Diese Woche an einem warmen Nachmittag auf dem Schulhof. „Nein, die kann man nicht wählen, Herr Jopp, die sind ja gegen … und für … man muss sich von ihnen distanzieren … das geht gar nicht, was die verlangen … die dürfen niemals politische Macht bekommen …“ So oder so ähnlich diskutierte ich mit 16-jährigen Jugendlichen in einem äußerst belebten „aktuell-politischen Gespräch“.

Ein DDR-Schul-Relikt. Da wurde häufig vor den Unterrichtsstunden – nicht nur „in Geschichte“ – ein Nachrichtenthema besprochen, dabei manchmal auch Standpunkte, die von dem offiziösen Regierungsstandpunkt (wenn der aus der SED-Altersriege kommend, schon endgültig feststand) abwichen.

1982, als ich mit 16 die Penne besuchte, gab es genug kontrovers zu diskutieren, was sich welt- und innenpolitisch zu Zeiten des späten Kalten Krieges 1.0 ereignete: Olympiaboykotte, Falkland-Krieg, Afghanistan (ja, auch damals schon), Nicaragua und nicht zuletzt Raketenstationierungspläne, was eine Kriegsgefahr real entstehen ließ.

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Eine Gefahr, die sich von allen Kriegsgefahren dahingehend zu unterscheiden begann, weil sie etwas Endgültiges und furchtbar Dystopisches durch das ungeheure Vernichtungspotenzial, was sich auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs angehäuft hatte, in sich barg.

Mutig fanden wir die Aktion unseres Jugendidols Udo Lindenberg, der 1983 im Palast der Republik vor den DDR-Offiziellen und in unverwechselbarer Manier ins Mikro näselte: „Weg mit allem Raketenschrott, nirgendwo wollen wir auch nur eine einzige Rakete sehen. Keine Pershings und keine SS-20!“ Kurzes Beifallstocken bei den Berufsjugendlichen in den blauen FDJ-Hemden. Lindenberg schaffte es, landesweit zu begeistern, Brücken zwischen Ost und West zu bauen.

Zu einer Tournee konnten sich zu unser aller Leidwesen die SED-Kulturfunktionäre nie durchringen; die salopp-unverstellte Art des singenden Ost-West-Kritikers war den alten Spanienkämpfern und sich selbstfeiernden Alt-Antifaschisten immer irgendwie unheimlich. Intolerant und engstirnig war diese „Cancel-Aktion“ der DDR-Regierenden auch deshalb, weil sich der Panikrocker Lindenberg nie parteipolitisch gebunden hatte, die Gesellschaftszustände dies- und jenseits der Mauer gleichermaßen kritisierte, wenn es sein musste.

Irgendwie wirkte er wie die menschliche Verkörperung einer Hannah-Arendt-Diktion. „Niemand hat das Recht zu gehorchen.“ Das machte ihn nicht nur in meinen Augen zu einem glaubwürdigen, linksliberalen Aufklärer im besten Sinne. Und er sang dazu noch irgendwie „cool“, dass jeder und jede ihn verstehen konnte …

Solche glaubwürdigen und integren Pop-Idole fehlen meiner Ansicht nach in der Gegenwart und den Jugendlichen heute. Dabei ist – zugegeben – meine Kenntnis der aktuellen „Szene“ äußerst begrenzt. Aber ich nehme kaum Stimmen wahr, die sich für eine Verständigung der neuen, sich immer feindlicher gegenüberstehenden imperialen Machtsphären einsetzen und von vielen Menschen wahrgenommen werden.

Lindenberg fühlte sich wie viele andere immer mehr vom „Atomraketenwald“ („Wozu sind Kriege da?“) bedroht, ein Bild, was heute leider wieder und tragischerweise so aktuell ist. Nur, dass es in diesem Moment keine weltweit mächtige, humanistische Friedensbewegung gibt, die die „Bonzen“ (Lindenberg) in ihre Schranken weist, wenn sie mit dem Risiko eines alles vernichtenden Atomkrieges spielen.

Nein, heute sind es die „Autokraten“ der Welt, gegen die wir uns schützen und verteidigen müssen, eine neue soziale Umverteilung unter der Aufrüstungsbegründung aushalten sollen. Denn wir und nur wir verfolgen eine „wertegeleitete Außenpolitik“. Wir sind die Guten. (Sie spüren die Ironie, die in den letzten Worten steckt.)

Weniger mit Ironie, sondern viel mehr mit teils scharfer Kritik versucht sich der bekannte Philosoph und Publizist Richard David Precht (*1964) in seinem neuesten Buch („Das Jahrhundert der Toleranz“) mit den Inhalten westlicher Geopolitik auseinanderzusetzen. Nähert sich dabei, wie er im Vorwort schreibt, selbstverständlich auch aus einer philosophischen Perspektive dem Thema seines Werkes an.

Denn Precht betont schon im Untertitel, dass er für eine „wertegeleitete Außenpolitik“ plädiert, nur eben mit – wie er findet – glaubwürdigen Inhalten und überzeugenderen Argumenten.

Seinen Essay beginnt er mit dem Kapitel „Die Ohnmacht der Vernunft“ und führt auf den folgenden Seiten aus, dass wir in immer gefährlicheres Welt-Fahrwasser zu geraten drohen, ja nachgerade in eine alles vernichtende Sintflut, wenn kein kollektives Umdenken angesichts der planetaren Überlebenschancen und -risiken einsetzt. Das hört sich zunächst nach dem bekannten „Our world – our future“-Alarmismus an.

Aber es steckt mehr dahinter. Und Precht gibt sich mit seiner vitalen und durchaus überzeugenden Rhetorik alle Mühe, seine Standpunkte und im besten Sinne Denk-Alternativen den Lesern verständlich zu erklären. Ich gebe zu: Da war ich gerne lesend-lernend.

Natürlich nicht unkritisch. Aber mir gefällt, dass es bei Precht vor allem Fragen einer selbstreflektierten Haltung sind, die ihn umtreiben. „Werte“ in einer „wertegeleiteten Außenpolitik“ müssten dann, sollten sie auch glaubwürdig tragen, zuallererst selbst gelebt und an sich selbst gemessen werden.

Da hatte Precht in Kooperation mit Harald Welzer („Die vierte Gewalt“) schon vor fast genau zwei Jahren erste intellektuelle Kopfnüsse an die offenbar zu einseitigen berichtenden Medienlandschaftsgärtner von taz bis FAZ verteilt, als es um die „Wahrheitsfindung“ im außenpolitischen Kurs der Ampel-Regierung ging. „Umsicht, Vorurteilsfreiheit und Abstand sind das nützlichste Kapital der Wahrheitsfindung.“ Schreibt er ihnen wohl deshalb jetzt noch einmal neu ins journalistische Stammbuch.

Precht entwirft sein Konzept einer Außenpolitik, die sich seiner Ansicht nach an übergeordneten, supranationalen Zielen orientieren MUSS. Die Bedrohung der Menschheit durch Klimaveränderungen sieht er als größte Gefahr. Richtig. Wohl auch deshalb setzt er einen – ganz Kant verpflichtet – „universellen Humanismus“ an die erste Stelle seines Gegenentwurfs einer regierungsalternativen Werteskala. Interessen lägen zwar hinter bspw. militärischen Handlungen; Operationen – oder auch Kriege genannt – werden aber ganz im Stile des alten Kalten Krieges als „Kulturkämpfe“ und „Systemauseinandersetzungen“ bezeichnet geführt.

In vereinfachender Freund-Feind-Dichotomie. Hier die Guten, da die Bösen. „Demokratie gegen Autoritarismus“. Dafür muss (sich) aufgerüstet, bewaffnet und natürlich verteidigt werden. Fast scheint es, als befinde sich das aufgeheizte innenpolitische Klima in Wechselwirkung mit der Welt-Außenwelt. Da wird nur der Gegenseite alles Schlechte übergeholfen, und selbst läuft man mit der freiheitlich-demokratischen Blütenweißweste herum. Sie wissen genau, wie das entsprechende Reizwort in dem Zusammenhang lautet. Doppelstandards.

Precht dazu … „Wenn ein Krieg in Europa wichtiger ist als ein ebenso grausamer Krieg im Jemen, Kriegstote in Europa dramatischer als Hungertote in Afrika und Überschwemmungen infolge des Klimawandels erst dann ernst genommen werden, wenn sie das Ahrtal und Dürren die brandenburgischen Wälder heimsuchen, dann entspricht nichts davon unseren moralischen Grundsätzen.“ Das ließe sich fortsetzen.

Wenn Kriegstote in einer Region von strategischer Bedeutung für den „Westen“ (Den Begriff untersucht der Autor ebenfalls historisch-kritisch) weniger wichtig sind als bei einem NATO-Beitrittskandidaten, lassen sich Grundsätze, wie sie in bürgerlichen Verfassungen der Neuzeit fixiert wurden und auf die wir theoretisch so stolz sind, niemals glaubhaft und vorbildlich vermitteln.

Diese Fundamentalkritik geht an die Adresse der verantwortlichen Außenpolitikerin und deren Partei. Eine durchaus lesenswerte und nachdenklich-anregende Kritik. Empfehlenswert aus meiner Sicht. Trotz der großen weltpolitischen „Fenster“, die Precht immer wieder aufmacht.

Richard David Precht Das Jahrhundert der Toleranz. Plädoyer für eine wertegeleitete Außenpolitik Goldmann Verlag, München 2024, 22,00 Euro.

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