Manchmal kommt es wieder, was eigentlich schon verschwunden schien. Sie kennen das. Die Geister, die man rief. Wird man eben nicht so schnell wieder los. Welche Geister? Die einer teils verklärten, teilweise aber auch ursächlich erklärbaren DDR-Erinnerung, romantisierender Nostalgie – ausgedrückt in symbolisch-rituellem Trotz, wie bspw. jugendliche Simson-Treffen in Kleinstädten oder das Wiederbeleben von Veranstaltungsformaten („Mach mit – mach’s nach – mach’s besser“)
Die Jugend auf dem Lande. Da scheint sich eine unangenehm-bedrohliche Melange zusammenzubrauen. DDR-Nostalgie und zunehmende Affinität für rechtspopulistische Haltungen. Da ich mich von Berufs wegen recht viel unter Jugendlichen bewege, kommen Fragen, auf die es keine leichten Antworten zu geben scheint.
Die Jugendlichen selbst an meiner Schule stellen mir solche Fragen: Wie war das eigentlich früher in der DDR? Wie sahen die Einschränkungen der Freiheit konkret aus? Inwiefern war das anders als heute? Wie allgegenwärtig war die Stasi?
In den Sommerferien kam ich endlich dazu, das umfangreiche und kontrovers diskutierte Geschichtswerk der in England lebenden Historikerin und Journalistin Katja Hoyer (*1985) „Diesseits der Mauer – Eine neue Geschichte der DDR 1949–1990“ konzentriert zu lesen. Möglicherweise haben Sie, liebe Leserinnen und Leser, es schon vor mir getan, schließlich erschien ja Hoyers DDR-Geschichte bereits im Mai 2023.
Und dann wissen Sie auch, dass diese Historiografie als besonderes Kennzeichen eine Mixtur aus Alltagserfahrung und politischer Systemskizze darstellt; den Versuch einer differenzierten Geschichtsbetrachtung zu wagen, ohne das so oft vorangestellte Dogma der totalen Delegitimierung der DDR.
Den antifaschistischen Anspruch der Gründungszeit mit dem realsozialistischen Alltag, der sich in der Tat oft freiheitseinschränkend und damit kreativ-beschränkend zeigte, bis hin zur Anwendung faschistoider Methoden. Aber differenzierte Betrachtung bedeutet eben auch, nicht der vereinfachenden Gleichsetzung totalitärer Herrschaftsformen das Wort zu reden. Ein Wort, was die bürgerliche, sich liberal feiernde Echokammer nur allzu gern hört. Und auch nur akzeptiert.
Denkt man genauer darüber nach, dann mussten die „neuen“ Geschichten zur Geschichte Hoyers – „Diesseits der Mauer“ – fast zwangsläufig zur Polarisierung der Rezensionsurteile führen, lag doch der Verdacht nahe, dass es sich bei Hoyer um „problematische“ (Wolfgang Templin, Ex-DDR-Bürgerrechtler) oder „untaugliche“ (Ilko-Sascha Kowalczuk) Relativierungsversuche ostdeutscher Geschichte zwischen 1949 und 1990 handeln musste. Zur gleichen Zeit kam nun auch noch Dirk Oschmanns „Osten“ als „Erfindung des Westens“ auf den Büchermarkt.
Das nach (westlich) apologetischer Deutung und Lesart natürlich das Bild des „undankbaren Jammer-Ossis“ kultivierte und somit die aktuelle Debatte über die Ungleichmäßigkeit der innerdeutschen Entwicklung seit den Transformationsjahren (Oschmann geht in der Ursachenforschung betrachtend sogar bis ins Jahr 1933 zurück.) weiter angeheizt wurde. Und so war sich das bürgerliche Feuilleton der selbsternannten Freiheits- und Demokratiewächter unisono einig, dass es sich bei Hoyer letztlich um „Geschichtsrevisionismus“ (Jens Gieseke) handelt.
Doch soll an dieser Stelle kein Rezensionsversuch der Hoyer-Geschichtsschreibung stehen (zu Oschmann hatte ich mich an früherer Stelle schon geäußert), sondern auf die Kritik am „Mauerwerk“ der deutsch-englischen Historikerin eingegangen werden. Stellvertretend soll dafür der Aufsatz von Jens Gieseke vom Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam stehen, der hier punktuell betrachtet wird.
Giesekes Ausführungen scheinen von einigen Missverständnissen gezeichnet zu sein, von denen an dieser Stelle ein Beispiel herausgegriffen werden soll. Dieses Beispiel zeigt die Problematik der Kritik an der Hoyerschen DDR-Geschichtsdarstellung auf bemerkenswerte Weise. Zunächst sei an dieser Stelle Hoyer selbst zitiert, ein Gedanke, der wiederum Gieseke irritiert …
„Als die Deutsche Demokratische Republik am 3. Oktober 1990 buchstäblich über Nacht verschwand, verlor sie das Recht, ihre eigene Geschichte zu schreiben. Stattdessen war sie Geschichte geworden. Und Geschichte wird von Siegern geschrieben – auch die der DDR.“ (S. 20)
Das stellt Gieseke vor ein Rätsel. „Dieser Start irritiert auf doppelte Weise: ‚Die DDR‘ habe das Recht verloren, ihre ‚eigene Geschichte‘ zu schreiben? Es ist zunächst nicht ganz klar, wen oder was Hoyer damit meint: Den geschichtsschreibenden Staat und seine Parteiführung? Die – nun ehemaligen – DDR-Historiker:innen?
Den Teil der DDR-Bevölkerung, der – damals oder im Rückblick – gern dort lebte? Und wer sind die geschichtsschreibenden ‚Sieger‘ nach dem Ende der DDR – die Bundesrepublik mit ihren Enquetekommissionen und Gedenkstunden, die Historiker:innen, die über sie geforscht haben, die früheren Oppositionellen, die Nachgeborenen, die das Glück hatten, nicht in der Diktatur erwachsen zu werden?“ 1
Ist das so schwer zu verstehen, dass es nicht nur ein historiografisches, sondern auch mentalitätsgeschichtliches Problem – mit weitreichenden Folgen – ist, dass es bis dato keine herrschaftsunabhängige Darstellung der DDR-Geschichte gab? Dass „Sieger Geschichte schreiben“ gehört ja nicht nur in die verstaubten Gedankengänge der Bewohner von Absurdistan, sondern zu den apologetischen Intentionen einer ganzen Reihe von Historikern. Zu allen Zeiten. Oder nicht?
Und es gehört zur Wahrheit eben auch dazu, dass „Siegergeschichte“ geschrieben oft bedeutete, die eigenen Systemvorzüge tendenziell eher zu überhöhen und dem Unterlegenen im Systemwettbewerb auch per se die moralische Legitimation abzusprechen. Übrigens tut Hoyer das auch und verweist auf eindeutig und leider sehr früh vorhandene demokratische „Legitimationsdefizite“, noch bevor es zur Gründung des Staates DDR im Oktober 1949 kam.
Gestatten Sie mir abschließend noch eine kurze Bemerkung hinsichtlich der aktuellen Debatte zu den demokratiebedrohenden Tendenzen, die sich kürzlich in den sächsisch-thüringischen Landtagswahlen zeigten. Der Sieg der überlegenen freiheitlichen Demokratie – errungen durch die sich emanzipierenden Bürger der DDR – wird sich dann als nachhaltig erweisen, wenn die Fehler der politischen Führung von Ulbricht bis Honecker vermieden werden. Auch in der DDR gab es den Anspruch, mit dem „sozialistischen Arbeiter- und Bauernstaat“ auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen.
Aber ganz zuletzt scheiterte dieses System an wirtschaftlicher Schwäche und ideologischer Verblendung. Kein Vergleich zum weltkriegsentfesselnden Naziregime ist da angebracht. Unsere heutige Freiheit müssen wir wie in „Fausts Vision“ immer wieder neu erringen, ohne dass wir wie der Goethesche Held am Ende unsere letzten Sümpfe austrocknen. Besinnung und Reflexion statt Beschwörungsformeln für Demokratie und Freiheit sind da angesagter denn je.
Katja Hoyer Diesseits der Mauer – eine neue Geschichte der DDR 1949-90, Hoffmann und Campe, Hamburg 2023, 28 Euro.
„Überm Schreibtisch links: Eine Kritik der Kritik“ erschien erstmals im am 30.08.2024 fertiggestellten ePaper LZ 128 der LEIPZIGER ZEITUNG.
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1 Zitiert nach https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-135972
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