Noch ist es nicht ganz zu Ende, das Zeitalter der Braunkohle in Mitteldeutschland. Nur eins ist vorbei: die Zeit, in der ein Dorf nach dem anderen den Baggern zum Opfer fiel. Manche sorgten für einen medialen Aufschrei. Andere starben in aller Stille und nur in den Fotoalben der einstigen Bewohner haben sie überlebt. Oder im Fotoarchiv von Fotografen, die wie Christian Melms den verlassenen Ort noch ein letztes Mal besuchten.

So wie Großgrimma, das dem Mibrag-Tagebau Profen weichen musste. 1998 wurde das 1240 erstmals urkundlich erwähnte Dorf von seinen Bewohnern verlassen, 2006 wurde es dem Erdboden gleichgemacht. Devastiert, wie es verschleiernd im Amtsdeutsch heißt. Christian Melms war einer der Letzten, der das verlassene Dorf besuchte und die beklemmende Verlassenheit des Ortes in seinen Schwarz-Weiß-Fotografien festhielt.

Geblieben sind Erinnerungen

Zu sehen waren seine Aufnahmen schon in Ausstellungen. Der Lyrik-Verlag anderort wollte aber nicht nur einen einfachen Fotoband machen, der sich dann eingereiht hätte in die Bände anderer „verschwundener“ Orte im Bergbaurevier. Denn Melms’ Fotos sind nicht nur dokumentarisch wie die meisten Aufnahmen aus diesen Orten, sondern zutiefst poetisch. Aber wie macht man die Poesie sichtbar und nachspürbar, wenn heutige Leser gewohnt sind, in ganzen Fluten inszenierter Bilder zu ertrinken?

Poesie braucht Stille und einen Zugang zu unseren leiseren Gefühlen, dem Gespür für Verluste und Vergänglichkeit. Genau das steckt in Melms’ Bildern. Und so gewann der Verlag die Dichterin Charlotte van der Mele dafür, sich diesen Fotos auf ihre Weise zu nähern. Das Thema war ihr nicht fremd. Davon erzählt schon ihr Gedicht „Ich Schatzträgerin“, das sie schon 2021 in ihrem Buch „ich rede nicht von auferstehung“ veröffentlicht hat. Denn das Thema ist in Mitteldeutschland präsent. Viele hatten einst Verwandte und Bekannte in einem dieser verlorenen Orte, die man besucht hat, oft als Kind. Orte, die mit geliebten Menschen verbunden waren.

Und so sind sie in unserer Erinnerung bewahrt. Als Traumbild, angereichert mit Gerüchen, Szenen, Bildern von Häusern und Straßen, Stuben und Küchen. Lebensprall. Und natürlich all den unwiederbringlichen Szenen mit den Menschen, die da wohnten. Die man dort aber nicht mehr besuchen kann, weil der Ort nicht mehr da ist. Und es schmerzt, wenn man irgendwann gewahr wird, dass der letzte Abschied ein „Abschied ohne Wiederkehr“ war.

Die Ausstrahlungskraft verlassener Orte

Und genau so ist es auch in den Fotos von Christian Melms zu finden, auch wenn er hier nicht seiner eigenen Kindheit nachspürt, sondern ein Dorf ins Bild bannt, aus dem alle Bewohner erst vor Kurzem verschwunden sind. Doch es ist, als wären ihre Schritte, ihr Abschied noch präsent. Türen stehen offen, die Kopfsteinpflasterstraßen führen noch hinaus ins Land, der Kohleherd steht in der Küche und an der Kirche warnt ein Schild vor herunterfallenden Dachziegeln.

Doch der Blick in die Kirche zeigt dann, was passiert, wenn die Gemeinde schon lange nicht mehr kommt – die Vergänglichkeit ergreift den Raum. Die Kirchenbänke stehen verlassen, der Putz rieselt, „die erste Bank“ bleibt jetzt für immer leer.

Man nimmt es im Alltag nicht wirklich wahr, wie sehr Menschen ihre Orte prägen – und die Orte ihre Menschen. Deswegen wirken die Orte, wenn die Menschen fort sind, wie verlassene Bühnen. Eben noch scheinen sie über diese Straße gegangen zu sein, kurz gegrüßt über den Gartenzaun, hier die Hühner gefüttert zu haben, dort das Heu gerecht, die Kinder zum Essen gerufen. Als hingen die Geräusche ihrer Tätigkeiten noch in der Luft. Noch stärker als an den üblichen Lost Places. Denn noch stärker als diese waren Dörfer immer „heimat von geschichten / von leben / sterben /traurigkeit“ („dieses eine wort“).

Wer Dörfer abreißt, reißt mehr ab als nur ein paar alte Gehöfte, Friedhof und Kirche. Was gerade die Menschen besonders spüren, die hier mit Sack und Pack wegziehen mussten. „auch einsamkeit braucht worte“, schreibt die Dichterin, die sich in diese Bilder einfühlt und sich nur zu gut vorstellen kann, wie das hier noch war, als Menschen da waren. Vor ihrer Vertreibung. Denn das bleibt es letztendlich, egal, mit welchen wirtschaftlichen Kennziffern die Auslöschung eines Dorfes begründet wird. Schon gar in unseren Zeiten.

Katastrophale Folgen der fossilen Energie

Denn das hier ist keine Dorfgeschichte aus einer Zeit, als die Gesellschaft gar nicht anders konnte, als Kohle der einzige gut verfügbare Brennstoff für die Wirtschaft war. Großgrimma wurde zerstört, als alle Welt längst wusste, dass wir allesamt rausmüssen aus der Verbrennung fossiler Energieträger. Da war – 1997 – auch das Kyoto-Protokoll schon unterschrieben bzw. in Kraft getreten (2005), das erstmals völkerrechtlich verbindliche Zielwerte für den Treibhausgas-Ausstoß festlegte.

Nur mogelte sich Deutschland um das Protokoll und seine Zielwerte genauso herum wie die meisten anderen Staaten der Welt, dummdreist glaubend, fossile Energie sei unschlagbar billig. Obwohl einem jeder Klimaforscher vorrechnen konnte, welche heillosen Katastrophen die Aufheizung der Atmosphäre mit sich bringen würde.

Und das wussten die Bergbauunternehmen, das wussten die Regierenden. Das wussten auch die Menschen in den Bergbauregionen. Oder poetisch ausgedrückt: „geduldig aber ist / der zorn der göttlichen / und groß die gier / der flammen wie / der menschen die / dem brennstoff untertage / ihren herd erst opfern / dann ihre hütte / die sie sich gebaut“ – Pause zum Nachdenken, und dann: „im zweifel auch die erde“. („um dessen glut du“)

Das verschwundene Dorf steht stellvertretend

Die Gedichte schaffen die doppelte und dreifache Ebene zu dem, was die Fotos zeigen. Die Fotos leben auch noch von dem Moment, dass das nicht das Ende sein muss, dass die Menschen hier wieder einziehen könnten – auch wenn wir alle um das Ende von Großgrimma wissen. Aber die Gedichte erzählen von dem, was die Fortgegangenen nicht mehr erzählen können.

Denn ihnen fehlt fortan der Ort für all die Geschichten, in denen Menschen sich aufwühlen können, ein Lebe lang plagen in „enge und familienbanden / für die / die kamen oder gingen / voll heimweh oder groll“ („von weg und ziel“)

Das verschwundene Dorf steht für hunderte verschwundene Dörfer. Und auch all die Orte, die heute auf andere Weise ihre Geschichte und ihre Menschen verlieren. Orte, die sich bei den Fortgegangenen als erinnerte Landschaft eingegraben haben. Und als schwelendes Gefühl von Heimat und Heimatlosigkeit. Nichts macht deutlicher, wie ortlos wir geworden sind, seit wir uns den Zwecken und Kosten unterworfen haben, die unsere Welt verwerten. Und damit entwerten.

Und so kann man hier im Grunde doppelt über altes Kopfsteinpflaster durch ein leeres Dorf laufen – mit den Fotos von Christian Melms und den sehr nachdenklichen Gedichten von Charlotte van der Mele.

Christian Melms, Charlotte van der Mele „Über Kopfsteinpflaster. Fotopoetische Erinnerungen an einen abgebaggerten Ort“, anderort – Verlag für Lyrik, Leipzig 2024, 12 Euro.

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