Dieses Buch kam spät, drei Jahre nach dem Tod des Autors Doğan Akhanlı, der nach schwerer Krankheit 2021 in Berlin starb, gerade 64 Jahre alt. Sein Leben ähnelt in vielem den Schicksalen einiger seiner Protagonisten in diesem Roman, der im Grunde das ist, was man ein Panorama unsere Zeit nennen kann. Ein Panorama, gezeichnet von einem, der aus eigener Betroffenheit auf das Schicksal von Menschen schaut, die gezwungen sind, in die Emigration zu gehen. Ein deutsches Thema. Ein türkisches Thema. Ein Buch, das einen betroffen macht, auf geradezu freundliche Art.
Denn es durchbricht auf ganz selbstverständliche Weise die verbissene, oft genug blinde und verlogene Sicht der deutschen Politik und der nachplappernden Medien auf das Thema Migration, holt es zurück auf die Erde, bringt die Menschen ins Bild, die fortgehen mussten, obwohl sie nie fortgehen wollten. Und manchmal können sie auch gar nicht ganz fortgehen, weil ihre Wurzeln in der Heimat zurückgeblieben sind. Oder weil sie ihr Talent – wie Doğan Akhanlı – nur in ihrer Muttersprache entfalten können. Weshalb er zwar ein engagierter deutscher Schriftsteller wurde, nachdem er 1991 nach Deutschland geflohen ist, aber geschrieben hat er weiter auf Türkisch.
Bis zuletzt. Die letzten Szenen in seinem Roman handeln im Frühjahr 2020, als die Corona-Pandemie um den Erdball zu wandern begann und zwei wichtige Projekte, die seine Buchhelden lange geplant und vorbereitet haben, auf unbestimmte Zeit verschoben werden müssen. Darunter die Fotoausstellung des (ehemaligen) Oberleutnants, um den herum sich die Schicksale der Menschen verknüpfen, die Doğan Akhanlı schildert. Beginnend mit der Flucht des zum Tode verurteilten Schriftstellers Tayfun Kara aus einem Gefängnis tief in der türkischen Einöde durch einen 85 Meter langen Tunnel.
Mit den Augen des Fotografen
Es ist der Oberleutnant, der ihn in seinem Heimatdorf aufspüren soll, aber stattdessen die hunderte Liebesbriefe liest, die Tayfun aus dem Gefängnis an seine Geliebte Gülsen geschrieben hat. Briefe von so menschlicher und poetischer Schönheit, dass sie den Oberleutnant dazu bringen, den Militärdienst lieber zu quittieren, die schöne Deutsche Lisa, die ihm bei einem Aufenthalt am Meer begegnet, zu heiraten und letztlich nach Deutschland zu gehen, wo er fortan als Fotograf arbeitet und praktisch keinen Konflikt in der Welt auslässt, um dort die verstörenden Bilder für die Zeitungen zu machen.
In Deutschland wird er später auch Tayfun und Gülsen wieder begegnen, dem Regisseur Kunduz, den er genau in dem Moment fotografiert, als dieser auf der Bühne stirbt, dessen Tochter May und ihren Freund Tom, der ganz am Ende dieses vielschichtigen Romans seine Mutter findet und auf seine Art erfährt, wie menschliche Schicksale sich in das Zeitgeschehen verweben und – wie so oft – die finsteren Machenschaften machtbesessener Männer Leben um Leben aus der Bahn werfen.
Und damit letztlich alle auf die Probe stellen, ob sie sich dabei feige verkriechen oder sich wehren und einander helfen, mit dem Leid umzugehen und den Verletzten wieder Halt geben – so wie Tayfun der jungen Maria hilft, die nur mit Mühe ihrem gewalttätigen Onkel entkam. Was nicht das Ende von Marias Leiden war, wie man im Verlauf der Geschichte erfährt.
Einer Geschichte, die anfangs im kalten türkischen Osten beginnt, wo Polizei und Militär unbarmherzig Jagd auf junge Freiheitskämpfer machen, mit der Flucht der Protagonisten nach Deutschland aber zunehmend vor allem in Köln spielt, wo sie sich eine neue Heimat und ein neues Leben aufgebaut haben.
Mitten in der Angst, muss man sagen.
Denn sie haben zwar die unberechenbare Grausamkeit der diversen türkischen Machthaber hinter sich gelassen. Aber in Deutschland treiben ihrerseits die von Gewalt berauschten Rechtsextremen ihr Unwesen. Unentdeckt, weil die deutschen Sicherheitsbehörden auf dem rechten Auge blind sind und lieber die Familien der Ermordeten schikanieren, als der einzig sinnvollen Spur zu folgen.
Lisa verfolgt den ganzen NSU-Prozess als Journalistin und ist zunehmend entsetzt, wie die als Zeugen vernommenen Beamten sich herauswinden und die Denkweise von Behörden sichtbar machen, die lieber belastende Akten schreddern, als einzugestehen, dass sie versagt haben, weil sie den Rassismus in den eigenen Köpfen nicht bemerkt haben.
Unsere Parallelwelt
Und das Berührende an Doğan Akhanlıs Erzählweise ist, dass er sich weder in dokumentarische Nüchternheit flüchtete, noch in falsche Dramatisierung. Gerade weil er von den Leben und Erlebnissen seiner Figuren als mitfühlender und verständnisvoller Erzähler berichtet, fällt es dem Leser nicht schwer, sich mit diesen Menschen aus einer deutschen Parallelwelt zu identifizieren, die nur deshalb eine Parallelwelt ist, weil wir auf die zufluchtsuchenden Menschen mit den Augen der Fremden schauen. Sie lieber wegdenken und nicht wahrnehmen, obwohl sie neben uns leben, unsere Nachbarn sind, unsere Freuden teilen und auch unsere Ängste.
Was im Grunde das Grundmotiv der Geschichte ist, die Doğan Akhanlı hier erzählt, der selbst zweieinhalb Jahre in einem türkischen Militärgefängnis saß, 1998 von der Türkei ausgebürgert wurde, 2010 bei einem Besuch in der Türkei „wegen angeblicher Teilnahme an einem 1989 geschehenen Raubüberfall“ festgenommen und mehrere Monate in Untersuchungshaft gehalten wurde. Und obwohl 2011 freigesprochen, erließ die Türkei 2013 einen internationalen Haftbefehl, mit dem Doğan Akhanlı 2017 in Spanien verhaftet wurde.
So weit reicht der Arm autoritärer Staaten. Auch heute noch. Und da Doğan Akhanlı das auch einen seiner stillen Helden erleben lässt, merkt man, wie es tatsächlich in der Gefühlswelt der Menschen aussieht, die eigentlich in Deutschland in Sicherheit sein sollten: Die Angst bleibt allgegenwärtig. Eine wirkliche Sicherheit gibt es nicht. Schon gar nicht, wenn die längst mit deutschem Pass Ausgestatteten dann in ihre einstige Heimat zurückkehrten – so wie Kunduz, der dabei mitten in einen Terroranschlag in Istanbul gerät und nur durch eine Zufall lebend zurückkommt.
Oder wie Saxarat, der sich eines Tages zu Fuß auf den Weg von Köln in sein tausende Kilometer entferntes Heimatdorf in der Türkei macht, immer wieder begleitet vom Oberleutnant, der seine Fußreise in Fotos festhält. Doch ein Attentat überschattet seine Ankunft in Diyarbakır. Als er dann aus seinem Hotelzimmer verschwindet, verliert sich seine Spur.
So wie sich die Spuren von Menschen, die ihre Heimat suchen, oft im Ungewissen verlieren. Was ihre Schicksale nicht weniger dicht und erzählenswert macht als die der Deutschen, die gern so tun, als gäbe es die Menschen nicht, die hier ein neues Zuhause und eine mögliche Zukunft gesucht und vielleicht sogar gefunden haben.
Die Unsichtbaren neben uns
Trotz aller Gefährdungen. Trotz aller Sprachbarrieren. Denn am Ende sind es vor allem die Sprachbarrieren, die die Menschen neben uns fast unsichtbar machen, in eine gesichtslose Menge verwandeln, die dann zur Projektionsfläche für unsere eigenen Ängste wird. Doch genau diesen Raum füllt Doğan Akhanlı, indem er einfach – mit der großen Begabung des Erzählers – schildert, wie sich Schicksale verflechten, wie Leben einander begegnen und Menschen es sind, die einander Vertrauen und Nähe geben.
Und sich an den ungewöhnlichsten Orten begegnen, nur um festzustellen, dass sie in ihrer eigenen Vegangenheit Gemeinsamkeiten haben, von denen sie nichts wussten. Die von Doğan Akhanlı dann mit derselben erzählerischen Ruhe herausgearbeitet werden, wie er schon die Geschichte von Tayfuns Flucht und Rettung erzählt hat.
Denn was nicht nur Tayfun gerettet hat, ist die Güte. Ist dieses menschliche Selbstverständnis, dass man Menschen in der Not helfen muss, wenn man kann. Wissend, dass man dadurch auch Geschichten miteinander verbindet. Denn genau das bringt Menschen zusammen: die erzählten Geschichten ihres Lebens. Manchmal geradezu mythisch wie die der Goldenen Tante, die in ihrem wohl hundertjährigen Leben so viel erlebt hat, dass die jungen Leute gar nicht mehr einordnen können, was sie da aus ihrer Jugend erzählt.
Das Jahrhundert der Vertreibungen
Denn Flucht und Vertreibung haben ja nicht erst heute begonnen. Sie gehören zur europäischen Geschichte, seit der Nationalismus regiert und Grenzen Machtbereiche auseinander dividieren, seit Minderheiten vertrieben oder vernichtet werden und die Doktrinen staatlicher Gewalt kleinen Befehlshabern die Macht über Leben und Tod gegeben haben.
Aber Doğan Akhanlıs Roman erzählt eben auch davon, dass vor allem die Mutigsten fliehen, die, die es aushalten, in der Ferne nach einem neuen Ort für ihre Träume zu suchen. Und das eigentlich immer mit einem Blick zurück wie der Vogel Sankofa. Ein Blick voller Wehmut in die verlorene Heimat. Aber es ist auch ein Blick voller Aufmerksamkeit, denn sie können es sich nicht leisten, unaufmerksam zu sein, die Gefahren aus dem Blick zu verlieren, die ihnen auch in der neuen Heimat drohen.
Das zu verstehen, helfen wohl auch hunderte Zeitungsartikel nicht. Aber Doğan Akhanlı öffnet den Blick in diese Welten und reicht seinen Lesern tatsächlich die Hand des Erzählers, sich auf die Schicksale seiner Heldinnen und Helden einzulassen und ein wenig zu fühlen wie sie. Und das mit dem großen Atem eines Erzählers, wie ihn auch die türkische Sprache nicht allzu oft hervorbringt.
Doğan Akhanlı „Sankofa“ Sujet Verlag, Bremen 2024, 29,80 Euro.
Keine Kommentare bisher