Es gibt viele Antworten auf die Frage, warum heute so vieles auf einmal schiefläuft – und so viele Menschen so wütend sind, auf andere, auf den Staat, die Grünen, sich selbst. Überall wird angeprangert, mit dem Finger gezeigt, verurteilt. Nur: Dabei hört einfach nicht auf, dass eine Menge Menschen – wahrscheinlich sogar die Mehrheit – das blöde Gefühl haben, dass alle Finger auf sie selbst zeigen. Sie sind schuld. An allem. Zeit, mal ein komisches Gefühl unter die Lupe zu nehmen.
13 Autorinnen und Autoren haben sich für diesen Sammelband zusammengetan, um ihre Gedanken in Essays zu fassen zu diesem „Selbst schuld!“ Was ja beim ersten Hinhören ganz witzig klingt und scheinbar mit der Fähigkeit zu tun haben könnte, über sich selbst und sein eigenes Ungeschick zu lachen. Wie früher mal. Als Andere da noch mitlachen konnten. Aber das ist lange her.
Etwas ganz Zentrales hat sich nämlich verändert: Wir sind allesamt einsamer geworden in einer Gesellschaft, die die Ellenbogen ausgefahren hat und den alten – einst wirklich hilfreichen Spruch „Jeder ist seines Glückes Schmied“ aus einer Selbstermunterung in einen permanenten Vorwurf verwandelt hat. Denn wer sein Glück nicht geschmiedet bekommt, auch wenn er sich noch so sehr anstrengt, ist dann trotzdem – selbst schuld.
Oder mit den deutlichen Worten aus dem Vorwort: „Im 21. Jahrhundert ist der Kult um das Individuum auf einem vorläufigen Höhepunkt angelangt, der zwar Freiheit verspricht, vor allem aber lähmende Gewissensbisse und hysterisches Fingerzeigen auf die angebliche Schuld anderer erzeugt. Wer frei ist, hat auch sein Elend frei gewählt, ist immer selbst verantwortlich.“
Die Schuld der Armut
Die 13 Beiträge in diesem Buch beleuchten das Problem aus unterschiedlichen Perspektiven. Denn es erfasst im Grunde alle Bereiche. Und es hat mit der Zähmung des Einzelnen zu tun. Mit einem falschen, völlig verdrehten Freiheitsbegriff sowieso. Denn dass der einzelne Mensch gar nicht frei sein kann, wissen eigentlich alle. Freiheit hat immer Voraussetzungen, die alle gemeinsam erschaffen. Niemand ist in der Lage, sich selbst aus sich selbst zu schaffen. Aber wie es schon Orwell in „Farm der Tiere“ so schön beschrieb: Alle sind gleich. Aber manche sind gleicher.
Die einen haben die Privilegien, den Reichtum und damit alle Möglichkeiten. Die anderen werden durch Armut und Chancenlosigkeit beschränkt. Und das ganze Lied tönt jeden Tag aus unseren Medien, wie Sarah-Lee Heinrich in ihrem Essay feststellt, in dem sie an den Tag erinnert, als sie endlich – als junge Studentin – Abschied vom Jobcenter nehmen konnte: „In den Medien sehen wir, was mit uns passiert, wenn wir uns nicht anstrengen. Uns werden Armutspornos vorgesetzt. Dreckige, unsympathische, hässliche Menschen versaufen ihr Geld, das eigentlich für Windeln da ist, oder kaufen sich davon Zigaretten.
Wir lernen, Menschen in Armut zu hassen, diese Sozialschmarotzer, die auf der faulen Haut liegen, während wir uns so sehr anstrengen. Wir lernen, dass wir niemals diese Menschen sein dürfen.“
Nur dass diese Menschen, die in Armut leben, 20 Prozent unserer Gesellschaft ausmachen. Und die meisten davon arbeiten – und bleiben trotzdem arm. Und auch und gerade sie haben das Mantra der Sklaventreiber verinnerlicht: nicht faul sein zu dürfen. Zu gehorchen. Nicht aufzumucken.
Und das mit dem Gefühl permanenter Schuld, die sie niemals abtragen können, egal wie sehr sie sich anstrengen. „Wir strengen uns an, und trotzdem geht es uns schlecht. Das muss an uns liegen, wir verdienen es nicht anders. Wir sind für uns selbst verantwortlich. Und arbeiten also noch härter.“
Die Gangart verschärft sich ja gerade wieder. Die Reichen halten den Armen die Schuld vor die Nase, denn die sind es ja, die dem Staat auf der Tasche liegen und schmarotzen, oder?
Die Schuld der Generationen
Es darf geflucht werden. Es gibt genug in diesem Buch, was wütend machen darf. Denn auch die Großerzählungen, die in den Medien gefeiert werden, feiern nur die schöne Welt der Reichen und Satten. Worauf Matthias Ubl hinweist, der sich die Frage stellt, warum nirgendwo mehr über die alte und nur zu berechtigte Klassenfrage diskutiert wird, also die systemischen Gründe dafür, dass es in einem Großteil unserer Gesellschaft ungerecht und schäbig zugeht.
Stattdessen werden alle Nase lang neue Generationen-Geschichten lanciert, die den Leuten einreden, es seien eigentlich die Generationen, die miteinander im Zoff liegen – die Babyoomer etwa mit der Generation Z. Besonders seit Kurzem, seit irgendwelche Interpreten der Klimadiskussion mit den Fingern auf die Boomer zeigen und tönen: Die sind schuld am Klimawandel. Die ganz allein.
Obwohl alle Zahlen zeigen, dass der Riss durch alle Generationen geht – hier die Schlechtbezahlten, die sich gar nicht alles leisten können und schon deshalb weniger zur Klimabelastung beitragen, dort die Reichen, deren CO₂-Fußabdruck um ein Mehrfaches größer ausfällt. Die ganze Generationen-Debatte begann übrigens nicht zufällig mitten in der neoliberalen Phase mit Florian Illies’ „Generation Golf“, ein Buch, in dem er das Leben der wohlhabenden Jugend in den 1980er Jahren quasi zum Generationenerlebnis hochgeschrieben hat.
Wer es so nicht erlebt hat, gehört wohl nicht dazu. Selbst schuld.
Nur ist die Erfahrung, in Armut aufzuwachsen und dann eine ganze Jugend lang immer nur Hindernisse vorzufinden, verächtlich gemacht und ausgegrenzt zu werden, nun einmal die Erfahrung, die Millionen junger Leute teilen. Aber es wirkt noch heftiger, wie Ann-Kristin Tlusty in ihrem Essay „Faulheit“ feststellt.
Denn die Verächtlichmachung und Bestrafungsmentalität gegenüber den „Faulen da unten“ hat Folgen für die ganze Gesellschaft. Auch für die Fleißigen, für alle, die sich irgendwie abstrampeln, höher zu kommen. Oder wenigstens irgendwie oben zu bleiben. Der Hass auf die Armen verkuppelt sich mit der Angst vor dem Abstieg.
„In ständiger Abstiegsangst lebend, bleibt ihm nur, sich immer weiter abzurackern: Völlig unklar, ob man zu den wenigen ‚Auserwählten‘ gehört, die ihren sozialen Status erhalten oder verbessern können – man macht weiter in der Hoffnung, dass es sich irgendwie gelohnt haben wird. Wer sich bemüht und nicht rastet, wird sich zumindest nicht schuldig gemacht haben.“
Die Schuld der Einsamen
Man ahnt schon, wie dieses Gefühl Politik macht. Und die Getriebenen dazu bringt, auf andere Getriebene mit Verachtung herabzuschauen. Und das alles nur, um die längst irre laufende Maschine Kapitalismus am Laufen zu halten, obwohl alle wissen, dass das völlig entgrenzte Wachstum unsere Lebensgrundlagen zerstört, die Ressourcen der Erde verschlingt und das Klima aufheizt, bis die Erde zur Hölle wird.
Aber nichts ist stärker als die Angst, diesem besinnungslosen Jagen nach dem Immermehr eine Absage zu erteilen. Seyda Kurt schildert es am Beispiel der ewig hungrigen Social-Media-Maschine, von der sie mit Hilfe einer App versucht loszukommen – und dabei genug Zeit hat darüber nachzugrübeln, wie sehr die Algorithmen darauf programmiert sind, uns jederzeit für die Maschine verfügbar zu machen, uns festzunageln und einzusperren in einen Kokon der Einsamkeit.
Denn vor dem kleinen Bildschirm sind wir alle allein, geben unsere persönlichsten Daten preis, machen amerikanische IT-Konzerne reich – und verlieren die Souveränität im eigenen Leben. Und sind dabei auch noch mit doppelten Schuldgefühlen geplagt.
Denn längst haben die großen Konzerne gelernt, wie man in den Menschen Gefühle der Schuld erzeugen kann. Selbst da, wo genau diese Konzerne reihenweise versagen – beim Klima zum Beispiel. Denn eigentlich muss Sebastian Friedrich nicht viel erklären zu den Systemfehlern, die dazu führen, dass wir trotz immer neuer Klimakonferenzen nicht aus der fossilen Verbrennung der Welt herauskommen.
Und jeder Einzelne weiß, dass er sich noch so anstrengen kann, seinen CO₂-Fußabdruck zu minimieren – am großen Verheizen der Welt ändert das nichts. Denn gerade die mächtigen Konzerne, die mit dem Verkauf fossiler Energie bis heute Milliardengewinne einfahren, denken gar nicht daran, ihr lukratives Geschäftsmodell aufzugeben.
Sie halten die Gesellschaften der Erde regelrecht in Geiselhaft. Und sie haben perfekte Strategien entwickelt, dem Einzelnen einzureden, er sei mit seinem Konsumverhalten ganz allein Schuld daran, dass das Klima kollabiert. Friedrich dröselt das geradezu systematisch auf, mit Konsumschuld, Existenzschuld, Systemschuld. Wobei er beim Thema Systemschuld ans Eingemachte geht.
Denn wer nicht begreift, wie ein auf billiger Energie aufgebautes System der „Steigerung der Profitrate“ dazu führt, dass genau die Zerstörung unserer Welt passiert, die wir gerade erleben, der bleibt ratlos zurück. Voller Schuldgefühle, dass er selbst nicht das Richtige getan hat.
Und meist auch noch von reichen Snobs mit dem Finger an die Wand genagelt, wenn er dann auch noch auf die Straße (oder ins Museum) geht und protestiert. Auf einmal stehen nicht die fossilen Konzerne und ihre Aktionäre am Pranger, sondern die schrecklichen Klimaaktivisten.
Die Schuld der Machtlosen
Selber schuld. In diesem Fall vielleicht ja. Im positiven Sinn diesmal. Denn sie legen sich ja mit den reichsten und mächtigsten Einflussgruppen in dieser Welt an. Und werden auch so behandelt. Auch von gutbezahlten Richtern, die nie im Leben das Rückgrat haben würden, den jungen Protestierern zuzugestehen: Ihr habt recht. Denn auf der Straße sitzen ist strafbar, die Welt zu verfeuern irgendwie nicht.
Aber die Sache mit der Justiz bzw. der nicht gewährten Gerechtigkeit greifen auch Maximilian Pichl in einem Essay zum „Recht“ und Özge Inan auf, wenn sie sich ausgiebig mit dem Thema „Sexualisierte Gewalt“ beschäftigt und den langen, langen Weg, bis in der Rechtsprechung tatsächlich endlich der Grundsatz verschriftlicht wurde: „Nein heißt nein“. Denn viel zu lange wurden Vergewaltiger immer wieder freigesprochen, auch mit der fatalen Begründung, ihr Opfer habe sich nicht deutlich genug gewehrt.
Es sind diese aufmerksamen Essays, die einen Blick in die Tiefen unserer Gesellschaft werfen, die zeigen, wie allgegenwärtig das Schuldmachen ist. Frauen können darüber nur zu berechtigt ein richtig wütendes Lied singen. Im Grunde ist ihr ganzes Dasein mit solchen impliziten Vorwürfen gespickt, die sie immerfort für lauter Dinge verantwortlich und damit letztlich schuldig machen, wenn sie nicht so laufen, wie sich das (mächtige) Männer so vorstellen – vom Kinderkriegen über die Kindererziehung bis hin zum Schönsein an der Seite der stolzen Besitzer.
Die Schuld der Dienstboten
Dass es bis in die Gesundheit hineinführt, macht Anke Stelling in ihrem Essay deutlich. Denn unsere Welt des schönen Scheins ist auch noch gespickt mit lauter Erwartungsbildern an Schönheit und Perfektion. Davon leben ganze Frauenmagazine – gedruckt und gesendet. Nur dass die Zuschauerinnen, die die schlankgehungerten Ideale nie erreichen, hinterher mit noch mehr Schuldgefühlen da sitzen. Nun auch noch schuldig, dass sie dem verkauften Schönheitsideal nicht genügen. Oder den doch so modernen Erwartungen an die Business-Frau, die nebenbei auch noch Kinder und Famile managt.
Dass es letztlich immer um Macht geht, das macht dann Dietmar Dath im abschließenden Essay deutlich. Denn wenn man Menschen mit Gewissensbissen und Schuldzuweisungen überhäuft, die eigentlich schon flitzen wie die Ratten im Laufrad, sichert man die eigene Macht.
Denn wer rennt und flitzt und dabei immer ein schlechtes Gewissen hat, der hinterfragt nicht, wer davon letztlich profitiert und wer den fetten Rahm abschöpft, den man selber nicht bekommt, weil man sich selbst stets als ungenügend empfindet. Das muss doch „der Markt“ sein, der heute alles regelt, oder?
Ein Markt, auf den wir uns gehorsamst zu Markte tragen. Voller Schuldgefühle, nicht genug zu leisten. Ungenügend, setzen! Das Bildungssystem, das diese Haltung zum eigenen „Versagen“ vermittelt, wird zumindest kurz gestreift.
Wäre ja auch gelacht, wenn das Bildungssystem nicht so organisiert wäre, dass es dem großen Moloch Markt nicht genau die schuldigen Dienstboten produzierte, die den Moloch nicht hinterfragen. Oder gar wagen, rebellisch und faul zu sein. Und sich zu wehren gegen die permanente Zumutung, schuld sein zu sollen an allem, was schiefläuft.
Ann-Kristin Tlusty, Wolfgang M. Schmitt (Hrsg.) Selber schuld! Hanser Verlag, München 2024, 22 Euro.
Keine Kommentare bisher