Da ließen sie ihn noch einmal schwören, dass er wiederkommen würde. Und weil sie es so wollten, schwor er. Und fuhr nach Leipzig zurück, sein Visum für Österreich in der Tasche, wo er zum „Internationalen Wettbewerb für Modernen Jazz“ eingeladen war. Und natürlich fuhr er, während die Stasi aus Berlin noch eine Warnung nach Leipzig schickte, die Fahrt des begabten Leipzigers nach Wien zu verhindern. Die Post war zu langsam. Ehe die Warnung in Leipzig eintraf, war Joachim Kühn schon im Zug Richtung Süden. Und unterwegs in eine Weltkarriere, die er in der DDR so nie hätte erleben können.
Davon erzählt dieses Buch. Es ist ein Geburtstagsgeschenk, das sich der mittlerweile weltberühmte Jazzmusiker selbst zu Geburtstag geschenkt hat.
Mit 80 Jahren darf man das. Da kann man Bilanz ziehen. Und auch die Leipziger ein bisschen daran erinnern, dass diese unvergleichliche Karriere einmal in Leipzig begonnen hat. Im doppelten Sinn. Denn hier wurde Joachim Kühn 1944 auch geboren. Hier wuchs er auf, ging zur Schule, lernte ganz klassisch Klavierspiel und beschloss schon mit 14 Jahren, dass er nur noch Musik machen wollte.
Und zwar nicht irgendwelche. Es war die Zeit von Louis Armstrong, der ihn regelrecht inspirierte und auf jene Spur brachte, die ihn schon bald zu einem der bekanntesten Jazz-Interpreten in dem kleinen Ländchen machen sollte, das er im Nachhinein nur noch als grau und beklemmend beschreiben konnte.
Ein kurzes Tauwetter
Das passte wirklich nicht zusammen. Und da ging es Kühn wie so viele anderen Musikern in Leipzig. Noch in den 1950er Jahren erlebte er seinen Bruder Rolf in Westberlin in Jazzkonzerten. Und er sah, was möglich war, wenn nicht ungnädige Kunstrichter bestimmten, was im Land als Musik genehm war und was nicht. Als dann 1961 über Nacht die Grenze nach Westberlin dichtgemacht wurde, war er entsetzt.
Das hatte er – wie so viele – nicht erwartet. Doch der Draht zu seinem Bruder hielt. Ein Leben lang, wie er am Ende des Buches schildert. Genauso, wie er sich in den DDR-Jahren als Musiker durchschlug und die frühen Jahre in der DDR tatsächlich als so eine Art kleines Tauwetter empfand.
Die SED ließ die Zügel lockerer. In der Literatur, der Kunst, im Film und in der Musik schien auf einmal fast alles möglich, zeigten die kreativen Köpfe des Landes, wie spannend es sein konnte, Kunst ohne Fesseln zu machen. Bekanntlich aber nur bis zu dem berüchtigten „Kahlschlagplenum“ der SED im Jahr 1965, als Ulbricht und Genossen mit diesem kurzen Frühling der gefühlten Freiheit radikal Schluss machten.
Was dann eben auch für Joachim Kühn hieß: Hier musste er weg. Und die Einladung nach Wien war die beste und letzte Gelegenheit, die sich ihm bot. Dass die Stasi noch im letzten Moment dabei war, seine Abreise zu verhindern, erfuhr er später aus seiner Stasi-Akte.
Dass er im Westen schnell Fuß fasste, dabei half ihm sein 15 Jahre älterer Bruder Rolf, der im Musikgeschäft längst eine bekannte Größe war. Im Lauf der Zeit produzierten die beiden Brüder 25 Schallplatten zusammen. Zusätzlich zu den Dutzenden Scheiben, die Joachim Kühn selbst auf den Markt brachte, nachdem er sich ab 1968 international freischwimmen konnte und mit den legendärsten Jazz-Musikern und Jazz-Musikerinnen der Zeit die Konzertsäle füllen konnte.
Wer die Jazzgeschichte ein bisschen kennt, wird bei dieser Reise durch die Jazzwelt des 20. Jahrhunderts regelrecht atemlos. Und versteht es nur zu gut, dass Kühn sich dann entschließt, seinen Lebensmittelpunkt in die europäische Jazz-Metropole – nach Paris – zu verlegen.
No Limits
Der Rest ist Geschichte, könnte man meinen. Gerade auch deshalb, weil hier ein Musiker, der ganz der Musik lebt, auch mit dutzenden „Zwischenrufen“ im Buch davon erzählt, was man aus seinem Leben machen kann, wenn man die engen Grenzen eines kleinen, vormundschaftlichen Landes sprengt.
Was nicht nur für den kleinen vormundschaftlichen Staat gilt. Sondern für jedes Leben: Wer immer nur das abliefert, was (scheinbar) von ihm erwartet wird, der wird nie den Kern des eigenen Lebens finden, nie die Freiheit, wirklich das Beste aus sich machen zu können.
Und so erzählt der größte Teil dieser Autobiografie dann natürlich von Konzerten, Tourneen, Begegnungen mit den Stars der Zeit, von Platteneinspielungen und den Labels, mit denen Kühn zusammenarbeitete. Sodass die Kenner seiner Musik nachvollziehen können, wie dieses Lebenswerk entstand, zu dem auch eigene Kompositionen und abendfüllende Werke gehören.
Und was ist in so einem Geburtstagsbuch schöner, als auch noch Geburtstagsgrüße und Erinnerungen all der Kolleginnen und Kollegen aus der musizierenden Zunft, die Kühns Karriere begleiteten. Diese „Jubilee Statements“ füllen locker hundert Seiten. So möchte man dagewesen sein, wenn man seine 80. Geburtstag feiert. Und natürlich ist der Band auch mit hunderten Fotos gespickt, die die Karriere des unangepassten Jazz-Pianisten noch einmal sichtbar machen.
1972 zog Kühn mit Familie zurück ins unterkühlte Deutschland. Aber eher nicht wegen der unterkühlten Atmosphäre, sondern um in einem Haus auf dem Land alle Freiheit zum Üben und Ausprobieren zu haben. Was ja Kern seines Lebens als Jazzmusiker war: Immer wieder Neues auszuprobieren und die Grenzen zu sprengen.
Womit sich der Kreis eigentlich rundet zu jener Abreise aus dem kleinen, eingegrenzten Land, in dem das 1966 alles so nicht möglich gewesen wäre. Ein Geburtstagsbuch und eine Autobiografie für alle, die das Leben des in Leipzig geborenen Ausnahmemusikers immer schon „am Rande“ wahrgenommen haben. Hier bekommen sie es kompakt – mit vielen persönlichen „Zwischenrufen“ des Musikers, der nicht nur in seinem Musikfeld nach dem Prinzip „No Limits“ lebt.
Michael Brüning; Joachim Kühn Der KühnFaktor. Frei + unabhängig. No Limits im Jazz Alfred Music Publishing, Köln 2024, 24,95 Euro.
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