Was wäre wenn … wenn Dolores Haze überlebt und nicht im Kindbett gestorben wäre, sodass sie Humbert Humbert noch hätte widersprechen können als erwachsen gewordene Frau? Dann wäre auf jeden Fall nicht nur seine Version der Geschichte in der Welt gewesen. Oder eben Nabokovs Version, die bis heute das Mädchen, das er Humbert Humbert Lolita nennen lässt, zur Verführerin macht. Die sie aber nur aus der Perspektive des pädophilen Humbert Humbert ist. Auch und gerade in Nabokovs Roman.
Der bis heute immer wieder aufgelegt und verfilmt wird. Im Film zumeist versüßlicht, in ein Mädchenbild gegossen, das das Handeln alter Männer, die Mädchen und Frauen als selbstverständlich verfügbar betrachten, verklärt und entschuldigt.
Und man kann es schon auf dem Cover dieses Romans lesen: Die Autorin ist sauer. Richtig sauer. Stellvertretend für „Lolita“. Und eigentlich für Millionen Mädchen, die sich gegen die Übergriffigkeit alter Männer nicht wehren konnten. Weil sie es nie gelernt haben, weil das ganz tief eingebaut ist in eine patriarchalische Gesellschaft, die nicht einmal merkt, wie die Verfügungsgewalt über Frauen und Mädchen die Machtverhältnisse definiert.
Die Verklärungen des Täters
Eigentlich ist Lea Ruckpaul Schauspielerin, hat an der HMT in Leipzig studiert und ist heute Ensemblemitglied am Residenztheater München. Bisher schrieb sie vor allem Stücke. „Bye bye Lolita“ ist ihr erster Roman. Und der hat es in sich.
Auch wenn ihn gealterte Literaturwissenschaftler, die so gern über das ästhetische Schreiben dozieren, wohl nicht goutieren und vertragen werden. Denn Dolores nimmt kein Blatt vor den Mund. Sie muss nichts verblümen und verkitschen. Sie hat das alles erlebt. Und es hat ihr Leben zerstört.
Nicht so gründlich, wie sich das Nabokov gedacht hat, als er sie im Vorwort zu seinem Roman kurzerhand im Kindbett sterben ließ. Was vor allem als Entlastung für seinen Humbert Humbert gedacht war, der im Gefängnis seine Version der Geschichte niederschreibt, nachdem er Clare Quilty erschossen hat, seinen vermeintlichen Nebenbuhler, der Dolores geholfen hatte, den Fängen von Humbert Humbert zu entkommen.
Nabokovs Roman ist ja gespickt mit laute Verklärungen und Selbstentschuldigungen, mit denen der Erzähler versucht, die eigene Schuld zu kaschieren und die zwölfjährige Dolores zur Verführerin zu stilisieren.
Nur: Wie fühlte sich das Mädchen selbst in alledem? Immerhin erzählt ja Nabokov eine hanebüchene Geschichte, wie sich Humbert Humbert ganz gezielt im ziemlich verlotterten Haus der noch recht jungen Witwe Charlotte Haze einmietet, nur um der zwölfjährigen Dolores nahe zu sein.
Und um an die Tochter zu kommen, lässt er die Avancen der Mutter zu, heiratet sie und dann … Nabokov lässt es wie einen tragischen Autounfall aussehen, der das Mädchen nun auf einmal in die Fänge ihres Vormunds bringt, der sich dann auf der zweijährigen Odyssee durch die USA als ihr Vater ausgibt.
Wie man seine Rollen lernt
Bis es Dolores gelingt, zu fliehen. Was sie aber noch nicht erlöst. Denn dass sie überhaupt in ihre abhängige Lage geraten war, hatte ja Gründe. Gründe, mit denen sie sich in Lea Ruckpauls Roman jetzt gründlich beschäftigt. Sie hat Humbert Humberts Tagebuch an sich gebracht und schreibt darin jetzt ihre Geschichte auf. Sie will sich von diesem Albdruck befreien. Und hat – anders als bei Nabokov – überlebt. Sie ist Zeugin und schont sich selbst nicht.
Wo hätte sie schon früher fliehen können? Was hätte ihr geholfen? Und sie hatte ja Glück, dass ihr Freundinnen wie Mona tatsächlich geholfen haben. Dass sie mit ihrer Geschichte, die sie eigentlich nie erzählen konnte, nicht allein geblieben ist. Dafür braucht man Menschen, die schon verstanden haben, dass Sex und Liebe in einer von gefühllosen Männern verwalteten Welt vor allem Waren sind. So wie die Frauen selbst.
Denn wenn eine Gesellschaft übergriffige Männer schützt und Frauen nicht glaubt, dann ist das nicht nur ein riesiges Dunkelfeld für Pädophile. Dann schützt das auch Vergewaltiger alle Art. Und zementiert Abhängigkeiten, in denen Frauen schon früh lernen, sich falsch zu verhalten.
Das wird schon früh klar in der ganz und gar nicht vertrauensvollen Beziehung von Dolores zu ihrer Mutter Charlotte, die ihr schon früh zeigt, dass sie die eigene Tochter als Konkurrentin betrachtet. Sie schickt das Mädchen letztlich nicht fort, um es zu beschützen, sondern um es als Konkurrenz um Humbert Humbert aus dem Weg zu schaffen.
Und Dolores hat das gespürt und registriert. Aber verstanden hat sie es erst später. Dass es um Willfährigkeit geht, zu der Frauen erzogen werden. Such dir einen Mann. Nimm, wen du kriegen kannst. Tu, was er sagt.
All das, was auch bei uns und auch heute noch in lauter toxische Beziehungen mündet, weil das am Ende nicht passen kann. Mit Männern, die gelernt haben, Frauen wie Objekte zu behandeln. Und Frauen, die gelernt haben, sich so behandeln zu lassen. Und auch wenn Lea Ruckpaul ihre „Lolita“ überleben lässt, erspart sie ihr nicht die harte Tour, lauter frustrierende Männerbekanntschaften, die ihr aber keine Erfüllung bringen. Schon gar nicht der Sex.
Fest verwurzelte Männerbilder
Nicht mal der Sex mit Fred, der sich ja tatsächlich Mühe gibt und wissen will, ob Dolores ihn liebt. Nur ist er selbst überfordert, hat seinerseits nie gelernt, mit einer selbstbewussten Frau umzugehen. Und Dolores lässt sich nichts mehr gefallen. Diese Zeiten sind vorbei. Gerade die Begegnung mit Fred zeigt, was passiert, wenn Frauen tatsächlich selbstbewusst werden. Dann bringen sie Männer, die nie gelernt haben, Frauen als ebenbürtig zu betrachten, an den Rand der Verzweiflung. Die dummen unter den Männern glauben dann, Frauen wollten sie unterdrücken. Und wählen dann einen Clown wie Donald Trump zum Präsidenten.
Es verblüfft: Aber auch auf diese Weise ist das Buch hochaktuell. Auch Wahlergebnisse können von fest verwurzelten alten Männerbildern erzählen und wie diese nur allzu leicht revitalisiert und missbraucht werden können. Dolores jedenfalls ist am Ende nur zu klar, warum ihr all das passiert ist. Die Wut weicht dem Verstehen, warum diese Gesellschaft so ist, wie sie ist.
„Lange habe ich geglaubt, ich sei krank und davon besessen, mit Selbstverleugnung und -erniedrigung fürs Geliebtwerden bezahlen zu müssen, weil ich gestört bin durch den Missbrauch, den ich erlebt habe“, schreibt Dolores, nachdem sie wieder eine dieser Szenen mit Fred erlebt hat, in der sie ihn – automatisch – als Aggressor betrachtete, obwohl er nur wieder völlig hilflos agierte. Denn er hat ganz offensichtlich auch nie gelernt, über seine wirklichen Gefühle und Bedürfnisse zu reden.
Das System, in dem wir leben
Aber Dolores stoppt an dieser Stelle nicht. Denn sie hat längst verstanden, dass das Problem viel größer ist: „Nach vielen Gesprächen mit Freundinnen und Freundinnen von Freundinnen, die ihr Zusammenleben mit Männern ähnlich beschrieben, ging ich davon aus, dass auch diese Frauen irgendeine Form von Missbrauch erlebt haben. Gleichgesinnte, Gleichgestörte und Kranke freunden sich eben an, dachte ich. Irgendwann habe ich erkannt: Frauen sind es gewohnt, ihre Autonomie einzutauschen gegen ‚Beziehung mit einem Mann.‘ Das ist das System, in dem wir leben.“
Vielleicht hätte es eine reale Dolores Haze damals so nicht formuliert. Vielleicht spricht hier tatsächlich die Autorin selbst. Aber deshalb ist es nicht weniger wahr. Und es hat Folgen, die Dolores erst langsam klar werden, als sie sich auf die Suche nach dem Grab ihrer Mutter macht. Denn jahrelang hatte sie Humbert Humbert einfach geglaubt, dass Charlotte bei einem Autounfall – zufällig – ums Leben gekommen ist. Doch bei dieser Suche begreift sie dann – ziemlich erschüttert – eines: Dass sie ihre Mutter tatsächlich überhaupt nicht gekannt hat. Denn wer sich in die erwarteten Rollen einer patriarchalen Gesellschaft fügen gelernt hat, der hat auch keine Chance, sich selbst jemals kennenzulernen.
„Du hast dich sehr bemüht, die Charlotte aus den Märchen zu sein, die dir erzählt wurden. Niemand hat dir Fantasie beigebracht. Du wusstest nicht, was du sonst hättest tun können. Dein Leben war eine Nummernrevue des narzisstischen Selbsthasses in verschiedenen Kostümen.“
Es ist die Stelle, an der Dolores im Schicksal ihrer Mutter das eigene Schicksal wiedererkennt. Und in dem sie erstmals so etwas wie Mitgefühl für ihre Mutter zulassen kann: „Mama, ich habe dich nie kennengelernt. Auch du hast dich nicht kennengelernt. Alles, was du warst, war eine Echokammer der Erwartungen von anderen.“
Die falsche Macht der Worte
Gut möglich, dass hier endgültig die Autorin selbst das Zepter in die Hand nimmt. Aber sie hat recht. Auch mit ihrer wütenden Sprache. Und mit einer Rehabilitierung von „Lolita“, die in der Öffentlichkeit nur als das falsche Bild erscheint, das Humbert Humbert von ihr gezeichnet hat. Oder Nabokov, der von dem Thema irgendwie nicht lassen konnte, aber ganz offensichtlich unfähig war, die Geschichte auch aus der Perspektive des zwölfjährigen Mädchens zu verstehen.
Die Dolores in der Geschichte, die Lea Ruckpaul erzählt, radiert letztlich all die Stellen in Humbert Humberts Tagebuch aus, in denen er sein falsches Bild von „Lolita“ gemalt hat, mit denen er seine Macht über das Mädchen in Sprache gegossen hat. Eine Macht, die die erwachsene Dolores anfangs noch erschreckt und entmutigt. Aber indem sie sich selbst zu Wort meldet, gewinnt sie die Kraft, sich mit Humbert Humberts Tagebucheinträgen zu konfrontieren und sie auszuradieren, wo der alte Mann sich der Deutung über das, was er „Lolita“ angetan hat, bemächtigt hatte.
Stellvertretend, kann man sagen. So wie Lea Ruckpaul stellvertretend Nabokovs Roman filetiert und ihm die Wahrheit der Frau entgegenhält, die es in einer verklemmten Geschlechterwelt mit Typen wie Humbert Humbert zu tun bekommt und sich nicht zu wehren weiß. Weil Selbstbehauptung nicht zur Vorbereitung aufs Leben gehörte.
Die Angst der Männer vor dem Machtverlust
Einen „wütenden Abgesang auf ein Klischee“ nennt der Cover-Text diesen Roman. Nur regieren dummerweise Klischees diese Welt und auch das Liebesleben der Menschen. Dieser Klischees, zur absurden Show aufgeblasen, gewinnen auch Wahlen. Und man versteht nicht, warum, wenn man die Klischees nicht hinterfragt. Und die falschen Bilder von Macht, die in den Köpfen vieler, vieler Männer noch immer stecken. Nun auch noch aufgeschreckt durch die #metoo-Bewegung, die ihnen ins Gesicht sagt, dass Frauen sich das alles nicht mehr gefallen lassen wollen.
Was die Herren der großmäuligen Worte dann gleich als Angriff verstehen.
Die Dolores aus Lea Ruckpauls Geschichte freilich hat auch schon in der Beziehung zu Humbert Humbert gemerkt, was für ein armseliges Würstchen er ist, wenn ihm die Macht über das Mädchen zu entgleiten droht. Mit der selbstbewussten Dolores kann er nicht umgehen und wird erpressbar. Was ihn keinen Deut sympathischer macht.
Am Ende werden viele Leserinnen und Leser nicht nur die Wut von Dolores teilen, sondern auch aufatmen mit ihr, dass sie es – anders als bei Nabokov – geschafft hat zu überleben.
Und damit letztlich Mut macht, sich aus all den toxischen Beziehungen zu lösen, in denen Frauen – und Männer – oft nur stecken, weil ihnen das seit Kindheitstagen als Modell einer Ehe so beigebracht wurde. Wofür sie letztlich alles opfern – auch und gerade ihre Fähigkeit zu lieben.
Lea Ruckpaul„Bye bye Lolita“, Voland & Quist, Berlin 2024, 24 Euro.
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