Dass diese opulente Russland-Geschichte, die vom Umbau Russlands zum autokratischen Zarenreich unter Peter I. (1672–1727) bis zu den Folgen der Revolution von 1905 reicht, etwas über die Zeit danach bis in die heutige Autokratie Putins zu erzählen hat, das wird in einem einzigen Satz auf Seite 624 auf den Punkt gebracht: „Sollte Lenin einmal an die Macht kommen, werde er die eine durch die andere Despotie ersetzen.“ So zitiert der Historiker Jörg Baberowski den einstigen Lenin-Gefährten Pawel Axelrod. Wer das heutige Russland verstehen will, sollte die Geschichte kennen.

Und diese ganz spezielle Geschichte beginnt mit dem „großen Zaren“ Peter, der sich mit Übernahme der Alleinherrschaft in Russland vornahm, das alte Bojarenreich in einer Rosskur nach europäischem Vorbild zu modernisieren. Das gilt übrigens bis heute. Selbst noch in den abschätzigsten Reden Putins hört man diese in Verachtung gedrehte Bewunderung Europas – verquirlt mit Bedauern und Trauer, dass die Europäer nicht begreifen wollen, dass Russland ein modernes Land ist und ein Recht darauf hat, seine alte imperiale Größe wiederherzustellen.

Nur dass die Modernisierung Russlands unter Peter I. von Anfang an nicht nur eine „Modernisierung von oben“ war, sondern auch eng verquickt mit einer Notlösung, die so nur im damaligen Russland möglich war. Denn Russland fehlte so ziemlich alles, was damals in anderen europäischen Staaten den Weg der Geschichte bestimmte: ein starker Adel, der die Alleinherrschaft der Großfürsten hätte infrage stellen können, ein Bürgertum, das moderne Reformen hätte tragen können, aber auch eine funktionierende Bürokratie, die das Funktionieren eines Rechtsstaates ermöglicht hätte.

Die russische Bürokratie

Die Bürokratie schuf Peter der Große, indem er den Bojaren nicht nur die Bärte abschnitt, sondern den Adelsbegriff vollkommen änderte und den Adel zum Dienen zwang, zum Dienstadel machte. Die Bauern hingegen wurden vollkommen entrechtet und als Leibeigene an die Scholle gebunden. Was die Garantie dafür war, dass Russland über 200 Jahre ein Bauernland blieb. Und die von Peter geschaffene Bürokratie bis 1917 der Träger der Macht war – der eigentliche Staat, auch dann, wenn es einmal schwächere Zaren gab, die das Format eines Peter I. oder einer Katharina I. nicht hatten.

Aus den Bauern schmiedete Peter seine Armeen. Und unter seiner Ägide begann auch das, was Russland bis heute so unberechenbar macht: die Unterwerfung aller Völker am Rande des russländischen Reiches. Baberowski hätte sein Buch auch mit „Die Geschichte des russischen Imperialismus“ betiteln können. Diese imperialen Eroberungskriege dauerten bis ins 19. Jahrhundert an. Polen, die Ukraine, die baltischen Länder, Finnland, die Völker im Kaukasus – alle wurden mit militärischer Gewalt unterworfen und dem Riesenreich einverleibt.

Aber das steht nicht im Zentrum von Baberowskis Untersuchung, die durch ihren Materialreichtum besticht. Ihm ging es um die Funktionsweise dieses Imperiums und die Frage, warum Russland es nie geschafft hat, das autoritäre Regierungssystem zu überwinden.

Ein System, das Baberowski schon früh im Buch auf den Punkt bringt, wenn er schreibt: „Die Stärke der Tyrannei ist zugleich ihre größte Schwäche. Sie ist leicht verwundbar, weil sie sich auf nichts anderes berufen kann als auf ihren Willen, sich gegen Widerstreben auch durchzusetzen. Der Zar konnte mit seinen Untertanen zwar verfahren, wie es ihm gefiel. Aber er konnte sich nicht auf vermittelnde Instanzen, auf Stände und Traditionen verlassen.“

Wenn nur Gewalt zählt

Alles ist auf den Zaren zugeschnitten. Er verteilt Pfründen, Privilegien und Ämter. Die er genauso willkürlich auch wieder entziehen kann. Alle Macht konzentrierte sich im Kreml. „Die größte Gefahr droht dem Herrscher in seiner Umgebung, in der Nähe jener, die seinen Willen an seiner Statt durchsetzen sollen“, schreibt Baberowski. Der Untertan zählte nichts.

Schon Peter erbaute seine neue Hauptstadt auf den Knochen tausender Bauern, die St. Petersburg als neuen Ort der Verwaltung aus den Sümpfen an der Newa aufsteigen ließen. Seine Schlachten gegen den schwedischen König Karl XII. führte Peter schon mit derselben Unbarmherzigkeit, wie es heutige russische Generäle in der Ukraine auch tun: Menschenleben zählten nichts. Die zu Soldaten gepressten Bauern wurden einfach verheizt.

Und an dieser aus Bauern rekrutierten Armee änderte sich auch später nichts. Im Vergleich mit den ausführlichen Kapiteln zu den Zaren des 19. Jahrhunderts erscheint der erste Teil zum Zeitalter Peters und Katharinas relativ kurz – was er nicht ist. Denn er schildert ja die Entstehung dieses für Europa einzigartigen Systems der Selbstherrschaft, die dann – trotz mehrerer Reformversuche – auch das 19. Jahrhundert überlebte und am Ende ratlos und völlig überfordert in den Krieg mit Japan und die Revolution von 1905 schlitterte, die eigentlich schon das Ende des Zarenreiches hätte sein können, aber am Ende in lauter Unruhen, Revolten, und Terror endete.

Ein ganzes Land versank praktisch ein ganzes Jahr lang in Terror, bis ein neuer Polizeiminister den staatlichen Terror entfesselte und dem scheinbar paralysierten Staat die Macht zurückgab, die die miteinander zerstrittenen Revolutionäre nicht zu greifen vermochten.

Eine völlig unterschätzte Revolution

Baberowskis Analyse der Russischen Revolution 1905 ist im Grunde das Umfassendste, was derzeit dazu in Deutschland veröffentlicht wurde. Eine Untersuchung, die bis ins Detail aufzeigt, wie das einst von Peter geschaffene Machtsystem nach dem völlig sinnfreien Krieg gegen Japan regelrecht von innen her zu zerfallen begann, ganze Regionen in Aufruhr versanken und ein begnadeter Politiker wie Sergej Witte versuchte, die Situation zu nutzen und den Zaren dazu zu bewegen, aus Russland eine konstitutionelle Monarchie zu machen, wie es Deutschland und Großbritannien damals schon lange waren.

Das war zwar die Geburtsstunde der Duma. Aber es änderte nichts am Machtverständnis im Herzen des Riesenreiches. Akribisch untersucht Baberowski alle Momente, in denen dieses Russland sich hätte modernisierten können. Und das tat es Ende de 19. Jahrhunderts auch – auf eine brutale, rücksichtslose Weise, von der auch Unternehmer aus Westeuropa profitierten, die ihre aus dem Boden gestampften Fabriken z.B. im Donbass mit Bauern betrieben, die ihre Dörfer verlassen hatten, aber im Umfeld der Fabriken unter Bedingungen lebten, die sich kein Arbeiter in Westeuropa hätte gefallen lassen.

Billige Arbeitskräfte, rücksichtslose Ausbeutung der Bodenschätze – und massive staatliche Investitionen in die Eisenbahn, die zum Rückgrat des Riesenreiches wurde und vor allem dazu gedacht war, Truppen in großer Geschwindigkeit dorthin zu schaffen, wo sie mit brutaler Gewalt eingesetzt wurden.

Was nicht verhinderte, dass sich eine Opposition entwickelte, die diese Verhältnisse auch in Zeitungen und Büchern aufs Korn nahm und von der Revolution träumte. Nur um dann 1905 zu erfahren, dass diese Intelligenzija eigentlich keinen Kontakt zum Volk hatte und schon gar nicht in der Lage war, den Aufstand zu ordnen und zu orchestrieren.

Schon lange vor 1905 erschütterten Aufstände und Pogrome das Land. Im Grunde Spiegelbild einer Macht, die sich immer wieder nur durch exzessive Gewalt Geltung verschaffte, während stabile und verlässliche Organisationen der Selbstverwaltung fehlten. Die Revolutionäre verklärten die alten Dorfgemeinschaften geradezu, wollten hier so etwas wie einen ursprünglichen Kommunismus sehen.

Das Erbe der Gewalt

Es war kein Zufall, dass die Bolschewiki glaubten, gerade diese (scheinbare) Ursprünglichkeit als Hauptargument nutzen zu können, dass Russland die ganze zähe Entwicklung des Kapitalismus in Westeuropa einfach überspringen könnte und mit einem Sprung in den Kommunismus gelangen könnte. Wer diese Märchen aus den Schriften Lenins noch heute bewundert, wird durch Baberowskis detaillierte Analyse eines Besseren belehrt. Und erfährt damit im Grunde auch, welch eine Katastrophe es war, dass Russland die vollständige Verwandlung in einen modernen Rechtsstaat bis heute nicht geschafft hat.

Was natürlich mit dem tief verwurzelten Denken über Macht zu tun hat. Die sich bis heute im Kreml konzentriert und auf den Schultern einer abhängigen und durch und durch korrupten Bürokratie ruht, die sich willfährig den Machthabern im Kreml unterordnet und gleichzeitig versucht, aus der eigenen Machtposition so viel Vorteil zu schlagen wie möglich. Wo die Macht zu entgleiten droht, wird – wie unter Nikolai II. – zum Staatsterror gegriffen. Und Baberowski untersucht natürlich auch die Rolle der Untertanen und die Frage, warum sich in Russland auch nie die Idee eines Staatsbürgertums verwirklichen konnte.

Was mit Identifikation zu tun hat. Und auf einmal steht eben auch das übliche europäische Freiheits-Denken zur Debatte. Das in den Wortmeldungen russischer Liberaler durchaus eine Rolle spielte. Ein Freiheitsbegriff, der viel mehr Voraussetzungen hat, als es sich europäische Denker meistens vergegenwärtigen. Während sie das große Bedürfnis nach Identifikation und Anerkennung völlig ausblenden. E

ine Leerstelle, die Isaiah Berlin diskutiert hat, den Baberowski zitiert, um deutlicher zu machen, warum die russischen Bauern und Fabrikarbeiter den Revolutionsparolen nicht einfach hinterherliefen, sondern lieber Gutshäuser abfackelten und Pogrome anzettelten. Wozu oft schon ein Gerücht genügte. Denn was sie kannten, war nur Einschüchterung und Gewalt. Ein funktionierendes Rechtssystem, das sie hätten verinnerlichen können, gab es nicht. Und auch der „Staat“ war als rechtsetzende Instanz nicht gegenwärtig.

Wenn der Staat zum Terror greift

Und daran änderte sich nach 1917 nichts. Darauf geht Baberowski dann nicht mehr ein. Er untersucht noch die direkten Folgen der Revolution von 1905 und wie es mit einem staatlich entfesselten Terror gelang, den Aufruhr im Riesenreich niederzuschlagen.

Und indem er die Ereignisse des Jahre 1905 schildert und mit Augenzeugenberichten untermauert, wird auch deutlich, warum die Russen auch heute noch eine tief verwurzelte Angst vor dem Sturz des „Zaren“ und einer Destabilisierung des Staates haben, die dem zwangsläufig folgen würde. Dieses Wissen um einen monatelangen Bürgerkrieg, der erst mit brutalem militärischem Einsatz niedergeschlagen werden konnte, ist bis heute präsent.

Und daran haben auch die Jahrzehnte unter den Kommunisten nichts geändert, die genauso rücksichtslos mit dem Volk verfuhren wie vormals die Zaren. „Lenins Ideologie war ein Spiegelbild des autokratischen Unterwerfungsstaates, eine Erziehungslehre, die das Volk nicht brauchte“, schreibt Baberowski. „Für Lenin waren Arbeiter nichts weiter als eine gesichtslose, formbare Masse, Instrumente entschlossener Tatmenschen, die auf die Geschichte nicht warten wollten und nicht warten konnten.“

Einen „Mann von besonderer Gefühlskälte“ nennt er ihn. Und natürlich taucht Lenin auch in seinen Schilderungen der letzten Jahrzehnte des Zarenreiches auf. In jenen Jahren, die Lenins Sicht auf Macht und Gewalt prägten. Und auf die Menschen, die für die Machthaber im Kreml immer nur Verfügungsmasse waren, keine Bürger mit Rechten, Pflichten und eigener Würde.

Und man würde es gern dabei belassen und nur als ein russisches Problem sehen, würden nicht neue populistische Parteien im Westen genauso ticken in ihrer Verachtung von Recht und Gesetz und der Forderung nach einem autokratischen Staat, der in den Augen dieser Leute handlungsfähiger wäre als eine funktionierende Demokratie.

Es ist das Funkeln einer Macht, die sich an der Spitze eines Staates konzentriert und die Politik wieder aus rein imperialer Perspektive betrachtet. Der Selbstherrscher setzt dann wieder Recht aus eigene Gewalt und kassiert die Freiheitsrechte der Bürger, die damit wieder zu Untertanen werden. Ein regelrechtes Demolierungsprogramm für die Demokratie – und ein Heilsversprechen, das mit falschen Fakten argumentiert. Und mit falschen Vorbildern.

Der falsche Glanz der Autokratie

Denn Autokratien sind – wie Baberowski in diesem wirklich materialreichen Buch sehr detailliert erzählt, dysfunktional in allen Bereichen – von der Wirtschaft bis in Militär und Gesundheitswesen. Es kann gar nicht anders sein. Denn alles ist auf den „starken Mann an der Spitze“ zugeschnitten, während von seinen Handlangern in den Provinzen nichts anderes verlangt wird, als Ruhe und Ordnung durchzusetzen. Meist mit Gewalt. Denn ein Menschenleben ist in so einem System nichts wert.

Alle haben lediglich zu funktionieren. Und was nicht passt, wir passend gemacht – so wie in den ganzen Russifizierungsprogrammen, mit denen die eroberten Provinzen des russischen Imperiums überzogen wurden. Nicht einmal mit dem Ziel, die Kultur der eroberten Völker auszulöschen, sondern um die Verwaltung durch die russische Bürokratie zu erleichtern.

Doch auch so wächst ein zusammengeraubtes Imperium nicht zu einem einheitlichen Nationalstaat zusammen. Im Gegenteil: Die Russen haben bis heute Schwierigkeiten, Russland als Nation zu begreifen. Und sich von den alten imperialistischen Vorstellungen aus der Zarenzeit zu lösen. Etwas, was bei den einst unterdrückten Völkern bis heute zur Erinnerung gehört.

Dort weiß man, warum die russische Autokratie so gefährlich ist. Und dass man mit diesem Imperium keinen Frieden bekommt, wenn man ihm nicht die Zähne zeigt. Denn eine andere Sprache versteht die Selbstherrschaft nicht. Auch dann nicht, wenn heute anstelle des Zaren ein blasser Geheimdienstoffizier regiert. Und allen, die seine Taten kritisieren, mit der alten, bestens bekannten Gewalt droht.

Ein erhellendes Buch, wenn man wissen will, warum Russland es bis heute nicht geschafft hat, sich aus dem gnadenlosen Schatten Peters des Großen zu lösen.

Jörg Baberowski „Der sterbliche Gott. Macht und Herrschaft im Zarenreich“ C. H. Beck, München 2024, 49,90 Euro.

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