Ungebremst rasen wir in die Klimakatastrophe hinein. Klimakonferenz um Klimakonferenz vergeht, ohne dass sich tatsächlich etwas verändert. Dafür wird der Ton in der Politik immer rüder, werden geradezu aggressiv Freiheitsrechte eingefordert, die nichts anderes sind als ein Weiterso mit einem Lebensstil, der die Ressourcen unserer Welt verschlingt. Und dann? Höchste Zeit, über unser Verständnis von Freiheit einmal gründlicher nachzudenken.

Denn Freiheit ist das Wort, das allerenden erschallt, wenn es um unseren Lebensstil geht, unsere Rechte, unsere Rolle als Bürger. Und vor allem als Konsument. Und nichts sorgt bei diesem von seiner Freiheit so berauschten Bürger so sehr für Empörung wie auch nur die Anmutung, man könne ihm einen Verzicht nahelegen. Dann geht das Gebrüll erst richtig los, ob das ein Tempo-Limit auf Autobahnen ist, ein fleischloser Freitag in der Betriebskantine, ein billiger Flug nach Mallorca, ein spritfressendes Auto, die alte Gasheizung oder was man der Dinge aus jüngster Zeit so aufzählen will.

Mit Verzichts-Rhetorik kann man Wahlkämpfe gewinnen, wenn man anderen Parteien vorwirft, sie würden den Bürgern etwas wegnehmen. Aber woher kommt das? Warum können wir nicht einhalten, obwohl Umfragen bestätigen, dass die Mehrheit ganz genau weiß, in welche Katastrophen wir uns da hineinkonsumieren? Es ist ja nicht nur die Klimakatastrophe.

Längst geht es auch um Trinkwasser, um fruchtbare Böden, um unsere Gesundheit, um ein weltweites Artensterben, das es in diesem Tempo seit Jahrmillionen nicht gegeben hat. Wir wissen das. Doch statt zu handeln, ziehen wir die Köpfe ein. Viele werden depressiv und hoffnungslos, verzweifeln an der Menge der Krisen. Oder suchen ihr Heil gleich in der Vergangenheit und tun so, als gingen sie die Katastrophen da draußen nichts an.

Augen zu und dann?

Denn vorerst passieren die schlimmsten Extreme ja anderswo. Nicht nur die Brände und Überschwemmungen. Wir haben die Folgen unseres Lebenstils externalisiert, wie Stephan Lessenich schon 2016 in „Neben uns die Sintflut“ feststellte.

Wir haben auch die negativen Begleiterscheinungen unseres entgrenzten Konsums externalisiert, ganze „dreckige“ Produktionen ausgelagert in ferne Länder, wo dann Ausbeutung und Umweltzerstörung dazugehören, wenn billig für unseren Kaufrausch produziert wird. Jean-Pierre Wils schenkt seinen Lesern nichts. Und holt deshalb ganz weit aus, um uns in unserem Dilemma zu zeigen. In all unserer Rat- und Tatlosigkeit. Denn er will wissen, warum das so ist, warum wir es nicht fertigbringen, unser Verhalten zu ändern, die Realität so zu sehen, wie sie ist, und – zu verzichten.

Worauf genau, das schreibt er nicht. Denn das ist eine sehr subjektive Sache. Was ziemlich schnell klar wird, wenn er im Kapitel „Übergewichiges Leben“ auf die Geschichte des Luxus eingeht. Der einmal eine der biblischen Todsünden war – zumindest bei einigen christlichen Autoren. Eng verbunden mit Völlerei und Habgier.

Das Wort hat eine radikale Wandlung hinter sich und ist längst zu einem zentralen Werbe-Topos geworden. Und zu einer Verführung für die Bewohner einer Konsumgesellschaft, die verinnerlicht haben, dass es immer ein Mehr gibt, etwas noch Besseres. Dass das heute teuer erworbene Produkt morgen schon veraltet sein wird und ersetzt werden muss durch noch ein Besseres. Denn das ist eingebaut in den Mechanismus der Gesellschaft, in der wir leben. Wir leben unter dem Wachstumsdiktat. Das einmal wichtig war, als es tatsächlich galt, einen Wohlstand für alle zu schaffen.

Wo beginnt Wohlstand? Und wann ist es genug?

Nur: Was ist Wohlstand? Wer definiert ihn? Wann hat der Mensch das Gefühl, alles zu haben, was er zum Leben braucht? Wobei Wils ziemlich deutlich macht, dass es diesen sich seiner Bedürfnisse wirklich bewussten Menschen ganz offensichtlich nicht gibt. Denn wir vergleichen uns. Wir sind soziale Wesen und nehmen sehr genau wahr, was die Menschen um uns herum haben und zeigen. Und wir sind beeinflussbar, manipulierbar. Gerade mit „guten Gefühlen“.

Worauf Wils auch hinweist: Kein Produkt wird mehr sachlich mit seinen tatsächlichen Eigenschaften beworben, sodass wir tatsächlich rational entscheiden könnten. Selbst das übelste und umweltschädlichste Produkt wird uns mit Gefühlen verkauft. Als wären diese Produkte tatsächlich genau das, was uns gibt, was wir wirklich brauchen.

So werden unsere Gefühle manipuliert und fehlgesteuert. Werden letztlich völlig banale Produkte mit Sex, Freiheit, Liebe, Zärtlichkeit und anderen gefühlsbeladenen Worten aufgeladen. Und verstopfen dann , weil sie genau das nicht bieten können, unsere Wohnungen.

Aber wir sind darauf konditioniert. „Das Luxus-Gut hat sich so sehr in die Herstellung sozialer Distinktionen verlagert, dass reale Bedürfnisse kaum mehr eine Rolle spielen“, so Wils. Wir rackern und strampeln, rennen wie die Mäuse im Laufrad, nur um das Geld zu verdienen, uns immer mehr von den Luxus-Gütern zu kaufen, die wir eigentlich nicht brauchen. Und wir wissen nicht einmal mehr, was uns in dieser Welt tatsächlich guttut. Stattdessen „entwickeln“ wir immer neue Bedürfnisse, die wir vorher gar nicht hatten. Mit denen uns aber die Werbung suggeriert, dass sie wir haben sollten. Wir werden selbst zur Ware, wie Wils zu recht feststellt.

Und wir waren lange Zeit recht zufrieden damit, weil uns die kapitalistische Produktion die Befriedigung all unserer Bedürfnisse versprach. Demokratie und Marktwirtschaft gingen eine heilige Heirat ein und versprachen den Bürgern allezeit ein Wohlergehen. Wenn sie sich nur anstrengten und bereit waren, immer schneller zu laufen. Und immer neue Grenzen zu überschreiten.

Unerfüllbare Versprechungen

Doch dieses Versprechen funktioniert nicht mehr. Auch das heilige Wachstum kommt an seine Grenzen. Ressourcen gehen zur Neige, Enegie wird teurer, Bedürfnisse bleiben unbefriedigt. Das Versprechen der liberalen Gesellschaft erfüllt sich für immer mehr Menschen nicht mehr. Und sie verzweifeln. Denn sie haben gelernt, dass Freiheit in ihrer (neo-)liberalen Variante bedeutet, dass jeder seines Glückes Schmied ist, der Mensch frei ist und seine Freiheit eine absolute ist, die nicht eingeschränkt werden darf. Obwohl das so in keiner Verfassung steht.

Mit diesem – primitiven – Freiheitsbegriff beschäftigt sich Wils sehr ausführlich. Denn wenn Freiheit so verstanden wird und selbst Politiker sie so behaupten, dann kommen wir aus der Sackgasse nicht heraus. Dann lässt sich die Furie nicht bezähmen. Denn es fehlt genau das, was Philosophen von Kant bis Hegel immer als die wichtigste Grundvoraussetzung für Freiheit begriffen haben: die soziale Gemeinschaft.

Denn kein Mensch kann seine Freiheit allein gewährleisten. Alle – die Reichen genauso wie die Armen – sind darauf angewiesen, dass die Gemeinschaft aller Menschen die Grundlagen dieser Freiheit schafft. Vom erwirtschafteten Wohlstand (der immer ein Produkt der Gemeinschaft ist) bis hin zur Gewährleistung der Rechte und Freiheiten, wozu es den Staat braucht, den die Neoliberalen stets so verachten und regelrecht bekämpfen.

Was nun einmal auch bedeutet: Ganz selbstverständlich nehmen wir alle Einschränkungen in unserer Freiheit hin. Weil genau das erst garantiert, dass alle Mitglieder der Gesellschaft an der Freiheit teilhaben können. Oder mit den Worten von Wils: „Die Verwechslung von Freiheit und Eigensinn übersieht – mutwillig oder nicht -, dass nur ein Freiheitsgradualismus, also eine Abstufung freiheitlicher Praktiken, dieses hohe Gut in unserem Leben garantieren kann. Das Maß an Einschränkungen, das ein solcher Gradualismus impliziert, muss – zumindest in Demokratien – jederzeit politisch ausgehandelt und ausgelotet werden.“

Was uns wirklich frei macht

Und es bleibt trotzdem etwas Kollektives. Denn wir alle sind auf Andere angewiesen. Erst das gemeinsame Handeln schafft Wohlstand und Freiheit. Und da wird es spannend, weil genau hier auch die Möglichkeit steckt, unser Denken zu ändern. Denn darum geht es in der ganzen Debatte über Freiheit und Verzicht. Denn natürlich können wir verzichten, wenn wir den Verzicht als eine freie Handlung und ein Stück Freiheit selbst verstehen.

Wobei hinter dem Verzicht – das betont Wils nicht gesondert – immer auch ein Gewinn steht. Was jeder weiß, der sich auch nur bemüht, sich dem ewigen Laufrad zu entziehen und sich Zeiten des Frei-Seins erobert. Ein Frei-Sein, das uns Raum verschafft für all die Dinge, die uns tatsächlich guttun – bis hin zum genussvollen Müßiggang, den die Proklamatoren der Leistungsgesellschaft immer so verdammen.

Und genau hier wird auch wieder erlebbar, dass eine menschliche Gesellschaft auf Kommunikation, Nähe und Kooperation beruht. Dass es die Menschen um uns sind, die uns reich und frei machen. Wils: „Wir sollten uns daran erinnern, dass Freiheit ein Beziehungswort ist, eine Vokabel, die auf Rücksichtnahme, Kommunikation und Kooperation hinweist, nicht zuletzt auf die Zivilisierung unserer Ansprüche. Unsere Freiheit wird auch in Zukunft kommunikativ und kooperativ sein oder sie wird nicht mehr sein.“

Und weil das für Leute, die von der rücksichtslosen Selbst-Verwirklichung ohne Rücksicht besessen sind, vielleicht schwer zu verstehen ist, betont er noch: „Freiheit ist die Praxis einer kollektiven Selbstbindung und gerade nicht die einer individualistischen Ent-Bindung aus geteilter Verantwortung für die Gemeinschaft.“ Nur wenn alle – kollektiv und kooperativ – die Grundlagen unserer Freiheit schaffen (und erhalten), können in unserer Gesellschaft Freiheitsrechte gelebt werden. Freiheit ohne Vorbedingung gibt es nicht.

Das schlechte Gewissen

Und an der Stelle kommt – indirekt – auch der Begriff der Würde wieder ins Spiel. Denn da wir längst wissen, was unser enthemmter Konsum auf der ganzen Erde für Folgen hat und wie sehr wir damit die Grundlagen unsere Gemeinschaft zerstören und die Lebensgrundlagen unserer Kinder und Enkel erst recht, befinden wir uns alle in einer moralischen Zwickmühle. Und tragen zu all dem auch noch die Last eines schlechten Gewissens, weil wir wissen, dass wir falsch handeln und das Richtige und Notwendige nicht tun. Wir handeln gegen unsere eigenen moralischen Vorstellungen.

Ein Punkt, an dem Wils auf das oft zitierte Diktum von Ernst Wolfgang Böckenförde von 1967 zu sprechen kommt: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist.“ Er kritisiert es auch, weil es in dieser Absolutheit nicht stimmt. Denn unsere Vorstellungen vom Guten und Richtigen hängen nun einmal nicht mit der Religion zusammen. Sie sind uns allgemein.

Was Wils in Begriffen wie Kooperation und Solidarität bündelt. Denn auch der demokratische Staat ist zuallererst ein kooperatives Projekt, das Menschen sich geschaffen haben, um einander Gerechtigkeit und ein hohes Maß an Freiheiten zu gewährleisten.

Wer den Staat so verachtet wie die heutigen Marktradikalen, der hat das schlichtweg nicht begriffen. Oder vernebelt es mit Absicht und legt dem gemeinsamen Projekt Staat die Daumenschrauben an – Stichwort: Schuldenbremse. Sodass der eigentliche Akteur, mit dem wir unseren Kurs korrigieren könnten, kaum noch handlungsfähig ist. Und noch handlungsunfähiger gemacht werden soll, wie die ganzen Steuersenkungsprogramme der neoliberalen Parteien zeigen. Womit sie auch zeigen, dass ihnen die Freiheit der Bürger völlig egal ist. Denn die Freiheit geht vor die Hunde, wenn wir so weitermachen und unsere Lebensgrundlagen zerstören.

Handeln in Krisenzeiten

Zuletzt versucht Wils noch in fünf Punkten zu skizzieren, wie aus seiner Sicht eine Lösung aussehen könnte – von einer „Mikropolitik der Lebensstile“ über eine Re-Regionalisierung bis zur „Rehabilitierung der öffentlichen Güter“, zu denen eben nicht nur eine gesunde Umwelt, saubere Luft und sauberes Trinkwasser gehören, sondern u.a. auch Bildung, Gesundheit, Sicherheit und Justiz.

Alles Dinge, die durch den Privatisierungs-Wahn der vergangenen 40 Jahre heftig unter Druck geraten sind. Wobei wir heute längst die desaströsen Folgen dieser Privatisierung sehen, die den Menschen natürlich das berechtigte Gefühl geben, dass diese Gesellschaft kaputt ist – und ihre eigenen Freiheiten dadurch massiv eingeschränkt sind.

Wils zielt vor allem auf eine Veränderung in unserer Wahrnehmung ab, wissend, wie sehr wir die ganzen falschen Geschichten von Wachstum, Markt und Luxus verinnerlicht haben und damit einen völlig falschen Begriff von Freiheit entwickelt haben, der uns gerade im Moment der sich zuspitzenden Krisen unfähig zum Handeln macht, weil wir – natürlich – als völlig losgelöstes Individuum völlig überfordert sind, in all den Krisen irgendeine sinnvolle Lösung zu finden.

Die Lösungen finden wir nur gemeinsam, wenn wir wieder verstehen lernen, dass kooperatives Handeln die Voraussetzung jeder Freiheit ist. Auch der Freiheit, ein weltzerstörendes Handeln aufzugeben und echte Alternativen zu entwickeln, wie möglichst viel einer lebenswerten Welt für unsere Kinder und Enkel bewahrt werden kann. Auch und gerade mit dem gemeinsamen Verzicht auf enthemmten Konsum.

Aber dazu muss man zumindest ein Gefühl dafür bekommen, dass jeder Verzicht neue Räume der Freiheit eröffnet. Verzicht also nicht einfach leer ist, sondern ein völlig neuer Raum von Möglichkeiten.

Jean-Pierre Wils „Verzicht und Freiheit“, Hirzel Verlag, Stuttgart 2024, 26 Euro

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