Märchen sind die Spezialität von Rainer Hohberg. Er hat schon mehrere Bücher über die Thüringer Sagenwelt veröffentlicht. Aber Thüringen ist nicht nur ein Land der Sagen, sondern auch eins der Märchen. Was man eigentlich seit den großen Märchen- und Sagensammlern Ludwig Bechstein und Karl August Musäus wissen kann – wenn man weiß, wo sie ihre Märchen gesammelt haben.

Denn wie auch die Brüder Grimm sammelten sie vor allem vor ihrer eigenen Haustür – in diesem Fall also in Thüringen. Auch wenn die regionale Herkunft der Märchen in ihren Sammlungen dann scheinbar verschwand. Aber nichts bleibt wirklich verborgen.

Rainer Hohberg hat sich auch intensiv mit der Sammeltätigkeit der berühmten Sammler beschäftigt, die eben nicht – wie man sich das vorstellt – selbst von Haus zu Hütte gingen, um sich die Märchen von alten Leute erzählen zu lassen. Sie waren alle auf Zusender angewiesen, die ihnen Märchen und Sagen aus ihrem Wirkungsfeld in kleinen Dörfern und Städten schickten.

Sodass in vielen Fällen sogar sehr genau lokalisiert werden kann, wo die einzelnen Märchen aus den Sammlungen herstammen. Aber es gibt gar nicht nur die berühmten Märchensammlungen, sondern auch viele versteckte Veröffentlichungen in den Archiven. Denn zu den Zeiten Bechsteins und der Grimms fegte ein regelrechtes Märchensammelfieber durch die bürgerlichen Stuben. Und so entdeckte Rainer Hohberg bei seiner Erkundung des thüringischen Sagenschatzes auch noch viele weitere Märchen, die vom Reichtum dieses Genres erzählen.

Ein Ländchen voller Königreiche

Zwölf davon hat er für diesen von Susanne Spannaus reich bebilderten Band überarbeitet und neu erzählt. Die Motive sind Märchenliebhabern nur zu vertraut – es wimmelt von Königen, Prinzessinnen, die verheiratet werden müssen, Riesen, zaubermächtigen Hunden und natürlich „dummen“ dritten Söhnen, die am Ende dann eben doch die Prinzessin bekommen.

Dass ausgerechnet Thüringen nicht nur an Sagen, sondern auch an Märchen so reich ist, hat seinen Grund – so vermutet Hohberg – in der Tatsache, dass Thüringen jahrhundertelang ein Flickenteppich kleiner Grafschaften, Herzog- und Fürstentümer war. Noch heute wimmelt es von Burgen und Schlössern, mit denen die Thüringer Adligen natürlich versuchten, auch mit ihren viel reicheren und mächtigeren Standesbrüdern mitzuhalten.

Wer da als einfacher Tagelöhner, Hausknecht oder Dienstmagd lebte, sah den gewaltigen Unterschied jeden Tag – die Armut, in der das märchenerzählende Volk selbst lebte, und den unerhörten Glanz der Fürsten, von denen jeder ja in seinem Reich ein König war. Man musste nur den nächsten Wald passieren, und schon war man im nächsten Königreich, stand vor dem nächsten Schloss.

Und das erinnert irgendwie doch an die heutige Zeit. Denn wovon alle Märchen erzählen, ist der Aufstieg aus der Armut zu Glanz und Reichtum. In Erzählungen gegossen, die letztlich die Träume der Menschen zeigten, die bei aller Mühsal im Leben niemals in ein Schloss einziehen würden, nie genug zu essen hatten, keine prächtigen Kleider besaßen und sich auch die schönen Puppen vom Markt nicht leisten konnten. Manche Märchen erinnern an „Hänsel und Gretel“, andere an „Aschenputtel“.

Wenn Fleiß tatsächlich belohnt wird

Und immer geht es auch um ein Versprechen, an das Menschen fest glauben – auch heute noch: dass man nämlich für Fleiß und Mühe und ein gutes Herz eine Belohnung erwarten kann.

Ein Glaube, der ja bekanntlich bis heute immer wieder enttäuscht wird. Denn eher ist die Welt voller Gutsbesitzer, die den starken Gottlieb für sich schuften lassen und dann mit ein paar Groschen abspeisen. Mit ehrlicher Arbeit – das erzählen ja alle diese Märchen – wird man einfach nicht reich.

Also bleibt die Hoffnung, dass man dann wenigstens ein paar wundertätige Dinge findet oder auf gütige alte Frauen im Wald trifft, die eine gute Tat mit einem wertvollen Geschenk vergüten. Oder einen Eisernen Mann im Wald stößt, der einem hilft, die Königstochter zu bekommen.

Und irgendwie beginnt man dabei zu zweifeln, dass es – wie so oft behauptet – die Religion war, die den Menschen Moral beibrachte. Es ist ganz offensichtlich eine Anmaßung, schon immer gewesen.

Denn wer Märchen um Märchen liest, merkt, dass hier die eigentlichen Geschichten erzählt werden, wie Menschen gut werden können, wie sie Mitmenschlichkeit, Ehrlichkeit und Hilfsbereitschaft zeigen können in einer Welt, in der diese scheinbar so wertlosen Gaben immer der eigentliche Schatz waren, der Menschen auch in der Not bestehen ließ.

In vielen Märchen ist gerade das die „Moral von der Geschicht“, dass Herzlosigkeit sich immer selbst bestraft. Und dass Ehrlichkeit und Mitgefühl belohnt werden – mit überreichen Schätzen.

Sei gewitzt, Kind

Und das alles kommt nicht erst durch Rainer Hohbergs Überarbeitung zum Tragen, denn die galt vor allem der altertümlichen Sprache, derer sich die einstigen Märchenerzähler befleißigten. Die Geschichte selbst samt ihrem – guten – Ende aber blieb unversehrt. Und man kann sich wie selbstverständlich mit dem Mädchen Radieschen identifizieren, mit dem „dummen Wirrschopf“, mit Margret oder auch der Räuberbraut, die ganz und gar nicht freiwillig unter die Räuber gefallen ist.

Natürlich bekommt auch sie am Ende den König, der durchaus bemerkt, das er hier ein gewitztes Menschenkind vor sich hat. Danach sucht man ja oft ein Leben lang.

Was eben auch eine andere Motivation vieler Märchen sichtbar macht: dass sie auch an die menschliche Klugheit appellieren, die Findigkeit der Kinder, sich im Leben nicht alles bieten zu lassen und sich was einfallen zu lassen, wenn es mal schwer wird. Denn wer gewitzt ist, besiegt auch die bösen Drachen, Riesen und Zwerge, die es in den Thüringer Bergen überall gegeben haben muss. Vielleicht auch noch immer gibt.

Denn diese alten Träume des Volkes, irgendwann selbst einmal reich und prächtig zu leben, die gibt es ja noch heute. Als hätten diese Träume kein Maß. Oder als würden die Leute die Botschaft von den unersättlichen Schwestern nicht verstehen, die nie genug bekommen können. Während ihre kleine Schwester Radieschen erst alle Unbill erfährt und dann auch noch den Prinzen befreit.

Es steckt eine gehörige Portion Lebensweisheit in den Märchen. Auch in den zwölf, die Hohberg für diesen Band ausgewählt hat. Eine Lebensweisheit, die schlicht nie aufgehört hat, gültig zu sein. Man muss sie nur entdecken wollen beim Lesen und Zuhören.

Rainer Hohberg „Die Räuberbraut. Märchen aus Thüringen“ Tauchaer Verlag, Leipzig 2024, 24 Euro.

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