternvertreter:innen oder konservativen Politiker:innen zu Linksradikalen, Nestbeschmutzer:innen oder gar Tรคter:innen verunglimpft werden, dann hat die Demokratie ein Problem.โ
Hier geht er zwar auf einen Vorfall in Brandenburg ein. Aber das Prinzip ist immer wieder dasselbe: Auf Kritik an inakzeptablem Zustรคnden (in diesem Fall an einer Schule) reagiert das rechtsextreme Klientel mit verbalen Angriffen, Drohungen und Verleumdung. Immer mit dem Ziel, auch die eigentlich Verantwortlichen einzuschรผchtern und die Kritiker ihres Tuns zu vereinzeln und damit wehrlos zu machen.
Und aus gutem Grund analysiert Springfeld auch, wie gerade die demokratischen Institutionen, die die Demokratie eigentlich verteidigen sollten, im Umgang mit dem Rechtsextremismus schon seit Jahrzehnten immer wieder versagen. Da kann er dann an den bis heute intransparenten Umgang mit dem in Zwickau untergetauchten โNSUโ erinnern. Aber auch an hunderte Fรคlle, in denen sich gewalttรคtige Rechtsradikale in Sachsen unbehelligt von der Polizei austoben konnten.
An rechtsextreme Vorfรคlle bei Polizei und Bundeswehr. An Richter, die reihenweise gewalttรคtige Neonazis mit lรคcherlichen Schuldsprรผchen davonkommen lieรen, weil sie deren Gewaltattacken als leidliche Jugendstreiche werteten. Aber auch der sรคchsische Verfassungsschutz spielte etwa im NSU-Komplex eine mehr als undurchschaubare Rolle. Und etliche Medien gaben AfD-Spitzenpolitikern sogar noch eine Plattform, um sich dem Wahlvolk mit ihren Parolen prรคsentieren zu kรถnnen.
Das passiert so auch im Westen
Aber Springfeld weist eben auch darauf hin, dass das alles nicht nur im Osten passiert, sondern ebenso im Westen. Nur dass es dort augenscheinlich regelrecht verdrรคngt wird, einem Narrativ untergeordnet, das besagt, dass die ganze rechtsextreme Unwucht heute eigentlich nur im Osten zu verorten ist. Und die groรen deutschen Medien bestรคrken dieses Narrativ immer wieder.
Auch das eine Art Schuldabwehr. Die aber blind dafรผr macht, wie systematisch die rechtsextremen Netzwerke die deutschen Regionen okkupieren. Im Osten wurde ihnen das โ auch durch die falsche Politik konservativer Regierungen โ immer leicht gemacht. So konnten sie den Osten zu ihrem Testfeld machen und systematisch in lokale und regionale Parlamente eindringen und den Kampf um Bรผrgermeister- und Landratsposten zum Siegeszug deklarieren.
Was dann wieder die Arbeit demokratischer Initiativen erschwert, die in den so zunehmend blau gefรคrbten Regionen versuchen gegenzuhalten. Meist in der ganz persรถnlichen Gefahr, nach Demonstrationen von den gewalttรคtigen Rechtsradikalen im Ort aufgespรผrt und bedroht zu werden.
Und das alles vor dem Hintergrund einer falschen, neoliberalen Wirtschaftspolitik, die die Abstiegsรคngste โ nicht nur der Ostdeutschen โ auch noch verstรคrkt. Denn die Zustimmung zur gelebten Demokratie steigt โ nachweislich -, wenn die Bรผrger spรผren, dass die Wirtschaft stabil lรคuft und ihr hart erarbeiteter Wohlstand nicht gefรคhrdet ist. Und: Wenn der Staat investiert. Die Leipziger Autoritarismus-Studien erzรคhlen davon. Wenn aber Angst und Panik um sich greifen, sind viele Menschen nur zu bereit, einen Schuldigen zu suchen. Und nehmen nur zu gern das Deutungsangebot populistischer Parteien an, die noch Schwรคcheren wรคren schuld an allem.
Eine hochaktuelle Streitschrift
Springfelds Buch ist genau so gemeint, wie es im Titel steht. Es ist eine Warnung auch an die noch immer blauรคugigen Politiker aus dem Westen, die das Problem mit den Rechtsextremen einfach dem Osten zuschreiben und nicht mehr merken, wie das Erstarken der Rechtspopulisten mit ihrer eigenen Blindheit zu tun hat, ihrem selbstgefรคlligen Glauben, dass das so im Westen nicht passieren kรถnnte.
Obwohl es auch dort schon passiert und die Parolen der Rechtsextremen immer wieder ins bรผrgerliche Parteienspektrum sickern. Wรคhrend man wie besessen an einer gnadenlosen Sparpolitik festhรคlt, die den Bรผrgern regelrecht vor Augen fรผhrt, dass der Staat nicht mehr fรผr sie da ist.
So gesehen ist Springfelds Buch auch eine Streitschrift, mit der er den รผblichen Interpreten des Ostens den Fehdehandschuh hinwirft. Aus ganz persรถnlicher Erfahrung. Denn wer in Sachsen gegen die Gefรคhrdung der Demokratie kรคmpft, merkt schnell, dass er in den staatlichen Institutionen keine Unterstรผtzer findet. Schau hin, sagt er im Grunde: So zermรผrben sie unsere Demokratie. Vor aller Augen. Wir kรถnnen es alle sehen und alle hรถren.
Und der grรถรte Fehler ist es, die Parolen und Forderungen der Rechtsextremen zu รผbernehmen und zu verstรคrken. Es geht um eine wehrhafte Demokratie. Aber die erfordert Mut und Rรผckgrat. Und vor allem den Willen, sich zusammenzutun, um den rechtsradikalen Umtrieben die solidarische Gesellschaft entgegenzusetzen. Noch so ein Topos, der so gern vergessen wird in einer Wirtschaftspolitik, die den Einzelnen zum einsamen Kรคmpfer deklariert.
Obwohl es in einer lebendigen Demokratie immer um das Gemeinsame geht. โEs bedarf eines umfassenden, gesellschaftlichen Ansatzesโ, schreibt Springfeld, โund alles, was Zeit verschafft, die Demokratie zu verteidigen, und der AfD schadet, jedes rechtsstaatliche Mittel, sollte angewandt werden.โ
Jakob Springfeld โDer Westen hat keine Ahnung, was im Osten passiertโ Quadriga, Kรถln 2024, 18 Euro.
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