Manchmal gibt es Familiengeschichten, die überdauern die Zeiten. Viel zu selten, denn viel zu oft werden die Familienalben einfach entsorgt, wenn ältere Menschen sterben und sich Kinder und Enkel für ihre Herkunft nicht interessieren. Aber in der Familie von Claudia Stosik ist es ein bisschen anders, weil Paul Herold in diese Geschichte gehörte und seine Verwandten die Bilder und Postkarten aufbewahrt haben, auf denen der 1874 in Leipzig Geborene zu sehen ist.

Ein Riese. Zumindest nach dem Verständnis der Zeit, in der die Zurschaustellung von Menschen, die vom gewöhnlichen Mittelmaß abwichen, noch als normal galt. Kleinwüchsige, Großwüchsige, Übergewichtige, Frauen mit Bärten, siamesische Zwillinge …

All diese Menschen wurden im Zirkus, auf Volksfesten, im Varieté ausgestellt bzw. ließen sich ausstellen, weil dieses Sich-Zeigen oft der einzige Weg zu einem relativ sicheren Einkomme war. Und auch Paul Herold wählte diesen Weg. Denn er war für seine Zeit eine echte Ausnahme – 2,20 Meter groß. Damit überragte er praktisch sämtliche Zeitgenossen.

Aber es hatte auch Folgen für den ganz normalen Alltag, denn damit waren ihm praktisch fast alle Berufe verschlossen, musste er in normalen Wohnungen immer den Kopf einziehen, dürfte in Zügen und Omnibussen echte Schwierigkeiten gehabt haben, einen Platz zu finden, und sein Bett nahm er lieber gleich mit auf Reisen. Denn dass er in normalen Hotelbetten schlafen könnte, war ausgeschlossen.

Kochstraße 14, Hinterhaus

Schon 2006 machte sich Hans Hüfner erstmals daran, die Erinnerungen an dieses besondere Mitglied der Familie zu sammeln. Angeregt auch durch die Befürchtung, ein jüngeres Familienmitglied könnte die Gene des berühmten Vorfahren geerbt haben und ebenfalls in Höhen aufschießen, in denen das Leben auch für einen Mann eine ganze Ecke komplizierter wird.

Das ist zwar nicht passiert, stellt Claudia Stosik fest. Aber angeregt durch diese Vorarbeit hat sie weitergeforscht, um möglichst viel über Paul Herold herauszufinden, der bis 1939 in der Kochstraße 14, Hinterhaus, dritte Etage, amtlich registriert war, obwohl er da schon lange nicht mehr in Deutschland lebte. 1921 war er nach Amerika ausgewandert, wo er seine in Deutschland gestartete Karriere als „Riese“ fortsetzte und bis zuletzt hoffte, seine (von ihm geschiedene) Frau könnte nachkommen.

Aber seine Frau Anna, eine aus Wien stammende Pianistin und Sängerin, mit der er während ihrer Ehe erfolgreich auf Tournee in Deutschland war, verließ Leipzig nicht mehr, hat wohl in der Wohnung in der Kochstraße auch nach dem Zweiten Weltkrieg noch gelebt.

Was für einige Verwirrung sorgte, denn in seinen Postkarten und Briefen an die Familie daheim sprach Herold immer wieder von seiner Frau. Vielleicht, weil er wirklich sehnlichst hoffte, dass sie ihm nach Amerika würde folgen können.

Spuren in den Zeitungen der Zeit

Aber was bleibt wirklich im Familiengedächtnis nach fast 100 Jahren? Ein paar Postkarten, ein Brief, ein paar Künstlerfotos. Paul Herold hielt zwar ganz offensichtlich bis zuletzt Kontakt zu seinen Verwandten in Sachsen. Aber mit Beginn seiner Arbeit als Artist (als der er im Leipziger Adressbuch bis zuletzt verzeichnet war) begann auch sein Leben auf Reisen. Und dieses Leben hat Spuren hinterlassen in den Zeitungen.

Das war Claudia Stosiks Chance, ihren fernen Verwandten doch noch irgendwie dingfest zu machen – in Berichten über die Attraktionen, die damalige Journalisten auf Jahrmärkten, in Varietés, auf Brettlbühnen, in Gasthöfen ausmachten. Und das eben auch in Gasthöfen selbst in den kleinsten Orten des Landes, denn die Wirte dort sorgten für ein kulturelles Leben, das heute bei unseren ausgeräumtem ländlichen Regionen gar nicht mehr vorstellbar ist – wenn dort überhaupt noch ein Gasthof überdauert hat.

Die Wirte organisierten immer neue Shows und Gastspiele von Künstlern aller Art. Und um das Publikum zu locken, inserierten sie in den Zeitungen meist recht marktschreierisch, welche Sensationen bei ihnen zu erleben waren. Zum Beispiel der Riese Paul Herold als Kellner. Zeitweilig reiste er mit dem fast gleich großen österreichischen Kollegen Franz Leony durch die Lande. Und die Presseberichte über ihre Auftritte lassen nur vage ahnen, wie ihre Programme abliefen, ob sie überhaupt Programme hatten oder das Publikum durch ihre schiere Größe zum Staunen und Lachen brachten.

Und zum Kauf der Postkarten, auf denen sie posierten und die heute bei Ebay zu finden sind. Glücklicherweise. Denn so wurde für Claudia Stosik diese Welt überhaupt erst greifbar, bekam ihr Vorfahre ein Gesicht und rückten auch die Kollegen ins Bild, die ihn zeitweilig begleiteten.

Neben seiner Frau Anna und dem Österreicher Leony war das z.B. auch der „Liliputaner“ Arthur Leithold, der dann auf dem Foto den gewaltigen Größenunterschied erst richtig deutlich machte. Bis ungefähr 1910 muss er mit Herold auf Reisen gewesen sein. Manchmal bieten die Inserate der Gastwirte in den Zeitungen ein fast lückenloses Bild von Herolds Aufenthalten. Dann aber gibt es auch wieder jahrelange Lücken in den Zeitungsarchiven, die Claudia Stosik überlegen lassen, wo Herold in diesen Jahren gewesen sein könnte. Vielleicht ja tatsächlich im europäischen Ausland, wie es diverse Inserate behaupteten, um den weitgereisten „Riesen“ zu bewerben.

Eine Adresse in Leipzig

Oder haben es einfach die Zeitungen aus den Regionen, in denen er da unterwegs war, nicht ins digitalisierte Zeitungsarchiv geschafft? Fragen bleiben, auch wenn es Claudia Stosik gelingt, das Leben von Paul Herold in den wichtigsten Zügen zu rekonstruieren – bis hin zu seinen Auftritten im Zirkus Barnum und im „Miller Modern Museum“.

Er ging in Amerika also nicht unter, auch wenn das Leben dort ihn durchaus ernüchtert haben muss. Auch im Land der unbegrenzten Möglichkeiten musste man hart um seine Pennys kämpfen und wurde nicht über Nacht zum Millionär. Bis weit in die 1930er Jahre muss er weiter als außergewöhnlicher Artist gearbeitet haben. Und als er 1939 starb, war er für einen übergroßen Menschen in dieser Zeit sogar recht alt geworden.

Aber seine Meldung im Leipziger Adressbuch wurde zeitlebens nicht gekündigt. Er blieb dort bis zuletzt verzeichnet. Was auch von einer gewissen Anhänglichkeit an seine Herkunftsstadt und seine Familie erzählt. Eine Familie, die Claudia Stosik nach den verfügbaren Registereinträgen ebenfalls rekonstruiert und aus dem Familienarchiv bebildert.

Ganz normale Leute, die mit ihrer Hände Arbeit ihren Lebensunterhalt verdienen mussten – Maurer, Werkmeister, Bäckermeister. Paul Herold selbst lernte das Zimmererhandwerk, hat darin aber augenscheinlich nie gearbeitet. Übrigens hat er Auftritte in seiner Heimatstadt Leipzig und auf der Leipziger Kleinmesse wohl auch strikt vermieden.

Aber natürlich fehlt so viel Persönliches von ihm, das auch Claudia Stosik nicht in den Zeitungsarchiven finden konnte. Denn die Presseberichte und Inserate zeigen nur die Schau-Seite, die Sensation. Wirklich interessiert für den übergroßen Mann haben sich die Reporter auf den Jahrmärkten auch nicht wirklich.

Der „Riese“ in Amerika

„Mein Befinden ist immer so la la, man muß sich in allem so durchkämpfen, selbst in dem sogenannten reichen Amerika, wo sie einem erst recht nichts schenken, solange man sich aber einigermaßen gesund fühlt, mag es noch gehen!“, schreibt Herold am 15. Dezember 1927 an die Lieben daheim.

Ein Satz, der ahnen lässt, wie es ihm wirklich ging. Und dass auch das Leben als „Riese“ kein Zuckerschlecken war, sondern wohl hartes Bemühen um jeden Auftritt und passable Einnahmen. Ein Satz, der ihn aber auch vertraut macht, auch in seiner Art, die fernen Briefpartner nicht zu besorgen, aber wenigstens in Umrissen zu erzählen, wie es ihm in der Fremde so erging.

Und so gesehen war seine Künstlerlaufbahn eben auch Glück für die wissbegierigen Enkel und Urenkelinnen: Sein Leben ist wenigstens mit Bildpostkarten und Zeitungsnachrichten noch greifbar. Und damit auch erzählbar, auch wenn Claudia Stosik an manchen Stellen Fragezeichen stehen lassen muss, weil die Archive über einige der Reisejahre von Paul Herold keine Informationen bereithalten.

Über seine Kindheit in Leipzig erst recht nicht, außer dass er bereits als Pubertierender den Erwachsenen über den Kopf wuchs. Sein Vater starb 1903 schon sehr früh. Die Wohnung in der Kochstraße war die Wohnung, welche die verwitwete Mutter 1914 bezogen hatte. Obwohl im Rentenalter, war sie da immer noch als Aufwartefrau tätig. Es sind solche Einzelheiten, die einen Blick in die Welt ermöglichen, in der Paul Herold aufwuchs.

Und gleichzeitig ist es ein Stück Familiengeschichte, das zeigt, wie sehr es sich lohnt, auch dem Schicksal der Urgroßeltern nachzuforschen. Und die Zeiten eben nicht einfach dem Vergessen anheimzugeben. Oder dem nächsten Entsorgungscontainer, in dem viel zu oft verschwindet, was eigentlich das Gedächtnis einer ganzen Familie sein könnte.

Claudia Stosik „Der Riese Paul Herold“ Engelsdorfer Verlag, Leipzig 2024, 16 Euro.

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