Manchmal sind es einfach Geschichten, die in andere Sprachen erschienen und übersetzt nun auch im Deutschen erscheinen, die zeigen, dass Menschen auf der ganzen Erde ganz ähnlich denken, fühlen und leiden. Dass wir uns von ihnen meist nur durch unseren höheren Lebensstandard unterscheiden. Was – noch – auch unser Gesundheitssystem betrifft und die Betreuung psychisch erkrankter Menschen.

Dieses Buch ist erstmals 2017 auf Spanisch erschienen. Niklas Bornhauser und Markus Sahr haben das Buch der chilenischen Philosophin und Schriftstellerin Sandra Baquedano Jer ins Deutsche übersetzt. Mit Leipzig ist die Autorin durch ihr Studium an der Universität Leipzig verbunden.

Auch wenn man Leipzig nicht unbedingt wiedererkennen muss in den ersten Abschnitten der Geschichte, in der die Philosophie- und Psychologiestudentin Marta von sich selbst erzählt und ihrem Weg in die Garten-Klinik am Rand der Stadt, wo sie von ihrem Professor die Möglichkeit erhalten hat, für eine Zeit in der psychiatrischen Abteilung zu hospitieren.

Ein Leben aus der Bahn geworfen

Noch bevor sie dort ankommt, begegnet sie Benno, der selbst Patient in der Klinik ist und ihr im Verlauf der Erzählung seine eigene Leidensgeschichte zu erzählen versucht. Eine Geschichte, die Marta ziemlich bald in ihre eigene Geschichte eintauchen lässt. Denn so ganz grundlos studiert sie nicht die beiden Fächer an der Universität.

Auslöser war nämlich ganz offensichtlich der Selbstmord ihres Freundes Benardo zehn Jahre zuvor, eines begabten Fischersohnes, der unter großen Opfern seiner Elten den Weg an die Universität gefunden hatte, erst Ökonomie, dann Theologie studierte. Doch noch während des Studiums machte sich die Krankheit bemerkbar, die sein Leben letztlich völlig aus der Bahn werfen sollte – eine (anfangs nicht diagnostizierte) bipolare Störung.

Was dann zu vielen frustrierenden und erfolglosen Klinikaufenthalten führte, die den jungen Mann immer mehr in die Überschuldung trieben und ein geregeltes Leben völlig unmöglich machten. Und dabei bewunderten Marta und ihre Freunde Bernardo für seine Klugheit, seinen hellwachen Geist und seine enorme Belesenheit. Während in Chile jahrzehntelang die kritische Literatur aus Europa verboten war, konnte Bernardo problemlos etwas mit einem lange versteckten Bücherschatz anfangen, in dem Autoren wie Sartre und Camus zu finden waren.

Nach mehreren mehr oder weniger ertragenen Klinikaufenthalten begann Bernardo ein weiteres Studium – das der Philosophie. Das er aber auch wieder abbrechen musste, weil der nächste Krankheitsschub ihn aus der Bahn warf. Aber seine Beschäftigung mit der Philosophie gab er nie auf, auch nicht nach der Rückkehr in seine selbstgebaute Hütte in dem Ort seiner Kindheit, wo er Nacht für Nacht auch die obdachlosen Wanderer der Gegend beherbergte.

Das GlĂĽck und die Freiheit

In langen Gesprächen mit Marta spricht er über die lange Geschichte der Philosophie, in der es immer um die wesentlichen Themen des Lebens ging – das richtige Leben, das Gute, den Tod – und natürlich die Frage, was Glück ist. Und welches Recht der Mensch hat, über sein eigenes Leben zu verfügen. Worauf die Philosophen in all den Jahrhunderten völlig verschiedene Antworten gefunden haben, manche stark beeinflusst von religiösen Vorstellungen, andere eher konzentriert auf die Verpflichtung des Menschen seiner Gesellschaft und den Gesetzen gegenüber.

Alles Fragen, die bis heute heftig diskutiert werden, eben weil es auch die Urfrage allen Menschseins betrifft: seine Freiheit. Auch seine Freiheit, einer quälenden Krankheit zu entfliehen, die den Erkrankten immer mehr im Leben beeinträchtigt. Und natürlich schließt das eine Frage ein, die auch Bernardo stellte: Wie frei ist der Mensch eigentlich in seinen Entscheidungen, wenn er unter einer seelischen Erkrankung leidet?

Am Ende erfährt man, dass Bernardo seine Entscheidung getroffen hat. Vielleicht ist er auch der abwesende Zuhörer, von dem der Titel spricht. Auch wenn sich die Geschichte eher liest wie eine Selbstverständigung der Ich-Erzählerin, die durch ihre eigenen Erfahrungen weiß, dass man den Geschichten der Anderen nur versuchen kann zuzuhören. Denn nur sie wissen ja wirklich, wie ihre Krankheit ihre Sicht auf die Welt bestimmt, was sie dadurch wahrnehmen. Und wie sehr das oft der Außenwahrnehmung der Mediziner und Betreuer widerspricht.

Nur unterscheidet sich die Garten-Klinik deutlich von den deutlich unterfinanzierten Kliniken in Chile, weil dieses Verständnis hier vorhanden ist und die Therapien vor allem darauf angelegt sind, die Patienten in die Lage zu versetzen, mit den Begleiterscheinungen ihre Erkrankung umgehen zu können und Handlungsstrategien zu entwickeln, damit auch draußen im „normalen“ Leben zurechtzukommen.

Verständnis und Akzeptanz

Denn auch das schwingt mit: Die psychisch Erkrankten unterscheiden sich gar nicht so sehr von uns Anderen da draußen. Auch wir so scheinbar Normalen brauchen das Gefühl, verstanden und akzeptiert zu werden und in Resonanz mit den uns nahen Menschen zu sein. Das, was Marta besonders verstört hat in ihren Gesprächen mit Bernardo, war, dass sie auf seinen vitalen Schmerz nicht eingehen und die „symbolische Sprache seiner leidenden Einbildungskraft“ nicht entschlüsseln konnte, obwohl sie das so sehr wollte.

Womit eigentlich die Rolle der Zuhörenden, Mitfühlenden, Mitleidenden skizziert ist, für die Marta geradezu idealtypisch steht. Denn wie weit darf man da gehen, ohne selbst in Mitleidenschaft gezogen zu werden oder – was Marta am Ende erlebt – die Grenzen verschwimmen zu sehen, weil einem das Schicksal des geliebten Menschen auch Jahre später noch nachgeht.

Die Geschichte endet offen. Wie im Grunde alle menschlichen Geschichten. Manchmal kann man sich davon nur lösen, indem man erzählt, was erzählt werden kann. Und auch die Trauer ihren Platz bekommt um die Menschen, die man geliebt hat, auch wenn man sie nicht immer verstanden hat. Alles ist offen. Erst recht, wenn auch die wichtigste Botschaft bleibt, die Bernardo hinterlassen hat: „Hab keine Angst und fürchte dich nicht!“

Sandra Baquedano Jer „Abwesender Zuhörer“ Engelsdorfer Verlag, Leipzig 2024, 13,40 Euro.

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