Eine Sizilianische Erzählung nennt Michael Haas seine Erzählung. Auch wenn die Sizilianer eher nur beiläufig eine Rolle spielen. Die Insel Sizilien und ein Haus am Capo d’Orlando, 60 Kilometer von Messina entfernt, umso mehr. Ein Ort weitab von der Welt. Und erst recht von Deutschland, wo Clemens nicht wirklich darauf hoffen konnte, von seiner Morphin-Sucht genesen zu können. Doch er hat Glück: Mit Luise traf er eine Frau, die bereit war, mit ihm durch dick und dünn zu gehen.

Eigentlich geht es um diese bedingungslose Partnerschaft, die nicht jedem geschenkt wird. Die nicht jeder findet. Die nicht das Normale ist, was man in einer Gesellschaft wie der unseren erlebt, in der alles taxiert wird, eingeordnet nach Preis und Leistung, Status und Nutzen. Auch Partnerschaften. Und eigentlich geht das mit der Arbeit weiter, mit der Gesundheit ebenso.

Denn Clemens hat eigentlich ein ganz anderes Problem: ein Aneurysma im Kopf, das sich jedenfalls nicht ohne mögliche Folgen operieren lässt. Das ihn aber belastet, immer wieder beeinträchtigt, sodass er irgendwann beginnt, sich mit Morphin selbst zu medikamentieren. Wissend um die Folgen.

Aber eigentlich weiß man überhaupt nichts über die Folgen, wenn man sich auf eine Sucht einlässt, stellt er später fest, als er über den schmerzhaften Prozess seiner Loslösung von der Droge schreibt. Sachlich, selbstkritisch. Es ist auch ein Buch darüber, wie wir Süchte unterschätzen. Wir alle. Wie wir im festen Glauben leben, wir hätten die Droge im Griff, wir würden problemlos wieder loskommen vom Stoff.

Auf Entzug

Doch wer es dann wie Clemens erlebt, weiß, dass das von Anfang an Selbstbetrug war. Die Droge verändert den Körper. Sie übernimmt die Kontrolle. Und der Körper gerät außer Rand und Band, wenn die ersten Entzugserscheinungen kommen. Irgendwie weiß Clemens, was auf ihn zukommt, als er sich mit Luise auf den Weg nach Sizilien macht. An einen Ort, möglichst weit weg von diesem hektischen Deutschland, in dem das Morphin lange Zeit Teil seiner Überlebenstrategie war. In einer Welt, in der wir alle irgendwie bemüht sind zu funktionieren und dem auch unser Leben unterordnen. Das, wofür wir eigentlich alle auf der Erde sind.

Was wir meist gar nicht merken, weil uns auch nicht die richtigen Menschen begegnen. Menschen wie Luise, die uns auf einmal klarmachen, dass Menschsein eigentlich da beginnt, wo wir bereit sind, uns ganz und gar auf unsere Nächsten einzulassen. Und auch richtig harte Zeiten auf uns nehmen, weil uns der andere Mensch genau das wert ist. Und genau das tut Luise. Und Clemens merkt ziemlich bald, was sie da für ihn tut und was sie das an Kraft kostet.

Die Abgelegenheit des Hauses an der sizilianischen Küste tut ein übriges hinzu. Genau wie die Anwesenheit von Maria, der das Haus gehört und die den hier gestrandeten Deutschen mit mitfühlendem Ernst betrachtet, und ihres Sohnes Gabriel, der das Haus mit Gesang erfüllen wird, wenn Clemens wieder tagelang an den Entzugserscheinungen leidet und nicht weiß, ob er aus seinen Albträumen wieder aufwachen wird.

Das herrliche Gefühl, zu leben

Es ist eine kleine Gesellschaft – aber exemplarisch dafür, was nicht nur Clemens in seinem Leben bisher immer gefehlt hat: das Vertrauen darauf, dass Menschen sich um einen bemühen, einen nicht fallen lassen, wenn es einem richtig dreckig geht. Und Clemens geht es auch in den Wochen an der Küste des Mittelmeeres immer wieder richtig dreckig.

Er kann nicht vorausahnen, wann ihn Schübe wieder zurückwerfen, regelrecht aus der Bahn geraten lassen. Tagen, in denen er das herrliche Gefühl hat, endlich loszukommen, werden abrupt von Momenten beendet, in denen er jegliche Kontrolle verliert und erst nach Tagen in der Pflege durch Luise wieder zu sich kommt, Boden unter den Füßen gewinnt und immer wieder aufs Neue entdeckt, wie faszinierend es eigentlich ist, überhaupt am Leben zu sein.

Und dann noch mit einer Frau, die für ihn alles ist. Und für die er all das unbedingt durchstehen will.

In mehreren Passagen blendet Clemens dann zurück, denn freilich fragt er sich nun, warum er überhaupt erst dem Morphin so verfallen musste. Was ja nicht einfach mit dem Beschluss beginnt, es jetzt einmal mit Drogen zu versuchen. Denn das tut man ja eigentlich, weil einem das eigene Leben schon vorher fremd vorgekommen ist. Man lebt und arbeitet wie ein Automat, versucht den Erwartungen anderer Leute zu genügen und gesteht sich nicht ein, dass das niemals das Leben gewesen wäre, das man sich selbst ausgesucht hätte.

Wenn man denn fähig gewesen wäre, sich ein Leben auszusuchen. Da dürften sich eine Menge Männer wiedererkennen in diesem alten Clemens, konfrontiert mit ihren ganzen unter Funktionalität, Leistung und Perfektion versteckten Sehnsüchten nach einem Leben, das sie tatsächlich als ihr eigenes begreifen könnten.

Die einen verstecken das hinter Stress und Leistungsdruck, funktionieren, bis die Batterien verbraucht sind. Die anderen greifen zur Droge, um dieses sinnlose Rennen durchzuhalten und ja nicht mit der Frage konfrontiert zu werden, was sie eigentlich wirklich in ihrem Leben erleben wollen. Denn dann könnte sich schnell herausstellen, dass das mit all ihrem sauer verdienten Status nichts zu tun hat. Oft auch nicht mit der Frau an ihre Seite, den Kumpels, den (falschen) Hobbys.

Ein Geschenk

Und auch wenn Clemens weiß, dass er die Sucht nicht wirklich besiegt hat – den man kann die Sucht nicht besiegen – ist er am Ende von Dankbarkeit erfüllt. Er hat das Schlimmste überstanden. Und Luise war die ganze Zeit an seiner Seite und nimmt ihn am Ende auch bei sich auf. So wie man einen Menschen bei sich aufnimmt, den man auch mit seinen Schwächen lieben und akzeptieren kann.

Es klingt so einfach, aber es ist ein gewaltiges Geschenk. Eben darum, weil wir dazu nicht wirklich erzogen wurden. An einigen Stellen deutet Clemens durchaus an, dass seine Verlorenheit in der Welt auch mit seiner Kindheit und Jugend zu tun hatte. Dort werden wir programmiert für das, was auf uns zukommt. Zum Funktionieren gebracht oder zum Aufmerksamsein, zum Siegen oder zum Lieben. Die Paare schließen sich in der Regel aus.

Aber sie bestimmen das Denken in unserer Gesellschaft über Liebe, Partnerschaft, Vertrauen, Nähe und Akzeptanz. So gesehen, ist das auch eine Geschichte gegen den wild rotierenden Zeitgeist, das Unerbittliche und Gnadenlose, das unsere Gesellschaft immer stärker zu prägen scheint. Und eine Liebesgeschichte scheinbar aus einer Welt, die es nicht (mehr) gibt. Und gleichzeitig ist es ein Plädoyer, sich dieser Welt wieder zu erinnern, das Leben zuzulassen wie die Liebe. Und dabei vielleicht auch zutiefst verletzlich zu werden. Was wir natürlich nur können, wenn wir den Menschen, denen wir uns anvertrauen, auch selbst zutiefst vertrauen.

Dass es um mehr ging als um das Loskommen von einer Droge, wird deutlich, wenn Clemens am Ende einen Satz schreibt wie: „Luise half mir, ein Mensch zu sein, und wo ich noch keiner war, ein solcher zu werden.“

Das klingt schon ein bisschen wie Goethe. Aber auch Goethe wusste, wovon er schrieb. Und worum es ging. Und worum sich sein Faust zwei lange Dramen lang herummogelte. Denn Mensch wird man erst, wenn man sich einem anderen Menschen wirklich anvertrauen kann. Und wenn man aufhört, das nagende Gewissen mit Drogen zu stillen.

Die Folge könnte eine völlig andere Gesellschaft sein. Das stimmt. Aber darum geht es eigentlich – nicht nur den Autoren, die solche (Liebes-)Erzählungen schreiben: eine Welt zu schaffen, in der wir uns auf die ganze Verletzlichkeit des Lebens einlassen können. Ohne Fluchtreflexe. Und ohne den Griff in die Kiste mit den Betäubungsmitteln.

Michael Haas „Die verletzliche Schönheit des Lebens“ Engelsdorfer Verlag, Leipzig 2024, 10 Euro.

Empfohlen auf LZ

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar