Überlieferte Geschichte ist oft nur die sehr spezielle Sicht derjenigen, die sie verschriftlicht haben. Pech für all die Kulturen, die keine Chroniken und Augenzeugenberichte hinterlassen haben. Und das sind gar nicht so wenige. Auch die Wikinger gehören dazu, die als räuberische Horden in die europäischen Annalen eingegangen sind. Aber dieses Bild ist einseitig. Mit einer kleinen Karneolperle macht sich Cat Jaman auf die Spurensuche nach den einstige Reiserouten der Wikinger.
Cat Jarman ist Bio- und Feldarchäologin am Institut für Anthropologie und Archäologie der Universität Bristol. Über zehn Jahre Forschungsarbeit stecken in diesem Buch. Das Thema – obwohl die Wikinger eigentlich in Filmen und Büchern allgegenwärtig scheinen – tatsächlich Neuland. Auch wenn im verschlafenen Dorf Repton in Derbyshire alles scheinbar wie gewohnt beginnt: mit den Skeletten von Kriegern, die im neunten Jahrhundert mit dem Großen Heer unterwegs waren, das die angelsächsischen Königreiche auf der Insel plünderte. Eigentlich nichts Besonderes. Überfälle der Wikinger war man auf der Insel inzwischen gewohnt. Im Jahr 793 wurde der Überfall auf das Kloster Lindisfarne geradezu zum Symbol für die brutalen Wikinger-Überffälle.
Und 80 Jahre später hatte sich am Schrecken der über das Meer kommenden Nordmänner nichts geändert. Außer dass das Große Heer davon zeugte, dass diese Raubzüge Dimensionen erreichen konnten, die über das Treiben simpler Räuberbanden hinausging. 873 lagerte das Große Heer bei Repton, hatte auch dort das Kloster geplündert, hatte aber auch Gräber hinterlassen, die dann in den 1970er / 1980er Jahren erstmals archäologisch erkundet wurden.
Eine kleine Karneolperle
Das Material aber lagerte Jahrzehnte in den Archiven, bis sich die junge Archäologin Cat Jarman daran machte, sich das Fundmaterial einmal genauer anzuschauen – nicht nur die Skelette, auch wenn sie genauso neugierig war darauf, wer da eigentlich begraben lag und woher diese Menschen tatsächlich kamen. Ein Fundstück aber weckte ihre besondere Aufmerksamkeit: eine Karneolperle, die sie in einem Kriegergrab nicht erwartet hätte. Was den Fragenkatalog deutlich erweiterte: Waren es tatsächlich alles Männer, die da begraben lagen? Wie sah so ein Wikingerheer eigentlich aus? Und wovon erzählen eigentlich Fundstücke wie diese einzelne Karneolperle?
Denn deren Herkunft – das wusste sie ja – lag im fernen Indien, mit dem die üblichen Geschichtsbücher die Wikinger bisher nicht in Verbindung brachten. Auch weil Archäologen eher auf die Schwerter und Ausrüstungsstücke in den Wikingergräbern geachtet hatten. Wenn man Vorurteile im Kopf hat, findet man letztlich nur das, was man eh schon vermutete. Und irrt sich immer wieder, wie so manches „Kriegergrab“ zeigte, in dem nach genauerer Untersuchung dann doch eine Frau lag, ganz offensichtlich eine herausragende Persönlichkeit in ihrer Welt und wahrscheinlich auch eine kriegerische Anführerin.
Logisch, dass sich so manches Kapitel in Jarmans Buch auch mit der Rolle der Frau in der Wikingergesellschaft beschäftigt – und den falschen Bildern, die heutige Wikingerverfilmungen und -festivals vermitteln.
Eine Ökonomie der Wikingerzeit
Aber schon in Repton und auf den nächste Stationen in England, wo Jarman den Spuren des Großen Heeres folgt, wird deutlicher, dass die alten Legenden ein sehr einseitiges Bild der Wikinger gezeichnet haben. Foremark und Torksey heißen diese Stationen, die Fundstück um Fundstück deutlicher machen, dass hinter dem Auftauchen der Wikinger mehr steckte als nur die Lust am Plündern. Dass diese Raubzüge einen Sinn gehabt haben mussten, einen regelrecht ökonomischen.
Was schon all die scheinbar gar nicht auffälligen Fundstücke aus dem englischen Boden vermuten ließen – ganze Würfelsets, mit denen sich die Männer nicht nur die langen Winteraufenthalte im Lager am Fluss vertrieben, sondern wohl auch ihre Strategie austüftelten. Dazu kleine, seltsame Bleiwürfel, die so aber auch in Wikingergräbern in Skandinavien gefunden wurden und sich als Handelsgewichte entpuppten.
Stück für Stück wird deutlicher, dass diese auf Raub versessenen Wikinger gleichzeitig auch Händler waren mit Handelsbeziehungen, die weit über die heutigen Länder Dänemark, Norwegen und Schweden hinausgingen. Gleichzeitig besaßen sie die besten Boote der Zeit, Boote, die ihnen blitzartige Überfälle ermöglichten und für die das heute in Oslo ausgestellte Oseberg-Schiff stellvertretend zeigt, über welche Schiffbaukunst die Wikinger verfügten.
Wer solche Schiffe hatte, beherrschte die Meere. Und die Flüsse. Schiffe, die in den langen Winterlagern – etwa in Torksey – ganz offensichtlich von fachkundigen Handwerkern repariert und wieder reisetauglich gemacht wurden. Davon erzählen hunderte verrosteter Eisenbolzen, die man im einstigen Wikingerlager gefunden hat.
Das eben offensichtlich nicht nur ein Lager von rauen Kriegern war, sondern auch eines, in dem man sein Waffenarsenal sanieren konnte, in dem aber auch Frauen dabei waren. Auch wenn sich deren Rolle nicht eindeutig festmachen lässt. Oder zumindest vermuten lässt. Denn schon beim erzählerischen Sprung nach Norwegen und Schweden wird deutlicher, dass es nicht nur junge Männer einer mutmaßlichen Gesellschaft mit Männerüberschuss waren, die sich an Bord begaben, um auf monatelangen Fahrten in der Ferne reiche Beute zu machen.
Der Glanz des Silbers
Dass Silber dabei eine ganz zentrale Rolle spielte, wird schon an den vielen Dirham-Funden deutlich, die in Wikingergräbern in England genauso gefunden wurden wie im hohen Norden. Das waren Silbermünzen aus dem arabischen Kalifat und man versteht ihre Rolle nicht, wenn man nicht versucht, die Ökonomie der Wikinger zu verstehen, in der es – wie heute immer noch – auch um Reichtum, Macht und Prestige ging. Und das wollte – so wie heute – auch gezeigt werden. Davon erzählen die prächtigsten Gräber, etwa in der berühmten schwedischen Fundstätte Birka, von der schon länger klar war, dass dies einmal der lebendige Knotenpunkt damaliger Handelswege war.
Handelswege, die aber nicht nur in den Westen verweisen, sondern auch in den Osten, über die Ostsee ins Reich der Slawen, wo es die Wikinger waren, die über die großen russischen Flüsse Handelsverbindungen bis zum Schwarzen Meer und nach Konstantinopel aufbauten. Später sollten sie mit einem Heer sogar die Hauptstadt des Byzantinischen Reiches belagern. Selbst alte Chroniken aus dem Norden erzählen von den Reisen der Wikinger in die prächtige Stadt. Und isländische Götterlegenden verorten die Herkunft der nordischen Götter just in dieser Weltgegend am Schwarzen Meer. Möglicherweise eine Zutat späterer Jahrhunderte, als diese Legenden niedergeschrieben wurden, stellt Cat Jarman fest.
Die auch weiß, wie umstritten alle Forschungen zu den Wikingern an Dnjepr und Don nach wie vor sind. Denn damit stellen sie einige Mythen heutiger russischer Geschichtsschreibung in Frage. Denn alle Quellen und Ausgrabungsfunde deuten nun einmal darauf hin, dass es die Wikinger waren, die hier an den Flüssen die ersten großen Handelsniederlassungen und Städte gründeten. Und die letzlich auch beteiligt waren an der Entstehung der ersten staatlichen Gebilde in dieser Region – speziell der Kiewer Rus.
Und selbst das Wort Rus, das heute im Landesnamen von Russland steckt, geht auf die Wikinger zurück. Gerade in islamischen Quellen tauchen sie selbst als Rus auf und die Historiker dürfen rätseln, ob der Begriff tatsächlich nur die Wikinger bezeichnet oder auch andere mit ihnen assimilierte Völkerschaften.
Händler auf den großen Flüssen
Aber alles deutet darauf hin, dass sie über mehrere Jahrhunderte in diesem Teil Osteuropas aktiv waren, dass ganze Familienverbünde aus Skandinavien die Reise über die russischen Flüsse nach Süden wagten, um in den fernen Ländern des Südens Waren einzutauschen, die im hohen Norden heißbegehrt waren. Und dazu gehörten ganz offensichtlich auch die Karneolperlen, die entlang all der Handelsrouten gefunden wurden, aber auch wertvolle Seidenstoffe, die aus dem fernen China kamen.
Auf einmal ist man mittendrin in der Welt des Handels in dieser Zeit und bei einem Volk, das seine kriegerische Überlegenheit an den Flüssen auch dazu nutzte, sichere Handelswege zu schaffen, auf denen Jahr für Jahr Boote aus dem Norden Richtung Süden unterwegs waren und umgekehrt. Flusskönige, wie sie Cat Jarman nennt, weil sie mit ihrer Bootsbaukunst über ein Transportmittel verfügten, das den Booten anderer Völker überlegen war, und mit dem sie Reisen unternehmen konnten, die sich andere Leute gar nicht vorstellen konnten.
Und damit verändert Jarman natürlich den Blick auf die Wikingergesellschaft, zeigt, dass es gewinnbringend ist, die scheinbar unwichtigen Dinge aus den Fundstätten doch einmal genauer unter die Lupe zu nehmen und sich zu fragen, wie sie eigentlich dahin gekommen sind – etwa in das Kriegergrab in Repton.
Am Ende reist die Autorin tatsächlich in das indische Gebiet, wo noch heute Karneolperlen hergestellt werden, auch wenn sich die Landschaft seitdem drastisch verändert hat und nicht wirklich belegbar ist, dass die Wikinger auch bis nach Indien kamen. Aber sie kamen – auch mit einer größeren kriegerische Einheit – sogar bis ans Kaspische Meer, wo ihnen ihre Boote wieder den ersten großen Vorteil brachten. Und auch dort ähneln die Funde den Funden von Raubüberfällen in England oder in Frankenreich.
Migration im Hohen Norden
Und anders als frühere Archäologengenerationen können heutige Forscher/-innen auf Untersuchungsmethoden wie die Isotopen-Analyse oder die DNA-Analyse zurückgreifen, die es ermöglichen, die tatsächliche Herkunft der Menschen in den Gräbern zu ermitteln, ihre Essgewohnheiten und ihre Migration. Ein Wort, das Jarman bewusst benutzt, denn auch die Wikinger-Zeit erzählt von Menschen, die ihre Heimat verließen. Die in anderen Ländern eine neue Heimat fanden.
Auch hier kommen wieder die Frauen ins Bild, die ganz offensichtlich auf verschiedene Weise von der englischen Insel nach Skandinavien und Island gelangten. Und es waren auch nicht nur skandinavische Händler, die auf den Routen der Wikinger unterwegs waren, sondern ganz offensichtlich auch solche aus slawischen Regionen.
Die Wikingerwelt wird auf einmal viel farbenreicher, gewinnt auch ökonomische Konturen und wird zu etwas, was in der Zeit durchaus als Globalisierung erlebt werden konnte. Zumindest für die Menschen, die an diesem Handel teilhaben konnten und nicht selbst Opfer von Raubüberfällen wurden. Raubüberfälle, die aber ebenfalls in ein neues Licht rücken, wenn Cat Jarman vom immensen Hunger der Wikinger nach Silber erzählt und dem Versiegen der Silberquellen im arabischen Raum. Auf einmal scheinen die ungesicherten Klöster Westeuropas geradezu prädestiniert als Orte, wo man sich mit neuem Silber problemlos eindecken konnte.
Silber, das vor allem die Frauen der Wikinger als schwere Reifen um den Hals trugen, das aber auch – etwa auf der Insel Gotland – in dutzenden vergrabenen Horten gefunden wurde. Aber auch in den Gräbern der Krieger, denn ihren Reichtum trugen sie zumeist am Gürtel, so dass auch das von den Archäologen augegraben werden konnte und dabei hilft, das Bild von den Flusskönigen zu ergänzen, die mit ihre Schiffen nicht nur den Norden beherrschten, sondern Handelswege schufen, die Asien über Skandinavien sogar mit England verbanden.
Der Durst nach Luxus
Und es steckt ganz offensichtlich ein noch heute wirksames Motiv dahinter, wie Cat Jarman feststellen kann: „Hinter einem großen Teil der Geschichte steht allem Anschein nach der Durst nach Luxusartikeln und Reichtum: Objekte der Begierde waren sowohl Silber, Seide, Perlen und Schmuck, die nach Norden flossen, als auch Pelze, Bernstein und Elfenbein, die nach Süden und Osten strömten, ganz zu schweigen von den Sklaven, die so dringend gebraucht wurden, um den aufblühenden Städten dabei zu helfen, ihren hohen Lebensstandard aufrechtzuerhalten. Die Wikinger fügten sich ein und wurden – als Unternehmer und politische Akteure oder einfach nur als gewöhnliche Siedler – zum Teil des Gefüges, Teil des kulturellen Mosaiks im Westen und im Osten.“
Dass das für viele Menschen, die dabei versklavt und getötet wurden, zur Tragödie wurde, blendet die Autorin nicht aus. In vielen westeuropäischen Chroniken dominiert das Entsetzen. Aber hätte die Wikingerwelt nur aus Raubzügen bestanden, hätte sich diese Welt nicht über drei Jahrhunderte erhalten können. Die Reise einer kleinen Karneolperle macht eigentlich deutlich, wieviel aus der Zeit der Wikinger noch gar nicht erforscht ist, weil man einfach kein Augenmerk darauf gelegt hat und nur von den wilden Kriegern besessen war, die damals Klöster und Städte überfielen. Dabei gingen die Händler, die mit ihren Booten tausende Kilometer zurücklegten, um an begehrte Luxuswaren zu kommen, regelrecht unter.
Jarmans Buch malt erstmals ein größeres Bild dieser „wilden“ Flusskönige, weil sie das Augenmerk auf die kleinen Fundstücke richtet, die selbst in Wikinger-Austellungen meist völlig unscheinbar aussehen, obwohl sie erstaunliche Geschichten zu erzählen haben.
Cat Jarman „Flusskönige. Die Wikinger auf der Seidenstraße“, Propyläen, Berlin 2024, 28 Euro
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