In Leipzig wird er mit einem Denkmal und einer Straßenbenennung geehrt. Jährlich wird ein Preis in seinem Namen verliehen, der vor allem den Verwaltungsfachmann Carl Friedrich Goerdeler ehrt. Sein Rücktritt vom Amt des Leipziger Oberbürgermeisters 1936, nachdem die Nazis in seiner Abwesenheit das Denkmal für Felix Mendelssohn Bartholdy beseitigt hatten, gehört zu den bekanntesten Leipziger Geschichten um Goerdeler. Aber auch sie wird ihm nicht gerecht. Wie so manche Erzählung zum Widerstand gegen das NS-Regime.
Was an alten, immer wieder nacherzählten Interpretationen liegt, die Historiker so gern voneinander abschreiben. Auch an Selbsterzählungen der Nation, die das Attentat vom 20. Juli 1944 zur zentralen Haupterzählung für den deutschen Widerstand gemacht haben und die Rolle Goerdelers dann meisten auf Floskeln reduzieren, wie „war als neuer Reichskanzler vorgesehen.
Oder – wie Wikipedia es formuliert: „bildete sich um Goerdeler ein konservativer Kreis des zivilen Widerstands heraus,“, der „über zahlreiche Kontakte zu anderen Widerstandsgruppen, insbesondere zum militärischen Widerstand um Ludwig Beck“ verfügte.
Was schlicht nicht stimmt: Es gab keinen eigenständigen „militärischen Widerstand um Ludwig Beck“. Die Gruppe um Generaloberst Ludwig Beck war im Gegenteil Teil des sogenannten „Goerdeler-Kreises“.
Aber da sich die Legendenbildung jahrzehntelang immer nur auf das Stauffenberg-Attentat und damit den „militärischen Widerstand“ konzentrierte, erschien der sogenannte bürgerliche Widerstand immer kaum mehr als Anhängsel, nicht so wichtig, wenn es um die Beseitigung Hitlers ging. Danach wären dann irgendwie auch die Zivilisten zum Zug gekommen.
Kommunale Selbstverwaltung gegen „Maßnahmenstaat“
Aber indem der Historiker Peter Theiner jetzt einmal gründlich die politische Biografie Goerdelers aufgearbeitet hat, kann er mit mehreren Legenden um Goerdeler, die sich in Historiker-Kreisen festgesetzt haben, aufräumen. Und überhaupt dessen zentrale Rolle im bürgerlichen Widerstand erst einmal konkret nachzeichnen. Denn wenn es eine treibende Persönlichkeit in dieser bürgerlichen Opposition in Deutschland gab, dann war es Carl Goerdeler.
Der auch nicht (nur) wegen des Mendelssohn-Denkmals sein Amt aufgab. Das war nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Denn vorhergegangen war ein zäher Kampf gegen die Zerstörung dessen, was Goerdeler als gut organisierte kommunale Selbstverwaltung begriff, in die nicht irgendwelche Cliquen und Parteiorganisationen hineinregieren konnten.
Drei Jahre lang hatte er versucht – auch mit ausgearbeiteten Grundsatzpapieren und Gesprächen mit Hitler, das klassische Selbstverwaltungsrecht der Kommunen gegen den von den Nazis implementierten „Maßnahmenstaat“ zu verteidigen. Schon als er 1930 zum Oberbürgermeister von Leipzig gewählt wurde, galt er im Deutschen Reich als ein exzellenter Verwaltungsfachmann, der sich als Beigeordneter in Solingen und als Zweiter Bürgermeister in Königsberg einen Namen gemacht hatte.
In Leipzig setzte er – mitten in der Weltwirtschaftskrise ins Amt gekommen – seine Ideen von einer effizienten Verwaltung und einem gesunden Finanzkurs sofort um. Auch wenn er später gerade die Leipziger Zeit auch als eine Zeit des Lernens definierte, denn in der Welthandelsstadt Leipzig lernte er eben auch, welch eine zentrale Rolle die Ökonomie und der internationale Handel für das Wohlergehen einer Stadt – und damit eines Landes – hatte.
Aus dem konservativen und sich zuvor durch seine Erziehung auch stark nationalistisch empfindenden Mann wurde ein Politiker, der verstehen lernte, wie elementar Handelsbeziehungen mit dem Ausland für das Wohlergehen eines Landes waren. Schon da begannen Reisen ins europäische Ausland seinen Blick zu weiten.
Ein einzigartiger Netzwerker
Und tatsächlich versuchten die Nationalsozialisten seinen Sachverstand als Verwaltungsbeamter auch für ihre eigenen Vorstellungen von Kommunalverwaltung dienstbar zu machen, ihn sogar in Gesetzgebungsverfahren einzubinden, von denen er dann doch nach und nach merkte, dass hier nur sein Sachverstand angezapft werden sollte – an einer Selbstverwaltung der großen Städte war den Nazis aber nicht die Bohne gelegen.
Und wenn einem beim Lesen dieses Buches immer wieder das heutige Russland einfällt, dann ist das kein Zufall: So funktionieren alle Diktaturen. Sie können eigenständige Entscheidungsebenen, selbstbewusste Kommunen und eigenständig handelnde Oberbürgermeister nicht dulden. Sie schalten alles gleich, schaffen parallele Machtstrukturen – und erzeugen damit letztlich trotzdem ein einziges Chaos der miteinander konkurrierenden Interessen. Auch dieses Themenfeld beleuchtet Theiner ausgiebig.
Wer eine echte Biografie Goerdelers erwartet, wird vielleicht ein bisschen enttäuscht sein. Sein Familienleben, sein ganzes Leben jenseits der politschen Arbeit, kommt praktisch nicht vor. Dafür leuchtet Theiner das politische Leben Goerdelers in allen Nuancen aus, beschreibt das Netzwerk, das Goerdeler um sich herum schuf und das teilweise schon in den 1920er Jahren entstand.
Er schildert seine Reisen – gerade die vielen Reisen nach dem Ende seiner Zeit als Oberbürgermeister, als er geradezu verbissen auch immer wieder nach London reiste, um der englischen Regierung klarzumachen, mit wem diese es in Person Hitlers eigentlich zu tun hatte.
München, die vertane Chance
Fast alles, was Goerdeler dazu zu sagen hatte, hat er in Memoranden und Manifesten niedergeschrieben. Nicht einmal im Prozess, den die Nationalsozialisten nach seiner Verhaftung 1944 gegen ihn anstrengten, nahm er ein Blatt vor den Mund. In Situationen, in denen auch engste Mitstreiter verzweifeln wollten, ließ er sich erst recht nicht entmutigen – etwa nach dem Münchner Abkommen, bei dem Neville Chamberlain und Édouard Daladier Hitler genau die Zugeständnisse machten, die es niemals hätte geben dürfen.
Denn klarer als die meisten Anderen sah er, dass die Politik der Nazis, die hier scheinbar nur kleine, annehmbare Zugeständnisse erpressten, direkt in einen Krieg führen müssten. Sie würden niemals zufrieden sein und vor allem verachteten sie Schwäche. Oder scheinbare Schwäche.
Theiner beleuchtet natürlich auch die englische Seite und macht mit Zitaten aus den bekannten Protokollen und Tagebucheinträgen englischer Politiker deutlich, dass auch die englische Haltung in diesem Moment ihre Berechtigung hatte. Wozu freilich auch kam, dass man in London dem innerdeutschen Widerstand immer misstraute und auch Goerdeler und seine Gruppe immer wieder falsch einschätzte.
Der wiederum lange (und vergeblich) darauf setzte, dass gerade aus England Unterstützung für das eigene Bestreben kommen würde, in Land gegen Hitler vorzugehen.
Der „Widerstand“ aus der Wehrmacht
Als eines der größten und kaum lösbaren Probleme erwies sich bis zum Schluss, auch Verbündete in der Wehrmacht zu finden. Ludwig Beck war einer der wenigen wirklichen Bundesgenossen – doch der hatte kein Kommando mehr inne, hatte also auch keine Truppen zur Verfügung, mit denen ein Putsch gegen Hitler hätte inszeniert werden können. Und während einige Generäle nach der Einverleibung Österreichs und der Tschechoslowakei noch bereit waren, sich auf Pläne zur Entmachtung Hitlers einzulassen, war es damit spätestens nach dem „Blitzkrieg“ gegen Frankreich vorbei.
Der Siegestaumel machte nicht nur einen Großteil des Volkes besoffen, er machte auch die Heeresführung zu einem treuen Erfüllungsgehilfen für den „Größten Feldherren aller Zeiten“, der sich selbst zum Oberkommandierenden erklärt hatte und in den Augen der „gezähmten“ Generale auch irgendwie wie ein außergewöhnliches Feldherrengenie wirkte.
Auch das macht Theiner deutlich, weil es Historiker meistens kaum interessiert – aber Goerdeler interessierte es von Anfang an: Wie funktioniert eigentlich die Ökonomie eines Krieges? Wovon bezahlen eigentlich die „genialen“ Strategen ihre Aufrüstung und die materialverschlingendern Schlachten?
Noch so eine Frage, die heute in Putins Krieg eine ganz zentrale Rolle spielt.
Und während die Welt wie hypnotisiert auf die schnellen Kriegserfolge der Wehrmacht starrte, arbeitete Goerdeler in dutzenden Memoranden aus, wie diese Kriegsmaschine mit einer umfassenden Verschuldung Deutschland bezahlt wurde, während die Versorgungslage für die Bevölkerung nur noch gesichert werden konnte, weil die eroberten Länder geplündert wurden.
Und während sich die Nazis für ihren „Blitzsieg“ über Frankreich feierten, wusste Goerdeler, dass dieser Sieg keine Rolle spielte. Spätestens, als die USA zur Kriegspartei wurden, war klar, dass Deutschland den Krieg ökonomisch schon verloren hatte. Gegen das enorme Potenzial der Vereinigten Staaten hatte das Deutsche Reich nichts aufzubieten, auch wenn die Wehrmacht im Osten anfangs scheinbar mühelos Hitlers Pläne nach „Raumgewinn“ umsetzen konnte.
Widerstand ohne Taten ist sinnlos
Mit willigen Generälen, die ihre Augen verschlossen, obwohl schon in Polen deutlich wurde, wie verbrecherisch vor allem die SS gegen die dortige Bevölkerung vorging. Für Goerdeler verband sich das mit der Hoffnung, die hochdekorierten Mannschaftsführer würden jetzt endlich begreifen, für was für eine verbrecherische Clique sie da agierten, und jetzt endlich den Mumm finden, die NS-Führung zu bekämpfen.
Doch die Herren Generäle wichen aus, fanden Vorwände oder zeigten sich ganz und gar ihrem Befehlshaber verpflichtet. Die Ausreden brachten sie ja auch nach dem Krieg gern vor, wenn sie ihr Nicht-Handeln gegen Hitler begründeten.
Und so darf man durchaus mit Goerdeler auch die zunehmende Verzweiflung teilen, die mit jeder verpassten Chance wuchs, dem Hitlerregime Einhalt zu gebieten. Aber seine Weggefährten nannten ihn immer wieder einen Sanguiniker, einen, der sich einfach nicht entmutigen ließ und manchmal auch viel zu sehr aus der Deckung ging. Denn dass die Gestapo dabei war, jeden auch noch so kleinen Widerstand im Keim zu ersticken, war bekannt.
Wer so wie Goerdeler agierte, riskierte sein Leben. Aber gerade aus seinen letzten Tagen gibt es genug Bekundungen von ihm, dass er gar nicht anders konnte. Denn was nutzt ein Widerstand, der nicht konkrete Pläne schmiedet, Wagnisse eingeht beim Aufnehmen von Kontakten – insbesondere zu Militärs, die möglicherweise in der Lage waren, Hitler dingfest zu machen. Jeder dieser Kontakte barg das Risiko, dass er von Spitzeln der Gestapo verraten wurde.
Ideen für ein Deutschland nach Hitler
Aber die späten Schriften Goerdelers verraten noch mehr. Denn sie skizzierten nicht nur ein Modell für ein Deutschland ohne Hitler, sondern auch eine neue Positionierung Deutschlands innerhalb der europäischen Staaten, die schon in wesentlichen Zügen an die spätere EU erinnert. Und Theiner untersucht auch, inwieweit die von Goerdeler skizzierten Regierungsmodelle für Deutschland nach Hitler tatsächlich seine eigene Sicht auf ein gut regiertes Land zeigen – oder doch in vielen Fällen eher die erzkonservativen Standpunkte seiner möglichen Bündnispartner einfingen.
Denn auch diese Schwierigkeit des bürgerlichen Widerstands wird hier deutlicher: Wie sehr es Goerdeler mit Leuten zu tun hatte, die zwar durchaus bereit waren, die Nazi-Clique in die Wüste zu schicken, aber selbst Staatsvorstellungen hatten, die aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg stammten. Immerhin handelte es sich meist eben um Leute, die 1933 durchaus noch wohlwollend auf die Machtübernahme der Nazis geschaut hatten, weil sie vor allem die Weimarer Republik verachteten.
Anders als Goerdeler, der in seiner Bürgermeisterzeit gelernt hatte, dass Macht etwas ist, was endlich sein muss, abwählbar durch richtige Wahlen. Womit die Gewählten gezwungen sind, Verantwortung zu übernehmen und ihre Arbeit vor den Wählern zu rechtfertigen.
Weshalb Goerdeler gerade seine Leipziger Zeit als jene Zeit definierte, in der er aus einem Nationalisten zu einem Vertreter der Völkerverständigung wurde, einem, der andere Völker zu schätzen und zu achten gelernt hatte. Was nun einmal jede Menge mit Handelsbeziehungen zu tun hat. Mit der nationalistischen DNVP, in die er schon als junger Mann eingetreten war (aus Familientradition), wollte er nichts mehr zu tun haben, als deren Chef Hugenberg mit Hitler paktierte.
Die „Verlassenheit der Verschwörung“
Vielleicht war es guter Glaube, der ihn nach der Machtübernahme der Nazis als einen der wenigen Oberbürgermeister Deutschlands ohne NSDAP-Parteibuch noch im Amt hielt. Aber Theiner zeigt im Grunde deutlich, dass Goerdeler das bis zuletzt als ein Unterfangen begriff, die Übergriffigkeit des Machtstaates auf die Kommunalpolitik auszubremsen, abzumildern, in „vernünftige“ Bahnen zu lenken.
Auch wenn ihm der politische Alltag mit Leuten wie Rudolf Haake zeigte, dass die Nationalsozialisten darauf überhaupt keine Rücksicht nahmen und ihn nur so lange verschonten, wie er in Berlin noch ein relativ gefragter Mann war – etwa in der kurzen und letztlich genauso enttäuschenden Episode als Preiskommissar für die Nazis, die auch über diesen Weg versuchten, die deutsche Wirtschaft zentral auszusteuern.
Zur Tragik des bürgerlichen Widerstands gehört freilich, dass er bis zuletzt relativ isoliert war. Theiner zitiert die „Verlassenheit der Verschwörung“. Und die Verschwörer wussten sehr genau, dass bei einem Scheitern des Putschversuches die Gestapo mitleidlos alle verhaften würde, die irgendwie im Umkreis der Verschwörung namhaft gemacht werden konnten.
Das Scheitern von Stauffenbergs Attentat brachte genau diese Maschinerie in Bewegung. In der ersten Welle verhaftete die Gestapo etwa 700 Personen, in einer zweiten Welle noch einmal 5.000. Und die meisten Verschwörer um Goerdeler wurden hingerichtet.
Leipzig pflegt zwar die Erinnerung an Carl Goerdeler. Aber welche zentrale Rolle er tatsächlich im bürgerlichen Widerstand spielt, das macht eigentlich erst Theiners Buch so richtig deutlich. Mit aller Tragik, die seinen Versuch, die Katastrophe zu verhindern, letztlich scheitern ließ. Denn bis heute werfen diverse Historiker ja diesem Widerstand vor, dass er erst nach den großen Niederlagen der Wehrmacht vor Moskau und Stalingrad zur Tat schritt, als auch noch dem Letzten klar geworden sein musste, dass Deutschland diesen Krieg verliert.
Ein unermüdlicher Netzwerker
Geradezu minutiös zeichnet Theiner nach, wie viele Anläufe gerade Goerdeler seit 1936 immer wieder unternommen hatte, den Krieg zu verhindern, in einer Zeit, als er nur einer von wenigen war, die wirklich begriffen, dass die Nazis sich auf dem Weg in den Untergang nicht aufhalten lassen würden. Jedenfalls nicht von Entgegenkommen, sanfter Diplomatie und Friedensangeboten. Erst recht nicht von Zugeständnissen auf Hitlers laute Friedensreden hin, in denen sich der zum Krieg entschlossene „Führer“ geradezu als Friedensbote verkaufte.
Auch das ein Punkt, der fatal an die Gegenwart erinnert.
Und so ist diese ganz und gar politische Biografie Goerdelers ein Buch, das überraschend aktuell wirkt und das einen Mann zeigt, der letztlich sein Leben dem mutigen Versuch gewidmet hat, im Hitler-Deutschland jene Opposition zu schaffen, die nicht nur Hitler stürzen wollte, sondern auch an ein Deutschland nach der Entmachtung der Nazis zu denken wagte.
Was an sich schon unerhört ist. Was aber ein ganz anderes Gesicht bekommt, wenn man den hier jahrelang an eben diesem Widerstandsnetz arbeitenden Goerdeler sieht. Denn all diese Kontakte, so betont Theiner am Ende, konnte nur einer knüpfen, der so vernetzt war wie Carl Goerdeler, der auch über Lager hinweg Personen gewinnen konnte, die unter anderen Umständen nie im Leben miteinander in eine Regierung gegangen wären.
So wird das Bild dieses Mannes viel konturenschärfer, auch für jenes Leipzig, in dem er von 1930 bis 1944 lebte – wenn er denn mal zu Hause war und nicht auf einer seiner vielen Reisen durch halb Europa, immer auf der Suche nach Leuten, die seine Warnungen vor dem Vernichtungskrieg der Nazis ernst zu nehmen bereit waren.
Peter Theiner „Carl Goerdeler. Ein deutscher Bürger gegen Hitler“ C. H. Beck, München 2024, 34 Euro.
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