Die Frage steht. Aber die Antwort weiß auch Jens Siegert nicht, der Russland sogar besser kennt als viele der heute täglich kommentierenden „Experten“. Seit 1993 lebt und arbeitet er in Moskau, war dort Radiokorrespondent, ab 1999 baute er das Moskauer Büro der Heinrich-Böll-Stiftung auf, das er bis 2015 leitete. Bis 2021 versuchte er im Auftrag der EU, den Austausch zwischen Russland und der EU aufrechtzuerhalten. Aber dann entfesselte Putin den Krieg gegen die Ukraine.
Und seitdem steht auch die Frage, was nun aus Russland wird. Denn damit müssen ja alle europäischen Nachbarn dann umgehen. Wann wird der Krieg enden? Wird Putin das überleben oder bricht dann nach einer möglichen Niederlage in Russland das Chaos aus? Gibt es einen Bürgerkrieg mit der Abspaltung autonomer Regionen? Oder wird sich die Diktatur dann unter einem Nachfolger aus der Kremltruppe noch verschärfen?
Siegert versucht das nicht aus den Vogelzeichen der Gegenwart zu deuten. Denn die trügen immer. Wer sich darauf verlässt, ignoriert die stillen Kräfte der Geschichte, die sich fast immer in überraschender Weise Geltung verschaffen. Damit müssen auch Autokraten rechnen – und tun alles dafür, diese Unwägbarkeiten auszuschalten.
Aber auch dafür, die Köpfe der Bürger für sich zu gewinnen. Das tun sie mit Manipulation, Zensur, Gleichschaltung und Propaganda. Und ganz sicher wäre dieses Buch eine hilfreiche Lektüre für all die deutschen Gläubigen, die die Narrative russischer Propaganda glauben und weiterverbreiten.
Der kurze Frühling der Demokratie
Denn Russland ist nun einmal kein Land wie jedes andere. Es hatte einen kurzen, sehr kurzen Frühling der Demokratie, als die Sowjetunion zerfiel und unter Boris Jelzin der Weg in eine echte europäische Partnerschaft und eine funktionierende Marktwirtschaft möglich schienen. Doch was den osteuropäischen Ländern im einstigen Einflussbereich der Sowjetunion gelang, das ging in Russland am Ende schief. Und das ausgerechnet in jenen zehn Jahren, in denen die junge Demokratie versuchte, Fuß zu fassen.
Denn es waren gleichzeitig die zehn Jahre, in denen Russland das zugemutet wurde, was Naomi Klein 2007 die „Schock-Strategie“ genannt hat – die Einführung einer radikalisierten Wirtschaft nach neoliberalen Grundsätzen, die im Jahr 1999 praktisch mit der Insolvenz Russlands endete.
Philip Ther analysierte diese spezielle Schock-Strategie für Osteuropa 2014 in seinem preisgekrönten Buch „Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa“.
Die Russen erlebten diese Zeit noch viel stärker und nachhaltiger als die Ostdeutschen als eine Zeit des kompletten Umbruchs, des Verlusts der in Sowjetzeiten erlebten kärglichen Sicherheit und letztlich als Zeit der unverschuldeten Armut. Während in dieser Zeit eine Handvoll von Oligarchen zu enormem Reichtum gelangte und munter begann, in der russischen Politik mitzumischen. Und das verbindet sich in den Köpfen der älteren Russen bis heute zu einer zwiespältigen Erfahrung mit der Demokratie als Zeit eines radikalen Niedergangs.
Abhängig von Öl und Gas
Was dann 1999 die Türen öffnete für den grauen Mann aus dem KGB, der sich sofort nach seiner Installation als Premierminister als „starker Mann“ inszenierte und mit dem brutal geführten zweiten Tschetschenienkrieg jenen Nimbus erlangte, der ihn dann als russischer Präsident bis heute begleitet. Und der auch seine Sicht auf die Zustimmung der Russen bestimmt. Denn regelmäßige Umfragen zeigen, dass die Kriege, die Putin führt, die Zustimmungswerte für ihn und seine Politik jedes Mal steigen lassen.
Zum Ruhm Putins im Land trug auch bei, dass sein Aufstieg mit dem Ansteigen der Ölpreise auf dem Weltmarkt zusammenfiel, die in den 1990er Jahren drastisch gefallen waren und den wirtschaftlichen Zusammenbruch Russlands befeuert hatten. Die steigenden Ölpreise verschafften Putin den Spielraum, das Land zu stabilisieren und den Russen wieder das Gefühl zu geben, dass es aufwärts geht, dass ihr Land prosperiert und es dazu vor allem einen „starken Mann“ im Kreml gebraucht hatte.
Davon profitiert Putin bis heute. Denn seine Regierungszeit verbinden die Russen mit wirtschaftlichem Aufschwung und Stabilität. Oder mit Siegerts Worten: „Die heute Fünfzig- oder Sechzigjährigen wurden noch vollständig in der Sowjetunion sozialisiert, fühlten sich durch die Umbrüche der Wendejahre um ihre Chancen, ja um ihr eigentliches Leben gebracht und leiden am meisten unter dem Verlust des Großmachtstatus.“
Und Siegert untersucht natürlich genau, was da eigentlich in Putins Regierungszeit schiefgegangen ist, dass aus der Knospe einer jungen Demokratie am Ende doch wieder eine Autokratie wurde, die im Westen nicht mehr den möglichen Partner, sondern den Feind sieht. Und die mit Kriegen versucht, die einst zur Sowjetunion gehörenden Länder (zurück) zu erobern.
Minutiös zeichnet er nach, wie Wladimir Putin nach seiner kurzen Zwischenzeit als Ministerpräsident (2008 bis 2012) daran ging, den Staat wieder zu einer Autokratie umzubauen, die Medien gleichzuschalten und den NGOs die Arbeit immer schwerer zu machen, bis sie letztlich fast alle zu „ausländischen Agenten” erklärt wurden.
Der russische Staat und die Politik
Wahlen wurden in dieser Zeit systematisch gefälscht, Kandidaten und Parteien der Opposition nicht mehr zugelassen. Auch das gehört zur Erfahrung der heutigen Russen – dass politisches Engagement ruckzuck vor Gericht und im Lager enden konnte. Selbst für Politiker, die sich wie Alexej Nawalny, der sich mit neuen Wegen der Vernetzung und des Straßenwahlkampfes für Putin zum wichtigsten innenpolitischen Gegner entwickelt hatte und auch deshalb am Ende vom putinschen Staat vernichtet wurde, auch wenn wir wohl nie erfahren werden, wie genau er im Lager zu Tode kam.
Auch mit der Ermordung von Boris Nemzow hatte sich das Putinregime einen womöglich ernsthaften Gegner vom Hals geschafft. Und Siegert überlegt aus gutem Grund, ob man sich nun noch darauf verlassen könnte, dass der kurze Frühling der russischen Demokratie nach einem möglichen Ende der Ära Putin noch wirksam sein könnte. Denn ein Problem ist – wie es auch Umfragen bestätigen –, dass die meisten Russen Politik immer mit dem Staat in eins setzen.
Wer in die Politik geht, wird aus dieser Perspektive automatisch zu einem Teil des Staates – und mit dem Staat, das wissen die Russen aus jahrhundertelanger Erfahrung – ist nie gut Kirschenessen. Im Gegenteil: Man tut gut daran, mit dem Staat möglichst nicht in Kontakt zu kommen und sein Leben möglichst so zu führen, dass man den staatlichen Instanzen nicht ins Gehege kommt.
Eine Haltung, die vielen älteren Ostdeutschen durchaus noch vertraut sein dürfte, auch wenn das fast nie thematisiert wird. Denn das ist natürlich komplizierter als die übliche westdeutsche Behauptung, die Ostdeutschen wären nicht reif für die Demokratie, hätten das einfach nicht gelernt. Eine Überheblichkeit, die auch in der Debatte um Dirk Oschmanns Buch „Der Osten, eine westdeutsche Erfindung“ wieder zu erleben war.
Notwendige Debatten
Was natürlich wieder einmal zeigt, dass diese Debatte eigentlich von den Ostdeutschen geführt werden müsste. So wie es in Russland die russischen Bürger sein müssen, die sich mit ihren bitteren Erfahrungen mit dem – autoritären – Staat auseinandersetzen müssen. Eine Auseinandersetzung, die Putins Machtnetzwerk natürlich verhindern möchte.
Stattdessen propagiert es wieder stolze Erinnerungen an die Stalin-Zeit und an die Zeit, als Russland eine (koloniale) Großmacht war. Denn über Jahrhunderte hat es seine Nachbarländer wie Kolonien behandelt. Und von der Sowjetunion sind zumindest Erinnerungen an eine geradezu friedvolle Stagnation geblieben und die an deren Rolle als einzige erst zunehmende Großmacht, die mit den USA „auf Augenhöhe“ agieren konnte.
Putin hat mehrfach betont, wie sehr er diesem Großmachtstatus nachtrauert – und dass es Ziel seiner Politik ist, diesen Status wieder herzustellen. Es geht hie für die Russen auch um grundlegende Fragen der Kränkung und die Trauer um einstige Größe. Verbunden mit der Vorstellung, Russland wäre ein Hort besonderer moralischer Traditionen und müsse unbedingt einen eigenen Weg gehen.
Was eben auch bedeuten kann, dass damit etwas gemeint ist, was aus russischer Perspektive wie Demokratie aussieht. So wie ja auch Putin seinen zentralistisch aufgebauten Staat als „gelenkte Demokratie“ verkaufte.
Aber Siegert erzählt eben auch von den Erfahrungen von Dissidenten, Oppositionellen und NGOs mit der kurzen Zeit, in der die Demokratie für die Russen erlebbar war. Sie sammelten dabei Erfahrungen, die für eine Zeit nach Putin fruchtbar werden könnten. Nur ist diese Gruppe der Engagierten immer recht klein gewesen. Was mit dem traditionell (und berechtigterweise) skeptischen Blick der Russen auf Staat und Politik zu tun hat.
Und dazu kommt, dass die meisten namhaften Bürgerrechtler und Oppositionellen nach dem von Putin angezettelten, großflächigen Überfall auf die Ukraine entweder ins Ausland geflüchtet sind oder langjährige Haftstrafen riskiert haben. Was natürlich die Frage nach sich zieht, wer nach einem möglichen Kollaps des Regimes überhaupt in der Lage wäre, einen Neuanlauf zur Demokratie zu starten.
Wobei just jene kurze Phase Siegert als vielversprechend erscheint, als die Sowjetunion Ende der 1980er Jahre in die Knie ging und durchaus ernstzunehmende Parteien und Politiker daran gingen, eine eigenständige russische Demokratie auf die Beine zu stellen.
Und das waren eben nicht die Dissidenten, die zuvor jahrzehntelang die russische Stimme im Ausland waren, sondern meist recht junge Leute, teilweise direkt aus dem alten Staatsapparat, die das Wagnis auf sich nahmen. Und dabei auch auf eine Menge Unterstützung aus dem Westen rechnen konnten, denn dort hatte man natürlich ein enormes Interesse daran, dass Russland eine moderne Demokratie wird und damit ein berechenbarer Partner nicht nur in Wirtschaftsfragen.
Westliche und östliche Illusionen
Was dann mehrere Illusionen nach sich zog – auf westlicher Seite die Illusion, Russland wäre schon die stabile Demokratie, die man sich gewünscht hatte, und man könne das Verhältnis dadurch zementieren, dass man engste wirtschaftliche Verflechtungen (und Anhängigkeiten) mit dem Land einging. Und auf russischer Seite, der Westen wäre eigentlich nur daran interessiert, Russland auf Dauer zu schwächen und in die Bedeutungslosigkeit zu schicken.
Eine Sichtweise, die zentraler Bestandteil der Putinschen Propaganda geworden ist, die sich nach Putins Rückkehr ins Präsidentenamt 2012 deutlich verschärfte. Samt der geradezu traditionellen Vorstellung vom verweichlichten Westen, dem Russland seine (neue und alte) Kultur der Stärke entgegensetzen müsse.
Aus so einer Haltung heraus sind Kriege Stärke und sind demokratische Staaten schwach. Nur dass diese Haltung eben tatsächlich immer wieder in Kriege mündet, während die tatsächlichen wirtschaftlichen Probleme des Riesenreiches auch unter Putin nie gelöst wurden. Das Land ist bis heute auf den Export seiner fossilen Bodenschätze angewiesen. Der Wohlstand hängt auf das Engste mit Öl- und Gaspreis zusammen.
Während die Demokratie im Angesicht einer scheinbar unerschütterlichen Autokratie wie ein Wagnis aussieht. Was es natürlich auch ist: Demokratie lebt nun einmal von der Unterstützung durch ihre Bürger. Und sie stirbt, wenn diese Bürger sich lieber autokratischen Strukturen unterwerfen. Was Siegert auch noch zu einem anderen Fazit bringt: „Der Weg zurück in eine demokratische Zukunft wird nur über den Umweg einer neuen, intensiven Beschäftigung mit der Vergangenheit möglich sein.“
Denn wenn die Regierungszeit eines Stalin oder diverser russischer Zaren weiterhin glorifiziert wird, bekommt ein neues, demokratisches Russland, das tatsächlich Abschied nimmt von einem autokratisch gedachten Staat, keine Chance. Und so betrachtet ist weiterhin alles offen, was aus Russland nach Putin werden könnte. Für Russland scheinen völlig unterschiedliche Wege möglich – von einer noch strengeren Diktatur bis zu einem neuen Versuch mit gelebter Demokratie. Nur wird das niemand im Westen entscheiden, sondern die Russen ganz allein.
Jens Siegert „Wohin treibt Russland?“ Hirzel Verlag, Stuttgart 2024, 24 Euro.
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