Die Verbrechen der Nationalsozialisten sind auch in der ostdeutschen Erinnerungskultur relativ gut sichtbar. Wesentlich weniger Beachtung finden die stalinistischen Verbrechen der Nachkriegszeit. Obwohl auch sie zur (weiteren) Traumatisierung vieler Ostdeutscher beigetragen haben. Eins dieses Kapitel verbindet sich mit der Gedenk- und Begegnungsstätte Leistikowstraße in Potsdam, wo auch hunderte Jugendliche nach 1945 inhaftiert, verhört und zu unmenschlichen Strafen verurteilt wurden.

Etliche von ihnen wurden zum Tode verurteilt und erschossen, viele weitere zu langjährigen Haftstrafen, die mit den Vergehen, die den jungen Leuten zur Last gelegt wurden, nichts zu tun hatten. Mit diesem Buch tauchen die Leser ein in die Praxis des einst berüchtigten Geheimdienstes NKWD, der in der sowjetischen Besatzungszone und auch noch in den ersten Jahren der DDR schaltete und waltete, wie es ihm beliebte.

Ohne rechtliche Grundlage, ganz so, wie er auch in Stalins Sowjetunion operierte und „Kriminelle“ produzierte, wie sie sich der Herrscher im Kreml wünschte.

Denn das stalinsche System hatte mit Recht und Gesetz nichts zu tun. Dafür umso mehr mit der Erzeugung von Angst und permanenter Unsicherheit. Dass es freilich nicht nur Erwachsene waren, die tatsächlich mit dem Regime der Besatzer in Konflikt gerieten, erzählt dieses Buch. Es basiert auf Zeitzeugengesprächen mit einigen der hochbetagten Überlebenden.

Gespräche, die 2008 und 2009 zum Glück auch mit der Kamera aufgezeichnet wurden, sodass das Material Grit und Niklas Poppe zur Verfügung stand, als sie nun daran gingen, dieses besonders bedrückende Kapitel der ostdeutschen Geschichte in ein Buch zu fassen.

Wenn Willkür Recht spricht

Eine Geschichte, die ja bekanntlich an finsteren Kapiteln wirklich nicht arm war, gerade was die frühen Jahre noch zu Stalins Lebzeiten betraf. Egal, ob es dabei um die Verschleppungen ins Zwangsarbeitslager Workuta geht, um das Gefangenenlager Mühlberg, um das „Gelbe Elend“ in Bautzen oder das Frauenzuchthaus Hoheneck. Um nur einige der Strafanstalten zu nennen, in die Menschen aus Ostdeutschland meist mit willkürlichen und völlig überzogenen Strafmaßen verbracht wurden.

Und das vor dem Hintergrund einer Justiz, die mit dem gebräuchlichen Begriff „Rechtsstaat“ nichts zu tun hatte. Erst recht in der riesigen Grauzone, in der die Geheimdienste operierten und hinter verschlossenen Mauern ihre eigene Justiz praktizierten. Und genau mit der machten die in diesem Buch gewürdigten jungen Leute Bekanntschaft. Wenn man das so nennen kann.

Sie wurden mitten aus ihrem Alltag gerissen, verschwanden einfach in diversen Gefängnissen und Haftanstalten im Osten. Viele lernten die vom NKWD betriebene Haftanstalt in der Leistikowstraße in Potsdam kennen, die schon in ihrer Ausstattung so angelegt war, die hier Gefangenen körperlich zu zermürben mit lichtlosen Zellen, nassen Zellen im Keller, nackten Steinbänken, auf denen trotzdem tagsüber nicht gelegen werden durfte, und erschreckenden sanitären Bedingungen.

All das schildern die in diesem Buch Versammelten anschaulich. Oder genauer: Grit und Niklas Poppe schildern es anhand der Aufzeichnungen bildhaft und genau, sodass man sich in das Elend der Betroffenen einfühlen kann, die vor ihrer Verschleppung einfach nur Schüler gewesen waren, Lehrlinge, Studenten. Junge Leute, die nach dem Krieg schlicht versuchten, ein normales Leben zu führen und sich eine Zukunft aufzubauen. Manche waren Teenager, gerade erst 15, 16 Jahre alt, als sie aus ihren Elternhäusern abgeholt wurden.

Absurde Anklagen, absurde Strafmaße

Und nur in den – auf Russisch verfassten – Protokollen des NKWD wurde aus ihrem Freundes- und Bekanntenkreis so etwas wie die „Gruppe Teschner“ oder die „Meuselwitzer Gruppe“. Man sieht die Handschrift, wie ein Geheimdienst im stalinistischen Machtapparat operierte und sich die Spione und „feindlichen Gruppen“ zusammenbastelte nach Gutdünken – und dann jeden Jungen einkassierte, der irgendwie nur in loser Beziehung zu den anfangs Verhafteten stand.

Eine Konstruktion von „feindlicher Tätigkeit“, wie sie auch das ostdeutsche Pendant MfS dann jahrzehntelang praktizieren sollte, auch wenn nach Stalins Tod 1953 das Ausmaß der Todesstrafen und der Verurteilungen zu 20, 25 Jahren Lagerhaft endlich endete.

Die Willkür endete freilich nicht. Das ist längst in vielen ausführlichen Dokumentationen niedergeschrieben. Viele der einst im GULAG Inhaftierten, der in ostdeutsche Zuchthäuser und Straflager Eingesperrten haben ihre Biografien und Erinnerungen aufgeschrieben. Einige der jungen Leute, die in diesem Buch vorkommen ebenfalls, sodass auch auf dieses Material zurückgegriffen werden konnte.

Denn natürlich haben sich Grit Poppe und Niklas Poppe sehr spät diesem Thema gewidmet. Obwohl die Porträtierten damals – zwischen 1945 und 1951 – noch jung waren, sind die meisten inzwischen verstorben, einige in gesegnetem Alter, manche kurz vor Fertigstellung des Buches.

Umso wertvoller war das Videomaterial, in dem sie detailliert ihre damalige Leidensgeschichte erzählten: von den willkürlichen Verhaftungen über den brutalen Umgang mit ihnen in den Verhören, über die Verschickung – überwiegend in völlig ungenügender Sommerkleidung – nach Brest, Moskau und dann in den hohen Norden in die Straflager über dem Polarkreis – bis zu den ersten Nachrichten, dass Stalin tot war und eine Rückkehr nach Deutschland endlich greifbar wurde.

Überleben in der Hölle

Erzählen konnten ja nur jene, die diese Hölle überstanden hatten. Manchmal tauchen in ihren Geschichten auch jene Wegbegleiter auf, die es nicht überlebt haben. Aber jede Geschichte ist so intensiv, dass man nachfühlen kann, wie niederdrückend das alles war, wie schäbig und unmenschlich. Angefangen mit der ganz bewusst schlechten Nahrungsversorgung bis hin zu den über Monate in Haft zerlumpten Kleidern, in denen die jungen Männer und Frauen verhaftet worden waren.

Jede Geschichte wühlt das Entsetzen auf ihre Weise neu auf, aber auch die Ungewissheit der jungen Menschen, die in nächtelangen Verhören gequält wurden, aber bis zuletzt nicht wussten, was ihre Peiniger mit ihnen vorhatten.

Selbst der letzte Schauprozess – völlig ohne Öffentlichkeit und Verteidigung – mutete wie ein makabres Schauspiel an, so makaber, dass selbst die verkündeten Urteile nicht glaubwürdig schienen. Dass sie aber ernst gemeint waren, merkten die jungen Leute dann, wenn sie in ungeheizte Züge gepfercht und nach Osten verschickt wurden.

Oft waren es dann Begegnungen mit anderen Gefangen aus den verschiedenen Nationalitäten des sowjetischen Riesenreiches, die ebenso zu völlig willkürlichen Strafmaßen verurteilt worden waren, die ihnen den Glauben wiedergaben, dass es auch im sowjetischen Lagersystem noch Menschlichkeit gibt.

Nur einige der Porträtierten kehrten nach der Haft in sowjetischen Lagern in den Osten bzw. die DDR zurück. Einige flüchteten in den Westen, nachdem sie bei dem Versuch, im Osten doch wieder Fuß zu fassen und ihre Ausbildung zu Ende zu bringen, neuerlich erschreckende Begegnungen nun mit dem ostdeutschen Geheimdienst hatten.

In der DDR war all das nie ein Thema, denn den Entlassenen wurde eine strenge Schweigepflicht zu allem, was sie erlebt hatten, auferlegt. Rehabilitiert wurden sie alle erst nach 1990. Erst dann wurde ihnen attestiert, dass sämtliche Anklagen unbegründet waren, sie sich nichts zuschulden haben kommen lassen. Doch die Erlebnisse haben sie alle gezeichnet. Und gerade die Intensität der Erzählungen zeigt, wie lebendig die Erinnerung an all die Schikanen und Erniedrigungen auch bei den Hochbetagten noch immer war.

Eine Leerstelle in der Erinnerung

Und Grit und Niklas Poppe äußern auch deutlich ihre Verwunderung darüber, dass die Geschichte der stalinistischen Verfolgung bis heute kein Schulstoff ist – damit auch von der Öffentlichkeit nicht erinnert wird, nicht in Ost und nicht in West. Die Erinnerungsarbeit leisten vor allem jene Vereine, welche die einstigen Orte stalinistischer Gewalt als Erinnerungsorte bewahren und betreuen.

Orte, an denen man ein Gespür dafür bekommen kann, wie menschenverachtend autoritäre Systeme mit all jenen umgehen, die sie ohne Begründung zu Feinden erklärt.

Ganz offensichtlich muss auch dieses Kapitel in der deutschen Nachkriegsgeschichte aufgearbeitet werden und seinen Platz in der Erinnerungskultur finden.

Denn worüber nicht gesprochen wird, das bleibt als Abdruck erhalten, pflanzt sich als Trauma über Generationen hin und sorgt eben auch dafür, dass Menschen von dieser Angst ihrer Großeltern und Eltern immer wieder heimgesucht werden können – und doch wieder autoritären Bewegungen auf den Leim gehen.

Was das NKWD-System immer zum Ziel hatte, war die menschliche Würde, der Stolz und das Selbstbewusstsein der willkürlich Verhafteten – sie sollten zerbrochen, zermürbt und zerstört werden.

Und das kurz nach dem Ende eines ebenso rabiaten Systems, dessen Brutalität die jungen Leute gerade erst zu begreifen begonnen hatten. Und so schreiben Grit Poppe und Niklas Poppe im Nachwort: „In diesem Band geht es vor allem darum, diesem Schmerz, den persönlichen Erfahrungen und Wahrnehmungen nachzuspüren und darzustellen, was junge Menschen erleben mussten, die nach dem Untergang der nationalsozialistischen Terrorherrschaft innerhalb kurzer Zeit in die Mühlen des stalinistischen Terrors gerieten.“

Ihre Schicksale werden hier noch einmal lebendig. Und auch jene menschliche Widerstandskraft, die ihnen half, auch die schlimmsten Tage und Jahre zu überstehen.

Grit Poppe, Niklas Poppe „Verschleppt, verbannt, verschwunden. Deutsche Kriegskinder in Stalins Lagern und Gefängnissen“ Mitteldeutscher Verlag, Halle 2024, 28 Euro.

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