Zuerst erschien dieses Buch auf Japanisch, dann auf Englisch, nun auch auf Deutsch. Japan war deshalb der erste Aufschlag, weil man sich dort โ€“ so Markus Gabriel โ€“ schon lรคnger Gedanken macht, wie ein ethischer Kapitalismus aussehen kรถnnte. Also einer mit Werten. Fรผr die westliche Welt derzeit kaum denkbar, weil selbst die Politik vom Neoliberalismus durchtrรคnkt ist und der verblendeten Vorstellung, Mรคrkte wรคren etwas vรถllig Unabhรคngiges und Konsumenten ja wohl rationale Wesen. Beides ist falsch.

Das wusste schon Adam Smith, der Urvater der Wirtschaftstheorie, auf die sie alle aufbauen, bis heute. Nur haben die ganzen Theoretiker der โ€žfreien Mรคrkteโ€œ genau das aus ihrer Theorie heraussortiert, was den Markt tatsรคchlich zu einem sozialen Ort macht. Weshalb Adam Smith nicht nur seine dicke Schrift zum Wohlstand der Nationen schrieb, sondern auch eine ethische Begrรผndung vorwegschickte, die der neuen Wirtschaftsweise, die da zu seiner Zeit heranreifte, einen moralischen Rahmen gab.

Denn wenn Wirtschaft ohne moralische Rahmensetzung arbeitet, nur des Profits um jeden Preis wegen, dann passiert genau das, was Adam Smith vorausahnte und was uns heute um die Ohren fliegt: Diese vรถllig enthemmte Art zu Wirtschaften zerstรถrt unsere Lebensgrundlagen, ignoriert die Grenzen unseres Planeten und walzt rรผcksichtslos รผber Menschenrechte hinweg. Ganz zu schweigen davon, dass diese Verwilderung auch den Wohlstand der Nationen nicht mehr sichern kann.

Obwohl Kapitalismus das ideale Instrument wรคre, diesen Wohlstand zu sichern. Dauernhaft und fรผr alle. Aber dafรผr braucht er Werte, einen ethischen Kodex, der das Wohlergehen aller und die Bewahrung der Schรถpfung zum Inhalt hat. Aber wie geht das?

Eine Wirtschaftsweise der Freiheit

Darรผber macht sich der Bonner Philosoph Markus Gabriel in diesem Buch eine Menge Gedanken. Nicht nur philosophische. Denn er weiรŸ ja aus Erfahrung, dass Philosophen zwar viele schรถne Gedanken haben kรถnnen โ€“ aber keinen Einfluss auf die wirkliche Politik haben, weil schlicht die รœbersetzung fehlt. Was auch mit unserer falschen Sicht auf den Kapitalismus zu tun hat, der โ€“ anders als es noch Karl Marx dekretierte โ€“ eben keine Gesellschaftsordnung ist. Auch wenn er in seine Entstehung eng mit gesellschaftlichen Entwicklungen wie Demokratie, Liberalismus und Menschenrechten einherging.

Und das tat er vor allem deshalb, weil Kapitalismus eigentlich ebenfalls ein wirtschaftliches System der Freiheit ist. Oft genug geradezu anarchisch. Erfindungsreich sowieso. Denn alle unsere heutigen Lรถsungen des Wirtschaftens, die unseren Wohlstand begrรผnden, sind erst durch kapitalistisches Ausprobieren, Rationalisieren, Disruption veralteter Techniken und einen gewissen Wagemut entstanden, Dinge einfach mal Wirklichkeit werden zu lassen und Lรถsungen fรผr alle mรถglichen Probleme zu finden.

Sehr beharrlich geht Gabriel in seinem Buch immer wieder darauf ein, denn er weiรŸ, wie sehr die โ€žSystemfrageโ€œ in den Kรถpfen gerade der Politiker und vieler Wirtschaftsbosse sitzt, die den irren Glauben an den homo oeconomicus immer wieder reproduzieren und ein Leistungsdenken behaupten, das mit der wirtschaftlichen Realitรคt unserer Gesellschaft gar nichts zu tun hat. Ein Denken, das eher direkt aus feudaler Arroganz resultiert und die Verantwortlichkeit der Wirtschaftsteilnehmer fรผr das, was sie tun und anrichten, einfach negiert.

Dabei wรคre Kapitalismus, in seinem Urkern als ein Feld der Freiheit, mit dem sich menschlicher Wohlstand und Fortschritt herstellen lieรŸe, geradezu die Grundbedingung dafรผr, dass wir auch unsere heutigen Probleme gelรถst bekommen โ€“ von der Klimakrise รผber die Zerstรถrung unsere Lebensgrundlagen bis hin zur beschรคmenden Diskrepanz zwischen Armen und Reichen.

Ethik-Abteilungen in jedes Unternehmen

Unsere heutige Wirtschaft ist nicht nachhaltig, nicht zukunftsfรคhig, menschengerecht ebenfalls nicht. Und das wissen wir. Das wissen auch die Bosse in ihren Nadelstreifen seit 2012, als sich die UN-Mitgliedsstaaten in Rio de Janeiro auf die 17 Sustainable Development Goals, die 17 Nachhaltigkeits-Ziele einigten, die eigentlich Inhalt jeder Politik und jeder Art des Wirtschaftens sein mรผssten.

Aber nicht sind, weil etliche Politiker und etliche Konzernlenker gar nicht einsehen, dass moralisches Handeln letztlich eine รœberlebensfrage ist. Dass wir all unsere durch exzessive Ausplรผnderung unseres Planeten enstandenen Probleme nur in den Griff bekommen, wenn wir dieselben Krรคfte, die wir zur Zerstรถrung einsetzen, dafรผr einsetzen, nachhaltige Lรถsungen fรผr die Zukunft zu finden.

Nur wie?

Gabriels Vorschlag sind Ethik-Abteilungen in allen Unternehmen, die dort so selbstverstรคndlich an der Entwicklung neuer Produkte teilhaben wie die existierenden Entwicklungsabteilungen. Denn bei einem ist er sich sicher: Die Kรคufer der Produkte wรผrden es honorieren, wenn Produkte nachhaltig, fair, umweltschonend und klimaschรผtzend hergestellt werden. Und vor allem, wenn diese Produkte den Kรคufer tatsรคchlich auch belohnen dafรผr, dass er beim Einkauf auf ethische Standards Wert legt.

Dass diese ethische Rahmensetzung bislang keine Rolle spielt, hat โ€“ so Gabriel โ€“ mit einem Missverstรคndnis aus der Aufklรคrung zu tun: โ€žMenschen seien Maschinen des Begehrens. GemรครŸ diesem Bild von der conditio humana hat jedes Individuum ein mehr oder weniger egoistisches Interesse am eigene รœberleben und materiellen Wohlergehen, und das politische Leben steht im Dienst dieser Interessen.โ€œ

Wenn der Mensch in den Formeln keinen Platz hat

Ein Missverstรคndnis, das unsere gesamte Gesellschaft durchzieht. Und vor allem all das bestimmt, was heute an Hochschulen als Wirtschaftswissenschaften feilgeboten wird โ€“ mit einem Hokuspokus-Apparat von Berechnungsmethoden, mit denen die Zaubermeister der ร–konomie den Leuten suggerieren, sie kรถnnten sรคmtliche Wirtschaftsprozesse (Voraus-)Berechnen. Obwohl in all ihren Kalkulationen die Menschen mit allen ihren anarchische Wรผnschen und Bedรผrfnissen und irrationalen Entscheidungen gar nicht vorkommen.

Gleichzeitig wird das vรถllig falsche Bild verbreitet, โ€žMarktโ€œ und Staat stรผnden sich unversรถhnlich gegenรผber. Der Staat habe sich nicht in den โ€žMarktโ€œ einzumischen. Der Staat sei ein Stรถrelement, das zurรผckgeschnitten werden mรผsse. Was auch in Christian Lindners eigentlichem Angriffs-Papier auf die โ€žAmpelโ€œ zum Tragen kam โ€“ das war nicht das D-Day-Papierchen, sondern sein im November vorgelegtes Grundsatzpapier zur โ€žWirtschaftswendeโ€œ, in dem auch ein โ€žsofortiges Moratorium zum Stopp aller Regulierungenโ€œ benannt wurde.

Was dann zumindest das Denken in den Kรถpfen der fรผhrenden FDP-Funktionรคre auf den Punkt bringt, die nie verstanden haben (oder verstehen wollten), dass der Mensch nicht um abstrakter Werte willen produziert, sondern um gemeinsamen Wohlstand zu schaffen.

Bei dem Satz hรคtte selbst Karl Marx gequietscht vor Vergnรผgen, weil es genau das trifft, worum er sich in โ€žDas Kapitalโ€œ so mรผhsam herumgeschrieben hat, ohne es zu packen zu bekommen. Das Ergebnis war ja bekanntlich die Gegenthese: Die Produktionsmittel mรผssen enteignet und vergesellschaftet werden. Womit dann quasi der Staat zum einzigen Bestimmer รผber das, was produziert werden soll, wird. Was ja bekanntlich im โ€žreal existierenden Sozialismusโ€œ ausprobiert wurde und grรผndlich schiefging.

Was ist Wohlstand?

Denn der Kapitalismus hat etwas als Voraussetzung, was ein Staat selbst nicht hervorbringen kann: anarchische Freiheit. Eine Freiheit, mit der mutige Unternehmer herausfinden kรถnnen, was Menschen sich wirklich wรผnschen, und dann Produkte entwickeln, die diese Wรผnsche erfรผllen. Und auch Marx hรคtte schon sehen kรถnnen, dass Waren eben nicht nur einen Fetischcharakter haben, sondern oft genug auch nรผtzlich sind, das Lebe erleichtern, den Kรคufern mehr Wohlstand ermรถglichen.

Wobei genau an der Stelle die Frage auftaucht, was eigentlich wirklich Wohlstand ist โ€“ und zwar fรผr alle. Das, was wir alle wirklich brauchen und uns wรผnschen. Worรผber sich Gabriel ja schon in mehreren Bรผchern Gedanken gemacht hat โ€“ in โ€žMoralischer Fortschritt in dunklen Zeitenโ€œ genauso wie in โ€žDer Mensch als Tierโ€œ oder (mit Gerd Scobel) in โ€žZwischen Gut und Bรถseโ€œ.

Was dann schon einmal das auf den Punkt bringt, was Lernunwillige so gern Dialektik nennen: die Scheidung der Welt in zwei unvereinbare Radikalitรคten. Obwohl das schon bei Hegel anders zu lesen war, der sehr wohl begriffen hatte, dass die beiden sich ausschlieรŸenden Extreme bestenfalls der Ausgangspunkt fรผr ein Drittes sein kรถnnen, das eine vรถllig neue Lรถsung fรผr das Problem sein kann.

Der Mensch ist nicht rein und klar, gut oder bรถse. Aber er ist sozial, eigenwillig und oft genug anarchisch. Und er wรผnscht sich ein Leben in Frieden und Wohlstand. Das er aber โ€“ weil es ihm Politik und Werbung jeden Tag einflรผstern โ€“ fast immer mit einem blinden Konsum verwechselt. Das Konsumieren und Kaufen immer neuer Produkte, von denen man glaubt, man mรผsse sie unbedingt haben, ersetzt den Versuch, fรผr sich selbst zu klรคren, was wir wirklich als Wohlstand verstehen. Was jeder also tatsรคchlich braucht. Und wie man das fรผr die gesamte Gesellschaft erschaffen kann.

Mรคrkte sind soziale Projekte

Und genau an der Stelle bekommt Wirtschaft einen ethischen Rahmen. Den lรคngst schon einige Unternehmen beherzigen: Sie stellen mit ethischer Verantwortung auch fรผr Umwelt, Klima und Beschรคftigte Produkte her, die ihre Kรคufer finden. Der tatsรคchliche Markt, der mit dem โ€žMarktโ€œ der Wirtschaftswissenschaften sehr wenig zu tun hat, zeigt, dass es funktioniert, dass Menschen tatsรคchlich ethisch produzierte Waren und Angebote bevorzugen, wenn sie die Wahl haben.

Das trifft โ€“ wie Gabriel feststellt โ€“ auch auf die groรŸen Plattformen im Netz zu, die von Anfang an regelrecht gepfiffen haben auf eine ethische Rahmensetzung. Und so zu Schleudern fรผr Hass, Verachtung, Verschwรถrung und Fake News geworden sind. Wรคhrend sie ethisch bewรคhrte Strukturen wie die klassischen Medien dabei rรผcksichtslos zerstรถren.

Ein Punkt, an dem unรผbersehbar ist, wohin es fรผhrt, wenn man Wirtschaft ohne ethische Normen schalten und walten lรคsst. Hรคtte Facebook von Anfang an eine Ethikabteilung beschรคftigt, stรผnde dieses Netzwerk heute anders da, stellt Gabriel fest. Wahrscheinlich sogar als echte Alternative zu Plattformen wie X, TikTok oder YouTube. Denn Menschen lassen sich auch online ungern mit Wut und Hass und Hetze zukรผbeln. Denn sie sind zutiefst soziale Wesen. Sie suchen Gesellschaft. Eine gute Gesellschaft ist ein wesentlicher Teil von Wohlstand und Wohlbefunden.

Aber das haben ja bekanntlich selbst ganzen Parteien โ€žvergessenโ€œ, weil sie die Doktrin der โ€žfreien Mรคrkteโ€œ verinnerlicht haben.

Aber der Zweifel bleibt natรผrlich, ob es die von Gabriel vorgeschlagene Ethikabteilungen sein kรถnnen, die am Ende die kapitalistischen Unternehmen dazu bringen, ihre Produkte und ihre Wirtschaftsweise nachhaltig zu machen.

Ohne Staat kein Markt

Denn eigentlich hat Gabriel ja nicht grundlos den Staat ins Spiel gebracht, der โ€“ anders als Leute wie von Hayek oder Milton Friedman behauptet haben โ€“ nicht der Gegenspieler des Marktes ist, sondern die Instanz, die Mรคrkte รผberhaupt erst mรถglich macht. Denn es ist der Staat, der รผberhaupt erst einmal Regeln setzt, nach denen Handel betrieben werden kann, und er garantiert, dass ein Handel nach rechtlichen Regularien auch gewรคhrleistet wird.

Wenn โ€žWirtschaftsexpertenโ€œ auf die Regulierungswut des Staats schimpfen und Steuern fรผr des Teufels erklรคren, haben sie die Grundlagen eines freien Handels nicht begriffen. Und befรผrworten eigentlich nur ein Katastrophenszenario, bei dem eine niemandem verpflichtete Horde wild gewordener Monopole die Grundlagen unseres Lebens zerstรถrt.

Oder einmal so formuliert: Sรคmtliche Katastrophenszenarien kommen aus dieser Richtung. Aus der Welt der โ€žAlternativlosigkeitโ€œ.

Wรคhrend das simple Wissen darum, dass nicht nur eine Gesellschaft und ein Staat soziale Unternehmungen sind, sondern auch der Kapitalismus selbst als Produktionsweise, aus dem politischen Alltag vรถllig verschwunden zu sein scheint. Mit dem Ergebnis, dass es lauter Denkblockaden gibt, wenn es darum geht zu klรคren, was denn eigentlich Wohlstand ist und wie man Wohlstand fรผr alle schaffen kann und gleichzeitig unser Leben auf diesem Planeten sichert. Gabriel ist sich sicher, dass das mit einem klug regulierten Kapitalismus mรถglich ist, auch wenn er den Staat in dieser Rolle eher nur beilรคufig ins Spiel bringt.

Als wenn er wirklich nur ein beilรคufiger Player wรคre und nicht die einzige Instanz, die tatsรคchlich Regeln setzen kann, an die sich alle Marktteilnehmer halten mรผssen (Steuern zahlen, Ausbeutung vermeiden, Naturzerstรถrung vermeiden, die Allmende nicht ausplรผndern usw.)

Dem Kapitalismus die richtige Aufgabe stellen

Der Staat wรคre eigentlich der richtige Akteur, den Rahmen zu setzen, in dem die Wirtschaft kรผnftig Wohlstand schaffen sollte. Denn dass der Kapitalismus in der Lage wรคre, Lรถsungen fรผr alle unsere heutigen Probleme zu finden, dessen ist sich Gabriel sicher. Nur scheint das kein Politiker von den Unternehmen zu erwarten. Eher duckt man sich weg und verstรคrkt das Lamento unfรคhiger Bosse, die gerade ihr Unternehmen krachend an die Wand gefahren haben und nicht begreifen, dass ihr altes Modell sich lรคngst รผberlebt hat. Und dass ihre Kรคufer auch beim Einkauf mit moralischen MaรŸstรคben wรคhlen und entscheiden.

Das geht jetzt schon รผber den Rahmen des Buches hinaus, das letztlich auch fรผr ein wirklich allgemeines Wahlrecht plรคdiert. Das sich schlicht daraus ergibt, dass eine menschliche Gesellschaft letztlich immer ein Gemeinschaftswerk ist, an dem alle teilhaben sollten und mรผssen.

Dieses Denken ist aber in den letzten Jahren gewaltig unter die Rรคder gekommen, als sich der (wissenschaftlich vรถllig unsinnige) Neoliberalismus in den Kรถpfen festgesetzt hat, so dass die Menschen in ihrer ziellosen Hatz nach Geld und Konsum kaum noch Zeit haben darรผber nachzudenken, was ihnen wirklich wichtig ist im Leben. Und wie ein wirklich menschlicher Wohlstand eigentlich aussehen kรถnnte.

Hรถchste Zeit, darรผber einmal nachzudenken. Gern mit Philosophen, die heute in der Politik und in der Wirtschaft so wenig gefragt sind, dass man sich รผber die Hรคrte und Eiseskรคlte in beiden Sphรคren nicht zu wundern braucht.

Markus Gabriel โ€žGutes tun. Wie der ethische Kapitalismus die Demokratie retten kannโ€œ Ullstein, Berlin 2024, 22,99 Euro.

Empfohlen auf LZ

So kรถnnen Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstรผtzen:

Ralf Julke รผber einen freien Fรถrderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar