Auch so kann man die „Wendejahre“ 1989/1990 betrachten: aus der Perspektive von Punks, Autonomen und ein paar kämpferischen jungen Feministinnen, die in der Mainzer Straße in Westberlin eine ganze Häuserreihe besetzt haben und nun denken, sie könnten sich hier ein eigenes, ungestörtes Refugium aufbauen und der ganzen Ausbeutergesellschaft den Stinkefinger zeigen. Bis die Sache eskaliert.

Passiert ist das, was Roland Adelmann in diesem Buch seine Protagonist/-innen erleben lässt, tatsächlich. Die Ereignisse um die Mainzer Straße im November 1990 sind Legende. Da wurden die besetzten Häuser in der Mainzer Straße von 3.000 Beamten gestürmt, die dabei auch auf den Einsatz von Tränengas und Wasserwerfern nicht verzichteten.

Bürgermeister war damals noch Walter Momper (SPD), der hier demonstrieren ließ, dass auch ein SPD-Bürgermeister zu rabiaten Methoden greifen kann, wenn er mal ein Zeichen für „Ordnung ist die erste Bürgerpflicht“ setzen will. Der Polizeieinsatz bedeutete am Ende nicht nur das Ende für das autonome Projekt Mainzer Straße, sondern auch das des regierenden Bürgermeisters Walter Momper.

Fast wünscht man sich auch noch einen Roman, der die ganzen Ereignisse aus der Perspektive des Bürgermeisters zeichnen würde. Es wäre ein Roman über die Ahnungslosigkeit von Politikern, wenn es um die Folgten ihrer Entscheidungen geht. Ein sehr aktuelles Thema, das auch die Frage einschließt: Wie geht man eigentlich mit (vor allem jungen) Menschen um, die die Regeln der von Besitzdenken dominierten Gesellschaft nicht akzeptieren wollen? Oder können?

Geflüchtet aus der Provinz

Den in den besetzten Häusern sind auch allerlei junge Leute aus der (alten) Bundesrepublik gelandet, die mit der dortigen provinziellen Atmosphäre und der bornierten Welt ihrer Eltern nicht zurechtkommen – so wie Malena, die in einem Kapitel zurückkehrt in ihr schwäbisches Heimatkaff, nur um dort wieder die geballte Wut auf ihre Eltern zu erleben, die sie dort nicht loswerden kann. Wohl wissend: Gewalt ist keine Lösung.

Noch so ein Motiv, das sich durch Adelmanns Buch zieht, in dem er Kapitel für Kapitel den Fokus auf andere Protagonisten richtet. Denn eine wirklich verschworene und friedliche Gesellschaft sind auch die Besetzer der Mainzer Straße nicht. Es wabern Gerüchte, Sexismus und Machismus sind unter den männlichen Akteuren latent.

Einer dieser Macho-Sprüche bringt die Frauen aus dem Hinterhaus auf die Palme und mündet in gleich mehrere am Ende fruchtlose Plenen. Und auch der Versuch einiger Leute, den gerade aus dem Knast entlassenen Ede aus seinem Bauwagen zu vertreiben, bleibt erst einmal ergebnislos.

Unter der Oberfläche schwelt immer wieder die Gewalt. Denn wer radikale Ansprüche an sich und die Anderen stellt, der landet irgendwann immer bei den letzten Mitteln. Auch wenn es dann doch eine Nazi-Clique ist, die im Kiez auftaucht und die Konfrontation sucht, die dann tatsächlich zusammengeprügelt wird. Unter ihnen Wolf, der mit der Öffnung der Grenze in den Westen der Stadt kommt und hier Anschluss und Akzeptanz bei rechten Skins sucht. Obwohl er eigentlich kein Schläger ist.

Aber die Rolle Skin war für ihn im Osten der Weg der größtmöglichen Rebellion gewesen. Und der Suche nach Akzeptanz durch seinen Großvater, der im Schrank die alten Nazidevotionalien aufgehoben hat.

Die Jungen und die Alten

So wird das Buch auch eine Suche nach jugendliche Identitäten: Welche Rolle kann man in einer Gesellschaft spielen, in der die Alten – auch mit Polizeigewalt – ihre Vorstellungen davon, wie alle zu funktionieren haben, durchdrücken. Wo findet man einen geschützten Raum, wenn man einfach nicht passen kann und will, weil man z.B. lesbisch, schwul oder queer ist?

Im Grunde hat man beim Lesen immerzu das Gefühl, dass das alles immer noch genauso aktuell ist. Außer dass die Häuser in der Mainzer Straße längst saniert und teuer vermietet sind und Rückzugsorte für junge Leute, die gegen die Forderungen nach Anpassung, Leistungsdruck und piefiger Moral rebellieren, rar geworden sind. Jederzeit bedroht vom nächsten Polizeieinsatz, auch wenn die Häuser schon seit Jahren unsaniert in der Gegend stehen.

Obwohl ein Leben in diesen Häusern gar kein Zuckerschlecken ist. Verstopfte Toiletten werden zum Riesenproblem, die Treppenhäuser sind demoliert, an Waschgelegenheiten fehlt es. Adelmann schildert kein wirklich romantisches Milieu. Eher hält man da zusammen, wo es gemeinsam gegen die Nazis geht. Und natürlich „gegen das System“.

Und das auch in endlosen nächtlichen Debatten bei jeder Menge Alkohol, wenn wieder einmal die Frage geklärt werden soll, was nach der Revolution eigentlich passieren soll. Und die großen Wortführer die Debatte abkürzen mit flapsigen Sprüchen wie: „Das wird sich dann schon finden.“

Was ja bekanntlich das Problem so gut wie aller Revolutionen ist: Man stürzt sich mit Gebrüll auf die „Feinde“. Aber wie die Gesellschaft dann einmal aussehen und funktionieren wird, die danach kommt, darüber macht sich keiner Gedanken. Das steckt mit drin in Adelmanns Buchtitel „Die Revolution der toten Zukunft“.

Die Insel

Dass dann so etwas dabei herauskommen kann, wie es die Bewohner der DDR erlebt haben, die da im Herbst 1989 auf einmal mit klappernden Trabis in den Westen Berlins vordringen, schwingt durchaus mit, wenn die Besetzer der Mainzer Straße auf die seltsamen Ereignisse im Osten schauen. Ereignisse, die sie auf ihrer Insel Westberlin eigentlich gar nicht berühren. Auch nicht in ihren endlosen und irgendwie ziellosen Debatten über das „Schweinesystem“, die meistens enden in der seltsamen Forderung: Schweine sagt man nicht.

Es ist ein System, dem man auf keinen Fall dienen will. Das Geld zum Leben oder für die nächste Runde Bier schnorrt man sich am Görli zusammen. Nicht jede Gestalt in dieser Geschichte wird wirklich greifbar, bekommt eine konkrete Geschichte so wie Daniel, der sich eher durch seinen Vater gedrängt als Kreditberater in einer Bank wiederfindet, aber lieber ein berühmter Dichter namens Huche Joses Jochendorff wäre, der er am Ende auch irgendwie ist, völlig aus der Bahn geworfen. Doch die Erinnerung daran, wie ihm das passieren konnte, fehlt ihm.

Auch bei anderen Punks fällt der Blick auf ihre Elternhäuser, aus denen sie geflohen sind, weil es mit den engen Vorstellungen der Erziehungsberechtigten nicht aushaltbar war. Und weil die ganze Gesellschaft scheinbar nur Malocher- und Spießerlebensläufe bereithielt. Auch das steckt in der „toten Zukunft“: ein von kleinbürgerlichen Geistern durchgeplantes Leben, die am Ende auch den Geist der Politik bestimmen. Und dazu die menschliche Fläzigkeit von Arbeitsamtsbeamten, die ihr Punkte sammeln, indem sie die Leute in sinnlose Kurse stecken, wo die ganze Leere der Beschäftigungstherapien die Menschen zu Zombies macht.

Am Ende sind die Protagonist/-innen aus dieser Geschichte ziemlich desillusioniert. Am Brandenburger Tor wird die deutsche Einheit gefeiert. David Hasselhoff singt sein Freiheitslied und Huche schmeißt seine selbstgedruckten Bücher in die Menge.

Dableiben oder weggehen?

Und Magda, die junge selbstbewusste Polin, in die sich Rodney gewaltig verliebt hat, wird von zwei grauen Männern entführt. Und verschwindet so aus der Geschichte. Es ist wie ein dunkler Gruß aus der Vergangenheit, der ja auch die Polen gerade entkommen waren. Alles existiert weiter nebeneinander.

Der ziellose Freiheitsdrang der jungen Leute, die lieber Abrisshäuser besetzten, als in Papas Fabrik die Paletten zu zählen, junge Glatzen, die die Welt durch die Schlägerbrille betrachten, Gestrandete, aus der Bahn Geworfene, und Männer in grauen Mänteln, die den jeweils Mächtigen mit leerer Miene zu Diensten sind.

Die Kioske nicht zu vergessen, die an den Wegen der jungen Leute liegen und ihre Entscheidungen beeinflussen – dableiben oder weggehen? Oder doch lieber ein neues Sixpack kaufen, um den Tag erträglich zu machen und die quälenden Entscheidungen hinauszuzögern?

Und wie gesagt: Man wundert sich die ganze Zeit, dass dies Ereignisse von vor 34 Jahren sind. Und sich – nicht nur in der autonomen und der Punk-Szene – so gar nichts verändert hat. Im Denken der Ordnungspolitiker und der fleißigen Bürger, die ihre Kinder wie Topfpflanzen erziehen, auch nicht. Immerhin leben wir ja in der Zukunft, die diesen Ereignissen in der Mainzer Straße folgen sollte.

Eine Zukunft, die an allen Ecken zeigt, dass damals keiner darüber nachgedacht hat, was eigentlich mal draus werden sollte. Wenn nicht immer wieder dasselbe in derselben tristen Verpackung.

Die Zeit scheint sich im Kreis zu drehen. Die Revolution hat ihre Kinder gefressen. Und Politik wird gemacht, als gäbe es überhaupt kein Morgen, über das sich nachzudenken lohnte. Auch wenn das Adelmann in seinem Buch nicht thematisiert, in dem man mittendrin ist in den Eeignissen in Westberlin vor 34 Jahren, die dann in einer regelrechten Schlacht um die Mainzer Straße kulminierten.

Und einen Bürgermeister sein Amt kosteten, der keine andere Idee hatte, als die Polizei mit schwerem Gerät zur Räumung zu schicken. Auch das ein Symbol für die Unfähigkeit einer Gesellschaft, auch ihre Widersprüche sehen zu wollen. Von den Abgründen in „guten Kinderstuben“ ganz zu schweigen.

Roland Adelmann „Die Revolution der toten Zukunft“ Edition Outbird, Gera 2024, 16 Euro.

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