Wer die bekannten und nicht so bekannten Gestalten aus der Bibel näher kennenlernen will, der findet seit ein paar Jahren die Taschenbuchreihe „Biblische Gestalten“ aus der Evangelischen Verlagsanstalt. Jedes Buch erzählt nicht nur die jeweilige Geschichte aus der Bibel, sondern erzählt auch die Entstehungsgeschichte, die zeitliche Einordnung und die möglichen historischen Ereignisse, in die sich das jeweilige Schicksal einordnet. Nur mit Ester wird das ganz schwierig.
Denn eine jüdische Königin Ester an der Seite des persischen Königs Xerxes I., der in der Bibel zu Ahasveros wird, gab es nie. Auch keine renitente Königin Waschti, die den König verärgerte, weil sie ihm nicht gehorchte. Tatsächlich ist der Name der richtigen Königin sogar überliefert. Sie hieß Amestris.
Und trotzdem gehört das Buch Ester zu den wichtigsten Überlieferungen in der jüdischen Religion, erzählt es doch von einem Trauma, das die in der Diaspora verstreuten jüdischen Gemeinden über Jahrhunderte begleitete. Denn was sich Haman in dieser Geschichte ausdenkt, weil ihn das stolze Verhalten von Esters Ziehvater Mordechai ärgert, war in der Geschichte immer wieder grausame Realität für die Juden – von Pogromen im späten Mittelalter und in der Neuzeit bis hin zur Shoah.
Unter fremden Herrschern
Obwohl der Hintergrund wohl ein anderer ist, wie Kay Weißflog herausarbeitet. Denn vieles deutet darauf hin, dass die Geschichte um Ester nicht in der Zeit der persischen Besetzung Judäas entstand, sondern rund 300 Jahre später, als das Land von griechischem Eroberern beherrscht wurde, den Ptolemäern, die deutlich weniger Rücksicht auf die religiösen Befindlichkeiten der Juden nahmen als zuvor die Perser.
Und gleichzeitig ist das Buch Ester eben auch eine Reflexion von immer neuer Fremdherrschaft, mit der sich die Juden über Jahrhunderte arrangieren mussten. Es steckt also auch eine Sehnsucht nach Selbstbestimmung und Anerkennung darin.
Und vielleicht gibt es deshalb mehrere verschiedene Varianten des Buches Ester, ohne dass sich – wie bei anderen Büchern des Alten Testaments – irgendwie feststellen ließe, welches eigentlich die Ursprungsversion gewesen sein könnte. Und auch die Version, die dann Eingang in die Bibel fand, zeigt noch heute die Spuren mehrerer Nachbearbeitungen und Ergänzungen. Die auch darauf hinweisen, dass es sich hier um eine Kernerzählung des jüdischen Volkes handelt, die noch heute mit einem der wichtigsten jüdischen Feste verbunden ist: dem Purimfest.
Denn mit ihrem Agieren steht Ester in der Tradition der großen jüdischen Heldinnen, die sich um die Freiheit ihres Volkes verdient gemacht haben. Man denke nur an Judith. Auch wenn es Varianten der Ester-Geschichte gibt, die ohne Ester auskommen. Und auch in der biblischen Variante Ester einfach aus der Geschichte verschwindet, nachdem sie König Ahasverus dazu bewegt hat, ein Gegendekret zu Hamans Dekret zur Vernichtung der Juden zu genehmigen.
Die Strenge des Gesetzes
Logisch, dass sich sowohl jüdische als auch christliche Interpreten des Buchs Ester immer wieder schwertaten, die ganze Geschichte zu deuten. Erst recht, was den Ausgang der Geschichte angeht, in der sich die Juden nicht nur gegen ihre Feinde wehren, sondern auch tausende von ihnen töten. Aber auch das ist von Version zu Version völlig unterschiedlich.
Und das in einer Geschichte, die keine realen historischen Ereignisse zum Hintergrund hat. Was natürlich die Frage aufwirft: Was wollten die diversen Erzähler damit eigentlich vermitteln?
Geht es um den Mut einer jungen Frau, die ihr Leben riskiert, wenn sie unaufgefordert vor ihrem König erscheint, um für ihr Volk zu bitten? Geht es eher um Mordachai, der mehrfach seine Königstreue beweist und damit letztlich zum Berater des Königs aufsteigt? Oder geht es um die Wehrhaftigkeit eines Volkes, das sich seiner Waffen zu bedienen weiß, wenn es der König erlaubt?
Das sind Fragen, die durchaus auch in das historische Staatsverständnis der Juden hineinreichen. Aber auch in die durchaus strengen Regeln an persischen Königshöfen. Denn ganz zentral steht ja als Motiv das unverrückbare königliche Gesetz, das selbst Ahasverus nicht aufheben kann. Zumindest in dieser Geschichte nicht.
Wodurch sie noch viel deutlicher zur Parabel wird. Das Gesetz gilt weiter – wird aber ergänzt und schafft damit wieder Spielräume. Aber nicht, weil der Herrscher sich korrigiert (was ja für Herrscher bis heute schier unmöglich zu sein scheint), sondern weil ihm Ester bzw. Mordechai eine Alternative bieten, wie das Schlimmste verhindert werden kann.
Erst dadurch wird das Ereignis zum Schicksals-Tag: Das Ergebnis ist nicht vorweggenommen. Die Juden können ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. Was dann zwar wieder zum Namen des Purimfestes passt, an dem die Ester-Geschichte im Mittelpunkt steht. Denn in diesem Namen stecken die Würfel, mit denen man ja so gern das Schicksal in Verbindung bringt in seiner Unberechenbarkeit.
Der Mut vor dem König
Und vielleicht hat die Geschichte gerade deshalb überdauert und ist zu einem viel gestalteten Motiv in Kunst und Literatur geworden. Oft von den Autoren und Künstlern völlig umgekrempelt, gerade dann, wenn sie das Ganze in ihre Gegenwart übersetzten und die Konflikte ihrer Zeit darin aufscheinen ließen. Denn Ester muss ja keine Königin sein, um sich dennoch für die Gerechtigkeit und ihr Volk einzusetzen. Und Leute wie Haman, die aus ihrem ganz persönlichen Groll Vernichtungsphantasien für ein ganzes Volk entwickeln, gibt es heute immer noch.
Die Sache ist also nicht wirklich ausgestanden. Die Herausforderung bleibt. Und auch die Herausforderung durch die Gestalt Esters, die bis heute Autorinnen dazu animiert, sich über weiblichen Mut und die Vorbildrolle von Frauen Gedanken zu machen. Selbst wenn Ester wohl eher dahin tendiert, eine mythische Persönlichkeit zu sein, die ihrerseits auf die Götterwelten des Zweistromlandes verweist. Ganz ähnlich, wie mit der Moses-Geschichte (die der Ester-Geschichte in Vielem verwandt ist) die ägyptische Welt in die Bibel kommt.
Kay Weißflog arbeitet die Facetten der Geschichte sehr akribisch heraus, analysiert auch die gewählte Dramatik der Handlung und beschäftigt sich mit der Nachwirkung des Buches Ester bis in die Gegenwart. Denn irgendetwas an der Geschichte spricht die Leserinnen und Leser bis heute an – mit allen Ambivalenzen. Und der durchaus sehr persönlichen Frage, ob man sich traut, dem König zu sagen, was da gerade passiert, auch wenn es der König gar nicht hören will. Schon gar nicht von einer Frau.
ay Weißflog „Ester. Eine jüdische Königin rettet ihr Volk“ Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2024, 25 Euro.
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