Dieses Buch ist eine Entdeckung. Eine spรคte und spektakulรคre. Auch wenn heute kaum jemand noch den Schriftsteller Erwin Ebermayer kennt. Dabei war er einst einer der erfolgreichsten Autoren, bekannt mit Klaus Mann, Franz Werfel, Stefan Zweig. Als Zweijรคhriger ist er mit seinem damals noch viel berรผhmteren Vater nach Leipzig gekommen, dem ans Reichsgericht berufenen Richter Ludwig Ebermayer. Es ist jener Vater, der in diesem Erinnerungsbuch stets im Hintergrund zu ahnen ist.
Und der dann in der Weimarer Republik auch noch zum Oberreichsanwalt aufsteigen sollte, der zum Hauptanklรคger gegen die Mittรคter des Kapp-Putsches und des Rathenau-Mordes werden sollte.
Aber spektakulรคr ist dieses Buch auch, weil es erst 2004 vom Mรผnchner Literaturwissenschaftler Dirk Heiรerer im Nachlass des 1970 verstorbenen Erich Ebermayer auf Schloss Kalbitz in der Oberpfalz gefunden wurde. Geschrieben hatte es Ebermayer wohl in den Jahren 1969/1970. Es beginnt mit seiner Zeit als zehnjรคhriger Thomasschรผler in Leipzig und endet mit dem Jahr 1929, als der Zsolnay-Verlag ihm den Vertrag รผber seinen Roman โKampf um Odilienbergโ schickte, mit dem er sich dann endgรผltig als Schriftstelle etablierte.
Zumindest erst einmal so bis 1933, als auch seine Bรผcher auf den Scheiterhaufen der Bรผcherverbrennung durch die Nazis landeten. Aber um diese Zeit geht es in dem hier vorliegenden Buch nicht mehr, dessen Faszination eben darin liegt, dass es Ebermayers Kindheit, Jugend und frรผhen Jahre als Anwalt, Journalist und Autor in Leipzig โ und ein bisschen auch in Berlin, Mรผnchen und Heidelberg โ beschreibt.
Wobei das โein bisschenโ zu Berlin und Mรผnchen bei Ebermayer bedeutet: Er war ausgerechnet zu den Zeiten dort, als dort die Revolution brodelte. In Mรผnchen erlebte er die von Kurt Eisner ausgerufene Republik, als er dort ein einlegte und gerade dann, wenn sich auf den Straรen etwas zusammenbraute, unbedingt hinausmusste, um zu sehen, was da geschah. Und dasselbe in Berlin zum Jahreswechsel 1918/1919 zum Spartakusaufstand.
Das Leipzig der 1920er Jahre
Er erlebte wichtige Persรถnlichkeiten dieser Zeit persรถnlich. Gustav Stresemann machte ihm das Angebot, ins Auรenministerium zu kommen. Mit Ernst Toller, der in der Mรผnchner Rรคterepublik eine zentrale Rolle spielte, stand er in regem Briefwechsel.
Und die Arbeit seines Vaters machte ihm mehr als deutlich, dass der Hauptfehler der Revolution war, dass sie immer nur eine halbe geblieben war, den alten Beamtenapparat nie wirklich antastete und vor allem die Gefahr von rechts nicht wirklich ernst war. Obwohl schon die frรผhen Jahre der Weimarer Republik zeigten, dass die extremen Rechten mit allen Mitteln die junge Republik und ihre Vertreter bekรคmpften.
Aber gerade fรผr Leipziger Leser ist dieses Erinnerungsbuch auch eine Zeitreise in ein Leipzig, wie es bis 1933 noch zu erleben war โ mit einer รผberwรคltigenden Bรผhnenlandschaft und eindrucksvollen Kรผnstlern, die der junge Ebermayer mit seiner Begeisterung fรผr Oper und Schauspiel kennenlernte. Mit einem konservativen Bรผrgertum โ insbesondere den standesbewussten Mitgliedern des Reichstages -, das auf Prรคsentation enormen Wert legte. Die Wohnung der Ebermayers in der Hillerstraรe wurde regelmรครig zum Ort opulenter Empfรคnge.
Aber der Autor erinnert sich eben auch an seine Lehrer und Mitschรผler an der Thomasschule, an seine ersten Freundschaften und Lieben, ein Thema, das auch Ende der 1960er Jahre noch heikel war, denn nach wie vor wurde Homosexualitรคt kriminalisiert. Viele juristische Debatten, die das Strafrecht modernisieren sollten, scheiterten in der Weimarer Republik an immer neuen Regierungswechseln und am Ende mit der Machtรผbernahme durch die Nationalsozialisten.
Und Ebermayers Vater war in diese Modernisierung des Strafrechts als Mitglied der Kommission zur Strafrechtsreform beteiligt. Einige seiner Vorstellungen waren noch zutiefst konservativ โ aber gerade seinem Sohn gegenรผber pflegte eine zustimmende, zurรผckhaltende Position, die den Sohn in seinem Anderssein akzeptierte und ihn in seinen Vorstellungen vom Leben bestรคrkte.
Ein hochaktuelles Thema
Man merkt immer wieder, welche Hochachtung Erich Ebermayer diesem offenen und verstรคndnisvollen Vater gegenรผber hatte. Was ihn ganz bestimmt darin stรคrkte, eben nicht die ihm offen stehenden Wege in die Justiz oder den Staatsapparat zu gehen, sondern sich ein freieres Leben als Autor zu wรคhlen. Seine Arbeit als Feuilleton-Autor ist bis heute noch nicht aufgearbeitet, stellt Steffi Bรถttger fest, die das Buch herausgegeben hat und mit hunderten Fuรnoten angereichert hat, die Begriffe und Persรถnlichkeiten der Zeit nรคher beleuchten.
Denn nicht nur die beiden groรen Leipziger Tageszeitungen โLeipziger Tageblattโ / โNeue Leipziger Zeitungโ und โLeipziger Neueste Nachrichtenโ verรถffentlichte seine Feuilletons und Reiseberichte โ auch bei anderen groรen deutschen Zeitungen waren Ebermayers Texte gefragt, weil er ganz offensichtlich druckreif schreiben konnte.
Was ja die Voraussetzung auch fรผr einen literarischen Erfolg ist. Und mit Novellen feierte er schon in der Leipziger Zeit erste Erfolge, begeisterte junge Verleger โ und erlebte dann mehrmals mit, wie die jungen, vielversprechenden Verlage in Insolvenz gingen. Und dass seine Bรผcher Erfolg hatten, lag eben auch daran, dass er darin immer wieder die Dramen der anderen Liebe beschrieb und damit auch einer Bewegung eine Stimme gab, die sich in der Weimarer Republik zunehmend um Aufmerksamkeit, Akzeptanz und Entkriminalisierung bemรผhte.
So nebenbei merkt man dabei auch, wie modern viele Debatten in der Weimarer Republik schon waren. Moderner als Vieles, was dann die beiden deutschen Nachkriegsstaaten รผber Jahrzehnte noch muffig erscheinen lieร. Und vielleicht ist eben das der Grund dafรผr, warum Ebermayers Erinnerungsbuch 1970 nicht verรถffentlicht wurde. Auch fรผr diese Zeit war es im Grunde sehr offen geschrieben. Es rรผhrte an Tabus eines konservativen Bรผrgertums, das bis heute ungern akzeptiert, wie das Liebesleben der Menschen tatsรคchlich ist.
Ein besonderer Blick auf eine besondere Zeit
Ebermayer hingegen spezialisierte sich schon als junger Anwalt auf Jugendrecht, wissend darum, dass harte Gefรคngnisstrafen den jungen Menschen in der Regel nicht helfen, wieder Tritt im Leben zu fassen. Als Thomasschรผler erlebte er ja bekanntlich auch die Zeit des Ersten Weltkriegs mit und das Warten darauf, dass auch sein Jahrgang einberufen wurde, ein Zeitpunkt, dem er zuvorzukommen versuchte, indem er sich freiwillig meldete โ und dann doch vom Regimentsarzt aussortiert wurde.
Sodass er glรผcklicherweise die Grauen des Krieges nicht erleben musste, aber immer wieder bedauerte, dass er damit seine Zeit als Thomasschรผler viel zu frรผh beendet hatte.
Geschrieben hat er so ein Buch, dass es in dieser Form รผber das Leben in Leipzig zwischen 1910 und 1929 nicht ein weiteres Mal gibt. Auch wenn es sich einreiht in eine wachsende Zahl von Bรผchern, mit denen Steffi Bรถttger und der Lehmstedt Verlag diese Zeit und ihre bis heute namhaften Protagonisten sichtbar machen โ man denke nur an ihre Wiederentdeckung des Kulturredakteurs Hans Natonek.
Dem Ebermayer natรผrlich auch begegnete, als er damals seine Texte zum โLeipziger Tageblattโ in der Johannisgasse brachte. Und so war es eben auch Glรผck fรผr den Lehmstedt Verlag, dass er die Zustimmung bekam, Ebermayers Jugenderinnerungen nun doch noch zu verรถffentlichen. Erinnerungen, die sehr viel vom Leipzig dieser Zeit zeigen. So lebendig erzรคhlt, als lรคgen zwischen Ereignissen und Aufschreiben nicht selbst รผber 40 Jahre.
Ein bisschen Feuerzangenbowle
Aber die Erinnerungen des alten Erich Ebermayer schienen noch immer frisch zu sein. An fast alles erinnerte er sich noch, als wรคre es gerade erst passiert โ samt lebendigen Dialogen und intensiven Beobachtungen des Zeitgeschehens. Sodass die Figuren, die er auftreten lรคsst, geradezu greifbar werden. Skurrile Gestalten darunter wie einige seiner Lehrer. Was einen dann immer wieder an den Filmklassiker โDie Feuerzangenbowleโ denken lรคsst, dem ja die Leipziger Erlebnisse von Hans Reimann an der Nikolaischule zugrunde liegen. 2010 verรถffentlichte der Lehmstedt Verlag dazu ja Oliver Ohmanns Buch โHeinz Rรผhmann und โDie Feuerzangenbowleโโ. Und im selben Jahr Reimanns โVon Paukern und Lausbubenโ.
Wenn man die Szenen aus der Thomasschule daneben hรคlt, ahnt man, dass Reimann wohl gar nicht so viel dazuerfinden musste, um seine Pauker zu karikieren. Was auch mit einem damals schon veralteten Verstรคndnis von Bildung zu tun hat, mit dem sich Erich Ebermayer auch auseinandersetzt.
Da staunt man schon, wie starrsinnig und konservativ viele Debatten in Deutschland bis heute sind, immer aufs neue befeuert von Leuten, die ihren uralten Stiefel bis in alle Ewigkeit fortsetzen wollen und denen egal ist, wie sich die Kinder und Jugendlichen mit dem alten Plunder eigentlich fรผhlen.
Das muss auch den 70-jรคhrigen Erich Ebermayer beschรคftigt haben, als er seine Erinnerungen niederschrieb. Die dann vergessen im Archiv lagen, bis sie 2004 von Dirk Heiรerer entdeckt wurden.
Erich Ebermayer โJugend im Lichte des Vatersโ Lehmstedt Verlag, Leipzig 2024, 25 Euro.
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