Die beste Jahreszeit für die Poesie? Das ist der Herbst. Die folgenden Zeilen sind jedem bekannt – Bunt sind schon die Wälder – gelb die Stoppelfelder – und der Herbst beginnt – rote Blätter fallen – graue Nebel wallen – kühler weht der Wind. Den Autor kennt man weniger – Johann Gaudenz (1764–1834) – Nationalität Schweizer. Freund von Goethe und Schiller, aber das macht nichts.

Seine wehmütigen Jahreszeitenzeilen treffen ein Gefühl der Vorsaison des Winters, eignen sich wunderbar auf einer Fahrrad-Überlandtour zur sprachlichen Bebilderung des buntblättrigen Naturschauspiels, wenn der Herbst seine nachsommerliche Wärme und Pracht entfaltet. Gaudenz war Soldat, diente 10 Jahre lang bis 1789 bei den „Falschen“ in der bürgerlichen Erfolgs-Geschichte. In der Schweizergarde, die zu Beginn der Französischen Revolution das „Alte“, die Monarchie, den gesellschaftlichen „Anti-Fortschritt“, zu verteidigen half.

Mich interessiert in dem Falle augenblicklich der Mensch hinter den Zeilen, die Geschichte der Zeit und seine Geschichte, ja, gerade wenn jemand etwas Über-Zeitliches geschaffen hat, das die Menschen bewegt und ihnen gedanklich hilft bewusster zu erleben, weil irgendjemand dazu die ausdrucksstarken Worte gefunden hat. Hier ist es der Eindruck des Beginns einer Jahreszeit, banal eigentlich, weil so normal in der natürlichen Abfolge des Lebens.

Leipziger Zeitung 130. Cover: LZ

Und doch wiederum bedeutsam und, ja, in zweiter Instanz sofort politisch emanzipierend, sprachen doch die Klassiker des Humanismus seiner Zeit vor dem Hintergrund des Grauens eines jakobinischen Tugendterrors nicht zufällig von der „Ausbildung des Empfindungsvermögens als das dringendere Bedürfnis unserer Zeit … weil der Weg zu dem Kopf durch das Herz muss geöffnet werden.“ (Schiller, 8. Ästhetischer Brief, 1793)

Herzensbildung kommt vor Geistesbildung, das wusste schon die Oma. Und sie hatte recht. Die anhaltende Wirkung einer zweckrational-kalten Aufklärung mit Empathieverlust, weil unter ideologischem Vorbehalt – sie schien nach dem Ende des vergangenen Jahrhunderts an Wirkmächtigkeit zu verlieren – nach zwei schrecklichen Weltkriegen und anschließender Nuklearbedrohung, bei fortschreitender Umweltzerstörung. Alles Gründe für ein Mehr an klassischem „Empfindungsvermögen“.

Es ist keine konjunkturelle Stimmungsschwankung, auch wenn es sich kulturpessimistisch anhört oder liest: Im Herbst 2024 scheint die „dunkle“ Kehrseite der Aufklärung sichtbarer denn je zu sein. Wirklich unvernünftig war und ist sie, die individuelle und staatliche Interpretation von „Freiheit und Gleichheit“ nicht nur unmittelbar nach 1789 – da sie niemals die „Abgründe“ im Menschen beseitigen konnte, ohne selbst zum „Abgrund“ zu werden – sie ist es zweifellos auch heute in einem gespaltenen Land mit einer Kultur des Rechthabens, die immer weiter wuchernd auf den Beeten der Profilneurosen wachsen.

Ist man mittendrin, dabei sozusagen, kommt man sich manchmal vor wie auf einem Narrenschiff der Torheiten und schlimmer noch – wird Zeitzeuge zunehmender sozialer Verrohung. (Das ist beinahe überflüssig, so etwas zu schreiben, da es schon wieder in der „Pluralitätsmaschine“ der Alltagsmeinungen geschreddert und verworfen zu werden droht.) Da drohen die „bunten Wälder“ eines Johann Gaudenz schnell im kalten Grau und frühen Dunkel der Herbstabende und kalten Winternächte zu verschwinden.

Sinnlos scheinen die Appelle an die „Ausbildung des Empfindungsvermögens“ zu sein, wenn der Mensch des Menschen Wolf bleibt, immer mörderischere Waffen ersinnt und sich vulgär-aufgeklärt dazu noch einer künstlichen Intelligenz bedient. Der universelle Humanismus-Gedanke von einer allgemeinen Verfasstheit der Menschenrechte? Er ist eindeutig auf dem Rückzug, zu befürchten ist, dass er gnadenlos einem sozial geteiltem und fehlinterpretierten Wohlstandsverständnis – national und global – zum Opfer fällt.

Vielleicht hilft es ja, sich an dieser Stelle beim Lyriker und sprachlichen Bewusstseins-Forscher Rainer Maria Rilke („Denn das Wort muss Mensch werden.“) Unterstützung zu holen? Nein, nicht mit einem „Herbsttag“ oder einem potenziell kräftigen „Panther“. Mir fallen beim Austro-Poeten Rilke ganz andere Zeilen ein …
Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort.
Sie sprechen alles so deutlich aus.
Und dieses heißt Hund und jenes heißt Haus,
und hier ist der Beginn und das Ende ist dort.
Mich bangt auch ihr Sinn, ihr Spiel mit dem Spott,
sie wissen alles, was wird und war;
kein Berg ist ihnen mehr wunderbar;
ihr Garten und Gut grenzt grade an Gott.
Ich will immer warnen und wehren: Bleibt fern.
Die Dinge singen hör ich so gern.
Ihr rührt sie an: sie sind starr und stumm.
Ihr bringt mir alle die Dinge um.

Wie zeitlos ist das denn! Und da ist der alte Rilke noch harmlos und vorsichtig in seinen Andeutungen spätaufklärerischer Kälte. Der kannte den „Shitstorm“ noch nicht, wusste aber vom „Spiel mit dem Spott“ und der inflationär betriebenen sprachlichen Entkernung der Kommunikation und werttragender Begriffe. Was mit Wohlstand, Glück, Frieden, Freiheit, Selbstbestimmung? Ihr bringt mir alle die Dinge um, möchte man sich selbst mit Rilke die Antwort geben.

Auch den Zeilen seiner religiösen Paraphrasierung spätbürgerlich-individueller Hybris – „ihr Garten und Gut grenzt gerade an Gott“ – kann man nur zustimmen, sie lassen einen dennoch beinahe verzweifelt zurück, blickt man sich on- und offline im Lande um. Aber …

In Brechts zeit- und endlos langem Gedicht „An die Nachgeborenen“ erfährt die reflektierte Haltung des Herzens-Aufklärers, jedes „Gutmenschen“, die finale Dosis an Gesellschaftspessimismus. In Dänemark, dort, wo man eigentlich einen entspannten Herbsturlaub verbringen sollte, landete der episch-kritische Dramatiker-Gott auf der Flucht vor den Nazis in den 30er Jahren.

Das Nichtzuglaubenwollende war eingetreten. Die Menschenfeindlichkeit und Barbarei waren seit 1933 staatlich sanktioniert in Deutschland. Immerhin, einige schafften es gegen den Strom zu denken. Aber „Wirklich, ich leben in finsteren Zeiten!“ war das vorangestellte Fazit einer Kapitulation allgemein-menschlichen Fortschritts, der nur auf Bewahrung der Schöpfung (so hätte es wohl Rilke gedacht und ausgedrückt) gerichtet sein sollte und nicht auf selektiv empfundener Humanität ruhen darf. (Die Bilder aus „Schindlers Liste“, als die Soldatenmörder in einer Feuerpause „Bach? Nee, Mozart!“ auf dem Klavier spielen, sind allzu erschütternd und traurig-erhellend zugleich.)

Brecht schildert das Elend der Verwirrung und Vertreibung aus der Utopie des Humanismus, entschuldigt sich am Ende für unser aller Unvermögen und glaubt dennoch daran … „Ihr aber, wenn es soweit sein wird – dass der Mensch dem Menschen ein Helfer ist – gedenkt unsrer mit Nachsicht.“

Lyrik für besondere Momente, Gaudenz, Rilke, Brecht. Oktober 2024.

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