Die Demokratie ist, wenn es um die große Show geht, nicht besonders gut. Sie macht es ihren Bürgern verdammt schwer, sie emotional zu erleben. Anders als Diktaturen und Autokratien, die ihre Macht auch mächtig inszenieren und den Regierten das grandiose Gefühl geben, Teil einer großen, alle umfassenden Bewegung zu sein. Das ganze Volk eine einzige, jubelnde Gemeinschaft. Damit feiern auch Populisten Triumphe. Und Medien machen eifrig mit, die Demokratie zu Tode zu inszenieren.
So weit geht Lorenz Engi in seinem Essay zwar noch nicht. Aber auch der Rechtsphilosoph aus St. Gallen merkte bei der Arbeit an seinem Essay, dass ein einmal angefangener Gedanke Konsequenzen hat. Die dann – doch irgendwie überraschend – in die Politik führen. „Ursprünglich hatte das Buch keine politische Ausrichtung“, schreibt er im Nachwort. „Es ging um die Auseinandersetzung mit einigen Gegenwartsphänomenen und den Begriff der Seele.“
Eine ent-seelte Welt
Und zwar nicht so sehr um die menschliche Seele und das, was sich Gläubige darunter vorstellen. Sondern um unser Verhältnis zu den Dingen, die wir tun, die uns begegnen und zu denen wir ein emotionales Verhältnis finden, das sich in einem Begriff wie der Beseeltheit niederschlagen kann. Dinge, die eine Seele haben, erleben wir als vom Menschen gemacht und getragen.
Egal, ob das die Seele eines Fußballvereins ist, die Seele einer Partei, einer Zeitung, einer Stadt oder einer anderen, selbstgewählten Gemeinschaft ist. Man hat sofort Bilder vor Augen, wie Menschen sich zusammentun und gemeinsam ihre Kraft, Energie und ihr Herzblut in ein gemeinsames Projekt investieren, es also regelrecht beseelen.
Man merkt mit Engi schon früh, dass es bei dieser Beseeltheit eigentlich um Gemeinschaftserleben geht. Eine Ballung von Gefühlen, die das, was Menschen tun und schaffen, mit Herzlichkeit, Verbundenheit, einem gemeinsamen Ziel auflädt. Im Gegensatz zur kalten Rationalität, die unsere Welt immer mehr beherrscht. Technisch zumeist, von Kalkulation, Bürokratismus und kaltem Finanzdenken dominiert, sodass für das gemeinsame Erleben eigentlich kein Platz mehr ist. Stichworte: Sachzwänge, Alternativlosigkeit.
Und ganz offensichtlich ist es so, dass auch die Demokratie darunter leidet, die nun einmal eine sehr rationale und vernünftige Erfindung ist. Und ursprünglich auch ein Projekt gegen die falsche Glorifizierung von Macht war. Gegen all die Inszenierungen, mit denen sich der Absolutismus bis ins 18. Jahrhundert selbst inszenierte und die Machtverhältnisse als gottgegeben darstellte.
Was ja bekanntlich im 17. und 18. Jahrhundert dazu führte, dass die großen Denker des Westens – von Hobbes bis Rousseau – über Macht und Gesellschaft neu nachdachten und Modelle für ein neues Staatswesen entwickelten, in dem die Idee der (bürgerlichen) Freiheit an oberster Stelle stand. Dieses liberale Staatsmodell, das damals in den USA und in Frankreich erstmals in Verfassungen gegossen wurde, besteht bis heute.
Die Bedrohung des Liberalismus
Und es müsste eigentlich die Bürger zutiefst befriedigen, denn es garantiert ihnen Grundrechte, die eine autoritäre Staatsverfassung nie gewährt hat. Und trotzdem sind eine Menge Bürger der westlichen liberalen Staaten nur zu bereit, dieses Erfolgsmodell infrage zu stellen und Leute an die Macht zu wählen, die den liberalen Staat auszuhöhlen oder auch zu zerstören bereit sind.
Sie tun das mit hoher Emotionalität, reden Feindbilder und Ängste herbei und versuchen ihren Anhängern wieder etwas zu verkaufen, was scheinbar verloren ging, als die liberale Staatsidee Wirklichkeit wurde: das Gefühl einer großen, homogenen Gemeinschaft.
„Der Liberalismus ist immer bedroht“, schreibt Engi. „Denn er befriedigt bestimmte Bedürfnisse nicht, Bedürfnisse nach Spannung, Größe, Bedeutung.“ Nach großem Theater, könnte man sagen. Oder auch nach dem Gefühl, Teil einer großen, über das eigene kleine Leben hinaus reichenden „Bewegung“ zu sein. Also so ungefähr das, was einige Leute als „Geschichte schreiben“ bezeichnen. Und andere atemlos feststellen lässt, es wäre doch herrlich, „dabei gewesen zu sein“.
Ganz großes Theater also. Das Menschen mitreißt, die in ihrem Leben keine Bedeutung, keine Größe mehr ausmachen können. Die liberale Demokratie funktioniert ja anders. Ihre Grundlage ist die Rationalität, das Venrünftige. Genau das, was Aufklärer wie Kant einst gefordert haben. Wohl wissend, dass Menschen nicht gleich sind und eine Gesellschaft tatsächlich aus vielen völlig verschiedenen Gemeinschaften besteht.
Demokratie strengt an
Der Liberalismus erkennt diese Vielfalt an und reduziert den Staat auf einen Garanten dieser Vielfalt. Während der Illiberalismus den Staat zum großen Gleichmacher macht, der jede Abweichung sanktioniert, verfolgt, wegsperrt. An ein paar Stellen gesteht Engi durchaus zu, dass das für manche Menschen eine Erleichterung ist, weil sie sich dann nicht mehr mit der Komplexität einer Gesellschaft beschäftigen müssen, in der die Unterschiede sogar die Regel sind und Politik als austarierter Prozess der Kompromissfindung funktioniert.
Man wählt eigentlich keine „großen Männer“, die dann wieder heroische Taten vollbringen, sondern Konzepte, die dann im politischen Aushandlungsprozess zu Politik werden. Oder auch nicht. Demokratie hält immer auch Frustration bereit. Und sie strengt an, wenn man diesen Streit um die besten Lösungen für alle mitverfolgt. Die Politik ist entzaubert. Und das halten viele Menschen nicht aus. Sie sehnen sich nach etwas, das es in einer durch und durch rationalen Welt der Moderne nicht (mehr) geben kann. Nach ganz großem Drama.
Wobei nicht wirklich nur der Liberalismus und die durch Regeln eingehegte Demokratie schuld daran sind. Sondern auch eine durch und durch technisierte Welt, die zwar jede Menge Wohlstand schafft, das einzelne Leben aber immer banaler erscheinen lässt.
Ein Thema, mit dem sich – so Engi – schon die großen Denker des 19. Jahrhunderts beschäftigten: „Mit der modernen Welt geht der Albtraum eines vollständig banalisierten Lebens einher. Max Webers ‚Fachmenschen ohne Geist‘ oder Nietzsches ‚letzter Mensch‘ sind Bilder, in denen diese Angst Gestalt angenommen hat. Mit der Einebnung des Ganzen, so die Furcht, könne auch das menschliche Leben selbst flach werden.“
Eine Angst, die Missbrauchspotenzial birgt, wie Engi feststellt. Denn der Mensch will nicht banal sein. Er will kein Leben ohne Bedeutung leben. Auch keins ohne Zauber und Faszination in einer Welt ohne Pathos. Oder doch – ohne Seele?
Wenn Politik zu Theater wird
Man kann das verwechseln. Und viele Menschen verwechseln das auch, geben sich dem Pathos hin – und finden doch keinen beseelten Ort. Schon gar keine beseelte Gemeinschaft. Nur: Es scheint kein Halten mehr zu geben. Jeder politische Akt wird aufgeladen, personalisiert, theatralisiert. Mit Recht weist Engi darauf hin, dass sich die mediale Berichterstattung über Politik in den vergangenen Jahren dramatisch gewandelt hat.
Es wird praktisch nicht mehr über Inhalte berichtet, Interessenkonflikte, Aushandlungsprozesse – die rationalen Grundlagen von Politik. Sondern jeder Sprech- und Zeigeakt wird dramatisiert. Denn nur wer Drama erzeugt, bekommt Aufmerksamkeit und Reichweite.
Oder um es einmal so zu formulieren: Die modernen (a-)sozialen Medien sind regelrecht darauf geeicht, Populisten und Angstmachern die ganz große Bühne zu verschaffen. Und damit deren theatralisches Sprechen zum dominierenden Sprechen zu machen. Mitsamt allen apokalyptischen Bildern, die sich damit verbinden. Denn Angst schafft Aufmerksamkeit. Sie bringt die Menschen weg vom rationalen Überlegen. „Die ruhige Rationalität, das vernünftige Überlegen scheinen einen immer schwereren Stand zu haben“, schreibt Engi, „ihre Vertreterinnen und Vertreter drohen zu verstummen.“
Denn wenn mediale Politikdarstellung nur noch aus Pathos, Apokalypse und theatraler Entgrenzung besteht, dann zwingt das auch rationale Politiker, so zu agieren. Und damit so zu werden wie die Leute, die mit diesem Theater die Demokratie angreifen und in Grund und Boden schlechtreden. Muss man da mitmachen? Die Frage stellt ja Engi eigentlich auch.
Und gleichzeitig zeigt er, dass dieses Geschrei immer schon die wahrnehmbare Opposition zu Liberalismus, Moderne und Vernunft war. Er kann dabei auf die (deutsche) Romantik verweisen, aber auch auf die massiven, bis heute spürbare Reaktionen auf die literarische und künstlerische Moderne des frühen 19. Jahrhunderts, beispielhaft gezeichnet mit der braven Schweizer Stadt Zürich, wo die Dadaisten Tür an Tür agierten mit einem gewissen Genossen Lenin.
Und er zitiert nicht grundlos Hitlers Hass auf die Dadaisten im Speziellen und die Moderne im Ganzen. Eine Argumentation, die man heute genauso auch bei Leuten wie Putin wiederfindet in seinen verbalen Attacken gegen das „entartete Europa“.
Utopien und Apokalypsen
Auch das funktioniert bei vielen Menschen, die das Rationale, Unaufgeregte für Schwäche halten. Es wird ihnen ja medial genauso verkauft. Wer wütet, lästert, beleidigt, bekommt die volle mediale Aufmerksamkeit, wirkt agil und stark. Während der, der überlegt und seine Worte wägt, als schwach verkauft wird.
Man merkt schon, dass sich Engis Essay in völlig verschiedene Richtungen öffnet. Dass der Feststellung, dass vielen Menschen inzwischen das Beseelte in der Welt fehlt und sie wohl auch keine Gemeinschaft finden, in der sie sich einbringen können, fast zwangsläufig der Sprung ins Politische folgt, wo eben auch um diese Beseelung gerungen wird.
Und wenn dieser Sinn des Politischen in der Gegenwart nicht zu finden zu sein scheint, dann wird er eben in der Utopie gesucht (wie das bei linken Bewegungen so ungefähr bis 1989 der Fall war) oder in Bildern der Apokalypse (von den Rechten als rhetorische Dauerformel bevorzugt).
Man ahnt an der Stelle, wie fatal dieser Satz von Helmut Schmidt war: „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen.“, der einem heute oft von Diskussionsteilnehmern um die Ohren gehauen wird, die jedes Nachdenken über mögliche Zukünfte geradezu verboten haben wollen. Aber Engi stellt deutlich fest, dass sich linke Politik völlig entkernt, wenn sie keine Visionen mehr hat, keine Vorstellungen über den banalen Zustand der Gesellschaft von heute hinaus, für die es sich lohnt, sich zu engagieren und z.B. in die Politik zu gehen. Man kann es auch so formulieren: Wer keine Visionen hat, sollte nicht in die Politik gegen.
Mit Nüchternheit
Auch wenn Engi am Ende betont: „Es wird auch im Großen und Ganzen nur so gehen: mit Nüchternheit und Rationalität. Gegen die Verwirrungen der Zeit geht es weiterhin darum, den respektvollen Austausch zu suchen und eine Praxis des vernünftigen Umgangs zu üben.“
Schön gesagt.
In philosophischen Tischgesprächen ist das sicher gut umsetzbar. Aber wie schafft man damit wieder Aufmerksamkeit in einer Welt, in der Politik auch und gerade von Medien permanent dramatisiert wird und jeden Tag neue Helden, Schurken und Versager präsentiert werden? In einer Manege, wo für respektvollen Austausch scheinbar kein Platz mehr ist. Die Frage bleibt stehen. Neben der ebenso offenen Frage, ob es tatsächlich der Liberalismus war, der das Grundgefühl in der modernen Demokratie so banal und frustrierend gemacht hat.
Oder war es nicht doch eine Form des Illiberalismus, die sich gern als rationales Markt-Denken verkleidet und Politik tatsächlich nicht nur entseelt (es geht nicht mehr um Gemeinschaft, sondern um „Märkte“), sondern regelrecht entkernt hat.
Ein riesiges Einfallstor für Populisten, die an lauter alte romantische Gefühle appellieren, die den Menschen wieder Pathos versprechen in einer Welt, in der es nur noch um gnadenlose Finanzen geht und eine Poliik, in der die Macht marktkonform diffundiert und nicht mehr greifbar zu sein scheint.
Noch so ein Strang, der über Engis Essay hinausweist.
Lorenz Engi „Die Dramatisierung der Welt. Über Illiberalismus“ Claudius Verlag, München 2024, 22 Euro.
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