Hat eine Journalistin nach einem langen Berufsleben etwas zu erzรคhlen? Natรผrlich. Erst recht, wenn sie โ€“ wie Gabi Thieme โ€“ auch den Zeitenwechsel in Chemnitz miterlebt hat. Die DDR-Zeit erlebte sie dort als Redakteurin und stellvertretende AuรŸenstellenleiterin der Nachrichtenagentur ADN, die Zeit danach als Mitarbeiterin der โ€žFreien Presseโ€œ. Und mit der ร–ffnung der Grenzen tauchte auch eine Gelegenheit auf, die sie so in DDR-Zeiten nie bekommen hรคtte.

Das ist die Geschichte mit dem Gottschalk-Interview bei einer Aufzeichnung von โ€žWetten, dass โ€ฆโ€œ in Hof, zu der sie Karten ergattern konnte und das vage Versprechen, den Entertainer vielleicht in der Aftershow-Party interviewen zu kรถnnen. Etwas, was Gottschalk meistens ablehnte. Aber die Chemnitzerin blieb hartnรคckig und landete damit einen Scoop โ€“ da staunten auch die Kollegen aus dem Westen.

Aber das Journalisten-Leben besteht nicht nur aus Scoops. Schรถn wรคrโ€™s. Das meiste ist tรคgliche Kรคrrnerarbeit, sich den Allerwertesten plattsitzen, zum Beispiel in Gerichtsverhandlungen. Gabi Thieme muss es wissen: Wรคhrend es vor 1990 der Job der ADN-Redakteurin war, einfach Nachrichten fรผr die Zentrale in Berlin zu sammeln (und manchmal auch eine schรถne optimistische Reportage), wurde sie bei ihrer Arbeit fรผr die โ€žFreie Presseโ€œ zur Gerichts- und Polizeireporterin.

Dabei erlebte sie etwas, was so in der DDR schier unmรถglich war: Kriminalermittler, die mit ihr redeten und ihr die ganzen Hintergrundinformationen gaben, die den Bericht รผber ein Verbrechen erst informativ und lebendig machen. (Bis ins Jahr 2011, als der โ€žNSUโ€œ-Skandal die sรคchsischen Ermittler auf dem falschen FuรŸ erwischte und sich die Informationspolitik auch gegenรผber den Medien drastisch verรคnderte โ€“ nicht gerade zu mehr Transparenz hin.)

Verstรคndlich, dass die eigentlichen Journalismus-Geschichten aus der Zeit vor der โ€žWendeโ€œ eher nur skizzenhaft bleiben. Polizei und Gerichte lieรŸen sich damals jedenfalls nicht in die Karten schauen. Und Meldungen รผber Verbrechen gab es maximal als Kurzinformation unter โ€žVemischtesโ€œ, auch wenn das Bild von einem Land ohne Kriminalitรคt natรผrlich nur Schaufassade war.

Kakerlaken, โ€žJahrhundertflutโ€œ und der Kampf um den โ€žNischelโ€œ

So wie auch der sozialistische Wiederaufbau des zerstรถrten Karl-Marx-Stadt oft eher in Schaufassaden endete. Oder in architektonischen Lรถsungen, die die alte, im Krieg zerbombte Stadtstruktur unsichtbar machten. Das ADN-Bรผro fand in einem dieser Neubauten Platz โ€“ und erlebte einen seiner Hรถhepunkte in einer mรคchtigen Kakerlaken-Plage. Auch davon erzรคhlt Thieme, genauso wie von den Abenteuern ihres Mannes, der fรผr ADN als Fotograf unterwegs war und auch mal ins meterhoch zugeschneite Erzgebirge geschickt wurde, um von dort schรถne Schneebilder zu liefern.

Manchmal passieren auch Journalistinnen die groรŸen Dramen, ohne dass sie extra hinfahren mรผssen. Journalisten sind ja auch nur Menschen. Und dass die junge Journalistikstudentin 1972 eines der grรถรŸten Zugunglรผcke der DDR als Insassin des betroffenen Zuges erlebte, das begriff auch die Autorin erst hinterher so richtig, als ihr Freund entsetzt in ihrem Studentenwohnheim auftauchte.

Und auch dass die โ€žJahrhundertflutโ€œ von 2002 ihr neues Zuhause im Eigenheim nahe Chemnitz tangieren wรผrde, ahnte sie nicht. Manchmal kann man gar nicht anders und gerรคt mitten hinein in groรŸe Ereignisse, ohne es gewollt zu haben. So passierte es ihr auch mit ihrem ersten Kind, das ausgerechnet in der Nacht vor der Einweihung des Karl-Marx-Denkmals (des โ€žNischelsโ€œ) zur Welt kam, wรคhrend ihr Mann als ADN-Fotograf die ganzen Festtagsakte fotografieren musste.

Dass sie den Spottnamen โ€žNischelโ€œ ganz und gar nicht toll findet, erzรคhlt sie genauso wie die kurzzeitige Diskussion nach der โ€žWendeโ€œ, ob der โ€žNischelโ€œ nun wieder abgerรคumt werden sollte. Doch wรคhrend Chemnitz seinen alten Namen wiederbekam, wollte eine Mehrheit der Chemnitzer den sturen Marx-Schรคdel dann doch lieber behalten. Dass der Kรผnstler Karl-Heinz Richter, berรผhmt fรผr seine โ€ždicke Weiberโ€œ, schon einen sehenswerten Ersatz fรผr den Kopf des Philosophen in petto hatte, erzรคhlt sie natรผrlich auch.

Geschichten lauern รผberall

Nicht jede Geschichte muss eine gewaltige Dramatik haben. Manche sind ganz irdisch und menschlich โ€“ so wie der Besuch bei einem der berรผhmtesten Karikaturisten der DDR, Henry Bรผttner, der extrem รถffentlichkeitsscheu war, sich am Ende von der hartnรคckigen Journalistin dann aber doch zum Besuch รผberreden lieรŸ. Manchmal entscheidet journalistische Neugier dann freilich auch รผber das Urlaubsziel eines Journalisten-Ehepaares.

Und wรคhrend die meisten Touristen, die sonst die Insel Giglio bevรถlkerten, diese nach dem Unglรผck der โ€žCosta Concordiaโ€œ mieden und nur noch neugierige Tagestouristen hinfuhren, um das havarierte Schiff zu fotografieren, fuhren die Thiemes erst recht hin, um die fast verlassene Insel zu erkunden (und auch noch dem Tatort eines ihrer Lieblingskrimis nachzuspรผren). Das riesige, auf einen Felsen aufgelaufene Schiff fotografierten sie natรผrlich auch, bevor es abgeschleppt und verschrottet wurde.

Nicht verschrottet, aber wegen fehlendem Gleisanschluss lahmgelegt fand sich dann bei einem Urlaubsausflug in Tabuk in Saudi-Arabien eine bestens erhaltene Lok aus den einstigen Hartmann-Werken in Chemnitz. Was Thieme dazu anregt, die Geschichte der von deutschen Ingenieuren projektierten Bahn zu erzรคhlen, die einst die Pilger nach Mekka brachte.

Es gibt auch viele Geschichten aus dem Familienleben der Journalistin. Denn man ist ja jenseits von Schreibmaschine und Computertastatur auch noch Mensch, geht zur Weihnachtszeit auf die Jagd nach dem wirklich allerschรถnsten aller Weihnachtsbรคume, ordert mutige Weihnachtsmรคnner in der Bekanntschaft, die von den Kindern nicht gleich erkannt werden. Oder trรคgt gewaltige Kรคmpfe um das richtige Weihnachtsessen aus, fรคhrt am Wochenende einfach mal den Gerรผchten von Kollegen nach, dass es irgendwo an der Autobahn ein regelrechtes Pilzparadies geben muss.

Die Welt des โ€žProvinzjournalismusโ€œ

So fรผgt sich das Buch aus 25 Anekdoten aus einem Journalistinnen-Leben zusammen, das eben nicht zu den groรŸen gehรถrt, sondern zur Welt einer โ€žProvinzjournalistinโ€œ, wie es das Buch selbst in GรคnsefรผรŸchen setzt. Diese Abwertungen durchdringen nicht nur die Medienwelt selbst. Aber gerade wer im Lokalen arbeitet, merkt, dass hier eigentlich all die Dinge passieren, die Menschen aufregen, bewegen, neugierig machen. Und tatsรคchlich etwas angehen.

Nur verschwindet das gerade in der heutigen Zeit immer mehr, wo scheinbar alles von hochgejazzten Nachrichten auf nationaler politischer Ebene dominiert wird (bei denen man sich zu recht oft fragt, aus welchem Automaten die eigentlich kommen). Das Leben in den Provinzen geht immer รถfter ohne einen verlรคsslichen Journalismus vonstatten.

Ohne emsige Bienen, die sich tagelang in Gerichtssรคle setzen, die Wochen darauf verwenden, mit Kriminalkommissaren und Opfern von Verbrechen zu sprechen, die den Geschichten nachlaufen, bis die Schuhsohlen qualmen oder widerspenstige Gesprรคchspartner endlich sagen: Dann ziehen wir das jetzt durch.

Es ist โ€“ so betrachtet โ€“ auch eine vergehende Welt, von der Gabi Thieme hier nach einem ganzen Journalistinnenleben erzรคhlt. Auch die โ€žFreie Presseโ€œ ist lรคngst in schwerem Fahrwasser, weil die meisten Menschen in der Region sich angewรถhnt haben, sich ihre Nachrichten aus lauter dubiosen Quellen im Internet zusammenzusuchen und sich nicht wirklich darรผber wundern, dass die Nachrichtenlage aus der eigenen Region immer weiter ausdรผnnt, weil immer weniger Journalisten hartnรคckig fรผr ihre Leser unterwegs sind.

Die nรคchsten โ€žJahrhundertflutenโ€œ, die ja bekanntlich mittlerweile im Jahresrhythmus kommen, verpasst man so zwar nicht. Aber man verpasst all die nur scheinbar kleinen Entscheidungen und Vorfรคlle, die das eigene Leben in einer Stadt wie Chemnitz betreffen und verรคndern. Man verpasst spannende Menschen und aufregende Schicksale.

Der in Chemnitz heimische Wannenbuch-Verlag war nur zu gern bereit, die Erinnerungen von Gabi Thieme als Buch zu verรถffentlichen โ€“ aber nicht in der eigentlichen Wannenbuch-Reihe mit den wasserfesten Bรผchern, sondern in der dem Papier vorbehaltenen Paperento-Reihe. Man kann es zwar mit in die Wanne nehmen, sollte es aber schรถn hochhalten beim Lesen.

Gabi Thieme โ€žWie ich Thomas Gottschalk rumkriegteโ€œ, Paperento, edition Wannenbuch, Chemnitz 2024, 16 Euro.

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