Dass unsere Politik derzeit so aussieht, wie sie aussieht, hat nun einmal auch damit zu tun, wie die Bürger Politik wahrnehmen. Wie politisches Geschehen also in den Medien dargestellt wird, welche die Leute so konsumieren. Dass Politik in vielen Medien regelrecht zum Zirkus geworden ist, hat natürlich auch mit dem Zwang, Aufmerksamkeit und Reichweite zu generieren, zu tun. Aber wie weit muss sich da einer verbiegen, wenn er gar – undercover – zur Recherche bei „Russia today“ abgeordnet wird?

So wie Leo Puschkin in diesem Roman des 1982 noch in der Sowjetunion geborenen Nikita Afanasjew, der schon den 1990er Jahren nach Deutschland emigrierte und unter anderem als Journalist für „Zeit“ und „Geo“ arbeitet. Er kennt das Metier also, in das er seinen Romanhelden mehr oder weniger geraten lässt, denn so richtig scharf auf Karriere ist Leo gar nicht. Eigentlich hat er im Keller des „Berliner Lokalanzeigers“ angefangen, um die Kommentare der Zeitung zu betreuen.

Aber dann entdeckte ihn irgendwie der Chef und beförderte ihn hinauf in die Redaktion, wo er sich irgendwie ganz wohlfühlte – bis seine Chefin Suse Fink ihn eines Tages beiseite nimmt und ihm nahe legt, er solle doch endlich mal eine richtig große Geschichte bringen.

So beginnen die wilden Western in deutschen Redaktionen. Dass das aber eigentlich eher eine Nötigung ist, ahnt Leo, weiß sich aber nicht wirklich zu wehren. Auch nicht, als ihm Suse Fink tatsächlich vorschlägt, er möge sich doch als Mitarbeiter bei „Russia Today“ bewerben und dann eine Aufmachergeschichte über RT schreiben. Möglichst skandalträchtig.

Muss man noch erwähnen, dass der „Lokalanzeiger“ schon seit Jahren rote Zahlen produziert?

Rote Zahlen machen Feuer unterm Hintern. Da greifen Zeitungen zu allerlei Tricks, mit denen sie glauben, die Reichweite irgendwie puschen zu können. Irgendeine reißerische Geschichte, die die Leute von den Socken haut und wieder Geld in die Kasse spült. Einige Zeitungen im Land denken genauso.

Zur Wahrheit gehört: Davon leben können nur die, die wirklich keine Skrupel mehr kennen, ihre Storys derart zu überdrehen, dass die am Ende mit der manchmal scheinbar nur langweiligen Wirklichkeit nichts mehr zu tun haben. Wie die Geschichte eines Berliner Mädchens aus der russischen Community, die irgendwie von Ausländern … Das muss man nicht noch einmal erzählen. Jeder hat von der Geschichte gehört, an der nichts, aber auch gar nichts stimmte.

Aber sind solche Geschichten erst einmal in der Welt, machen sie Stimmung und lassen sich nicht wieder einfangen. Die schräge Wendung im Afanasjews Geschichte ist: Nachdem Leo undercover bei „Russia Today“ angeheuert hat, meint auch hier der Chef, er müsse sich ja bewähren und eine schöne reißerische Geschichte liefern. So eine …

Genau so entstehen solche Geschichten. Und wenn etwas wohl genauso stimmt, wie es Afanasjew schildert, dann ist es dieser Druck in solchen Medien, genau solche Geschichten rauszuhauen. Und Stimmung zu anzuheizen. Im Fall „Russia Today“ ja bekanntlich mit politischem Hintergrund. Nicht grundlos hat das kremlnahe Medium in Deutschland seit geraumer Weile Sendeverbot.

Geschichten zur Stimmungsmache

Aber Afanasjew hat die Handlung nicht ins Jahr 2024 gelegt, sondern ins Jahr 2016. Denn wenn sein Held schon einmal dabei ist, wilde Geschichten aufzutun und damit irgendwie seine Arbeit zu rechtfertigen, dann öffnen sich auch Türen in die ganze doppelbödige Welt von Tricks und Täuschungen, Propaganda und Trollarmeen. Mit Mascha, die er am ersten Tag schon beim Klinkenputzen erlebt hat, bringt er die Lida-Geschichte ins Rollen. Was natürlich nicht genügt. Eine „Enthüllungsgeschichte“ über den Lokalanzeiger möchte er bitte auch noch schreiben. Er muss ja irgendwie beweisen, dass er nun treu zu RT steht.

Man versteht nur zu gut, dass Leo irgendwann anfängt, nur noch wie blöde zu saufen – und zwar hochprozentig. Bis sein Freund Vitali ihn – mal wieder – erlöst und rettet und irgendwie in die Bresche springt. Denn wenn die Leute in Moskau lauter Skandalgeschichten über die dekadenten Zustände in Berlin haben wollen, dann kann er ihnen die jederzeit besorgen.

Was ja kein Problem ist, wenn man sich den ganzen Scheiß einfach ausdenkt. Oder – wie eine ganze Tastenbande im Büro von RT jeden Tag – strunznormale Nachrichten einfach aufbrezelt und verdreht, bis daraus eine Story wird, die nur einer hat. Und die dann die Empörung in den Netzen richtig in die Höhe jazzt.

Davon leben reihenweise lauter „alternative“ Medien. Dort weiß man, wie man alles, wirklich alles skandalisiert und den Leuten das Gefühl gibt, dass die ganze Welt durchdreht und voller finsterer Machenschaften ist.

So gesehen: Es ist ein Buch genau zum richtigen Zeitpunkt. Als wäre es für das Jahr 2024 geschrieben. Und wer als Journalist arbeitet und mit tränendem Auge sieht, wie andere Leute auf diese Weise die Welt in ein Irrenhaus verwandeln, der dürfte mit Leo zittern und zagen. Denn so eine Arbeit verstößt nicht nur gegen den simpelsten Anspruch eines Journalisten, sie erzwingt den Verzicht auf jeden menschlichen Anstand. Was ja ein gewisser Günter Wallraff schon 1977 mit seinem Buch „Der Aufmacher“ über eine damals weidlich bekannte Boulevardzeitung durchexerzierte.

Raus mit Kaviar

Nur schreit Leo nicht. Lieber säuft er sich die Hucke voll. Und schaut nur verdattert zu, wie ihn bei einem befohlenen Ausflug nach Moskau Margarita Simonjan, die mächtige Chefin von RT, kurzerhand zum Chef der deutschen Außenstelle ernennt und ihn zum abendlichen Treffen mit dem russischen Präsidenten beordert. Ein Termin, dem er schon mal mit einer ordentlichen Portion Alkohol entflieht. Um dann im Anschluss auch sein Abenteuer bei RT zu beenden.

Was bliebe noch? Die ganze Story nun für den „Lokalanzeiger“ zu schreiben. Doch da will man davon nichts hören. Also schreibt er das Ganze als Roman. Wenn es denn schon mal herausmuss. Glaubt ja eh keiner (außer die armen Seelen, die sich tatsächlich mal in diesen Sumpf der Skandal-Medien verirrt haben und daran kaputtgegangen sind oder noch rechtzeitig fliehen konnten). Nur weiß auch Leo, dass er mit dem Gastspiel bei „Russia Today“ für alle seriösen Medien verbrannt ist. Mit so einer Station im Lebenslauf findet man nirgendwo mehr Vertrauen.

Was tun?

Zu Glück gibt es ja seinen Freund Vitali, der ihm nicht nur die Erzeugung der ganzen dreckigen Geschichten abnimmt, die sich im russischen Fernsehen so gut verkaufen lassen. Er überlässt ihm auch das zuvor gemeinsame Geschäft mit dem gestreckten Kaviar, den Vitali recht erfolgreich als „Bärluga“ in Berlin vertickert hat. Mit einer geheimen Zutat ist das gepanschte Zeug augenscheinlich sogar lecker und erfreut die Genießer.

Nur, dass sich auch solche Geschäftsideen nur zu schnell verbreiten. Faken und Nachmachen ist augenscheinlich das funktionierende Grundrezept der heutigen Wirtschaft. Mit den Leuten, die das Zeug billig auf den Markt werfen, will Leo aber nichts zu tun haben, sondern entwickelt lieber wieder eine eigene Marke, mit der er sich von den Panschern und Nachahmern absetzt.

Und da ist man dann bei „Sputnik“ angelangt, der auch das schöne Cover ziert. Und mit Vitalis Freundin Maxi hat Leo auch noch eine Verkäuferin, die seinen Kunstkaviar an gut zahlende Restaurants zu verkaufen versteht.

Ein mögliches Ende

So endet das Abenteuer vielleicht sogar noch gut für Leo. Auch wenn die Geschichte mit dem Journalismus für ihn genauso schnell und unverhofft vorbei ist, wie sie begonnen hat.

Und die richtig große Geschichte wäre er wohl auch nirgends losgeworden. Denn die vom Kreml gesteuerten Trollfabriken spielten schon 2016 eine Rolle und sorgten wahrscheinlich mit dafür, dass Donald Trump seine erste Wahl gewann. Welche Rolle sie bei den Präsidentschaftswahlen 2024 spielten, werden wir vielleicht noch zu lesen bekommen. Leo ist dieser Welt der Trolle im Fall Lida schon begegnet. Aber er weiß ja, dass es für jede Geschichte immer mehrere mögliche Enden gibt. Vielleicht ist die, die Afanasjew bietet, nicht mal die richtige.

Aber welche Geschichte ist schon richtig in einer Welt, in der Trolle und „alternative“ Medien der Wirklichkeit immer neue und wildere Varianten der Ereignisse überstülpen. Bis niemand mehr weiß, was wirklich passiert ist. Und die Menschen überzeugt sind, dass diese wilden Medien etwas wissen und entdeckt haben, was der langweilige „Mainstream“-Journalismus einfach ignoriert hat. Oder unter der Decke hält, weil’s keiner wissen soll …

Ein kleiner Schritt nur. Und Leo macht ja alle diese kleinen Schritte. Und schon ist die Welt zu einem Ort des permanenten Misstrauens geworden. Wer will da noch anständig bleiben? Oder: Was bedeutet dann noch Anstand, wenn höheren Orts ordentliche Kracher erwartet werden und die Verantwortlichen dort sowieso schon wissen, welchen Dreh diese Kracher haben sollen?

Gründe genug, sich lieber einen anzusaufen. Oder möglichst schnell das Weite zu suchen, wenn einem auch noch ein Vorstellungsgespräch beim russischen Präsidenten droht.

Nikita Afanasjew „Sputnik“ Voland & Quist, Berlin 2024, 24 Euro.

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