Es gibt zwei Sätze in diesem dritten Buch aus der „Chemnitzer Trilogie“ von Jan Kuhlbrodt, die geradezu aphoristisch auf den Punkt bringen, dass es im „Schneckenparadies“ im Grunde um ein Land geht, das schlicht daran gescheitert ist, seinen Bürgern die Freude am Leben im Käfig beizubringen. Oder in der alten Badewanne, in die der kleine Jan mit seinen Nachbarsfreunden die Schnecken gesetzt hat, die sie am Zaum gefunden haben.

Der erste Satz, den Jan Kuhlbrodt im Zusammenhang mit den Veränderungen des Jahres 1989 schreibt, lautet: „Ein Staat erzeugt die Untertanen, die er verdient.“ Zuvor hatten ihn zwei Herren in unauffälliger Kleidung mehr oder weniger herbeizitiert, einer Wohnungsdurchsuchung als Zeuge beizuwohnen. Die Wohnung gehörte Nachbarn, die in diesem Sommer 1989 „in den Westen abgehauen“ waren.

Eine scheinbar ganz trockene Szene, ganz unaufgeregt erzählt, was ja eine der Stärken von Kuhlbrodts Topografie der Erinnerung ist. Aber es steckt die ganze graue Übergriffigkeit eines Staates darin, der seine Bürger gängelt, diszipliniert und permanent kontrolliert. Und ihnen damit den Untertanengeist einimpft, den staatliche Sittenwächter so lieben, weil er den Menschen ihren Stolz und ihren Widerspruchsgeist nimmt.

Der zweite Satz benennt dann jenen Punkt, der bis heute als Fehlstelle in der deutsch-deutschen Erinnerung wahrzunehmen ist, übertönt, überrollt, ignoriert. Auch der hat mit der DDR zu tun: „Es gibt keinen Grund, der DDR nachzutrauern, aber es ist schade um die wenigen Wochen, in denen es sie nicht gab.“

Eine abgewickelte Revolution

Es sind die Wochen, in denen tatsächlich für viele Bewohner des Landes denkbar war, dass man dieses Land auch anders denken könnte, selbst gestaltet von seinen Bürgern. Jene Phase, in der die Revolution tatsächlich noch als Revolution erlebbar war, als Raum der Möglichkeiten – die auch Jan Kuhlbrodt als Mitgründer des StudentInnenrats der Universität Leipzig miterlebte. Und die dann mit der Ankunft der Händlerkarawanen aus dem Westen endete, den brüllenden Schlägertrupps der Nazis auf den Straßen und dem Ende von Millionen Berufskarrieren, die mitsamt der DDR-Industrie „abgewickelt“ wurden.

Ein Moment, den Kuhlbrodt nutzte, nachdem er in Leipzig noch Politische Ökonomie studiert hatte, nach Frankfurt am Main zu wechseln, um dort nun das zu studieren, was ihn in diesen Jahren tatsächlich interessierte: Philosophie und Soziologie, Adorno und Habermas. Wohl wissend, dass er in eine völlig andere Welt geraten würde. Was er in seinem tatsächlich zweiten Band der „Chemnitzer Trilogie“ thematisch um seine beiden Freunde gestaltet – für den teilweise doch ein bisschen aufmüpfigen DDR-Teil, in dem Thilo eine prägende Rolle für den eher zurückhaltenden Chemnitzer Jungen spielte.

Im anschließenden Teil nach der „Wende“ ist es sein Frankfurter Freund Bernd, der ihm durchaus spiegelt, für wie exotisch und fremd die westdeutschen Gleichaltrigen diesen seltsamen Osten eingeschätzt haben. Eine Einschätzung, die sich bekanntlich bis heute kaum geändert hat.

Der Osten ist das Fremde, teils Unheimliche geblieben. Man projiziert all seine Vorurteile auf dieses Drittel Deutschlands – und zementiert damit das Nichtdazugehörende, Fremde. Und die nur zu berechtigen Gefühle der so zum Anderen erklärten Ostdeutschen, nicht dazuzugehören. Eine Kränkung für Generationen. Wobei Jan Kuhlbrodt gerade im Bernd-Kapitel versucht, diese Befremdung poetisch zu erfassen.

Wobei er in Frankfurt ja einem ganz konkreten Milieu begegnet, jenem linken Milieu, das sich in endlosen Plenen noch immer um des Kaisers Bart steiten konnte und die einzig richtige Strategie, den Traum vom Kommunismus Realität werden zu lassen. Das gerade gescheiterte Experiment des Sozialismus in der DDR interessierte da nicht wirklich.

Das Milieu beschäftigte sich emsig mit sich selbst und schrieb Volxküche mit „x“, „weil das mit dem Volk so eine Sache ist. Man wollte ihm eigentlich nicht angehören. Das Volk waren die anderen, der Durchschnitt, den man verachtete und dem man sich überlegen fühlte.“

Die Tragik der erfüllten Träume

Was dann auch den Titel dieses dritten Kapitels schön beleuchtet: „Sterbende Staaten oder ein dritter Versuch“. Denn was die Frankfurter Revolutionäre noch nicht verstanden hatten, was aber längst unbarmherzig auch ihr Land veränderte, war die Tatsache, dass mit der deutschen Einheit auch die alte Bundesrepublik mit all ihren geliebten Milieus Geschichte war. Nur ging die Veränderung im Westen anders, stiller und hintergründiger vor sich, während sie im Osten ganze Landschaften und Lebensläufe rasierte.

Im vierten Kapitel taucht auch Bernd wieder auf, der sich längst zu einem emsigen Archivar entwickelt hat und nun im englischen St. Albans den Nachlass von Stanley Kubrick sortiert, dessen Film „Clockwork Orange“ der Autor nie zu Ende schauen konnte. Das Ende wollte er gar nicht wissen. Genauso, wie er in DDR-Zeiten den Reclam-Band von „On the Road“ nie zu Ende las. Dafür lieber trampte wie so viele Altersgenossen, das Buch von Jack Kerouac im Rucksack.

Und das kann man durchaus als Leitmotiv nehmen für Jan Kuhlbrodts Rekapitulation gelebten Lebens. Mit „Schneckenparadies“ schließt er ja die Lücke zwischen den Chemnitzer Kindheitserinnerungen „Vor der Schrift“ und seinem Buch „Krüppelparadies“, in dem er sein Leben mit MS schildert, nicht wirklich. Er tut es eher assoziativ und macht damit die Sprunghaftigkeit unserer Erinnerungen deutlich. An manche Geschehnisse erinnert man sich tatsächlich erst, wenn einen jemand daran erinnert, dass da noch ein Koffer voller Bilder irgendwo in der hintersten Ecke des Speichers steht.

Der Glanz der Verheißung

Man lässt die Dinge hinter sich, auch die, die einen damals noch richtig begeistert haben. Eine Ruhelosigkeit erfüllt das Leben, auch wenn man in seinem Alltag oft das Gefühl hat, dass eigentlich lange nichts Einschneidendes mehr passiert ist.

Denn eigentlich spricht der Autor ja von sich selbst, wenn er über seinen fernen Freund Bernd in St. Albans schreibt: „Kein Wunder, dass Bernd in St. Albans sitzt und es kaum aushält. Er hat lange darauf hingearbeitet, dort zu sein. Aber immer, wenn sich etwas realisiert, ein Wunsch, eine Vorstellung, eine Utopie, wenn etwas Wahrheit wird, was lange Zeit nur Denkmöglichkeit war, verliert es an Glanz, den Glanz, den die Sache aus ihrer Verheißung zog.“

Was sich scheinbar wie ein Assoziationsteppich der Erinnerungen an die vergangene Zeit liest, voller Bilder und kleiner, prägender Ereignisse, wird so auf einmal zu einem Zeitbild. Denn was für Bernd und seine verwirklichten Träume gilt, das gilt ja auch für uns andere. Auch für all jene, die derzeit scheinbar der so schwer errungenen Demokratie so überdrüssig scheinen, dass ihnen alles recht ist, was nur ein Ende des scheinbar unaushaltbaren Jetzt verspricht. Ohne daran zu denken, was dann draus folgt. So, wie ja auch der „kommunistische Gedanke“ am Ende eine „reale Politik an Diktatur und Vernichtung hervorgebracht hat.“

So dicht kann das Poetische am Politischen sein, kann ein Autor in den Lebensläufen seiner Freunde die Tragik der verwirklichten Träume schildern.

„Das Tragische ist hier, dass die Realisierung der Idee die Idee selbst vernichtet oder wenigstens unbrauchbar gemacht hat.“ Da kommt er dann auf Platon. Den alten Griechen erging es wohl auch nicht anders. Nicht anders als den Kindern, die sich erst gewaltig freuen über die lang ersehnten Dinge unterm Weihnachtsbaum, doch in die unbändige Freude – so erinnert sich Kuhlbrodt – mischte sich „immer auch eine kleine Wehmut, aus Enttäuschung darüber, dass die Realität etwas weniger schillernd war als das Wunschbild, und dass sie es zum Verschwinden gebracht hat.“

Die Grenzen des Jetzt

Das merkt er so beiläufig an, als ginge es tatsächlich nur um die Sehnsüchte unserer Kindheit. Aber gerade weil er es so beiläufig feststellt, wird deutlicher, was er in seiner assoziativen Reise durch jene Zeit erzählt, die die Kindheit mit der Gegenwart verbindet, dass diese Enttäuschung über die erfüllten Träume tatsächlich das Leben ausmachen. Und nicht nur das einzelne, sondern eben auch das Leben einer ganzen Gesellschaft, die sich im einst erwünschten Jetzt eingerichtet hat und sich jetzt über die Glanzlosigkeit dieses einst so gewünschten Jetzt ärgert.

Und das macht die einen zu Klagenden, die ihre Unzufriedenheit mit dem immerfort äußern, was sie bekommen haben (und glattweg „vergessen”, dass sie selbst es waren, die es so wollten), und die anderen zu immerfort Getriebenen macht. So wie Bernd: „Wahrscheinlich war es jener Glanz, den Bernd zu halten sucht. Der Glanz, der die Differenz ausmacht zwischen Wunsch und Wirklichkeit und der für Bernd der Unterschied ums Ganze ist. Am Ende steht ein Getriebener.“

Schreibt der Autor. Der ja nun auf die harte Tour lernen musste, dass dem eigenen Wünschen und Wollen harte Grenzen gesetzt sind. Wobei nicht zu überlesen ist, dass er sich auch ein wenig in der Rolle von Bernd sieht. Wie könnte es anders sein? Man sieht sich in seinen Freunden, entdeckt in ihrem Handeln das eigene Vertraute, manchmal auch Verdrängte.

Denn wir standen immer vor der Wahl. Und im Nachhinein ist oft schwer auszumachen, warum wir uns so oder so entschieden haben – entweder ruhiger wurden und uns verlässliche Lebensrahmen geschaffen haben. Oder – wie Bernd – die Grenzen des Jetzt nie akzeptiert haben. Was Folgen hat, auch tragische. „Auch Liebesbeziehungen hat Bernd immer schnell beendet, weil sie ihm zu profan wurden. Er muss seinen Gegenstand anbeten können, sonst verliert er das Interesse. Wie Pygmalion …“

Das ist nicht nur für die Frauen tragisch, die ja ganz gewiss nicht immer nur die Angebetete und Glorifizierte sein wollen. Sondern auch für den, der das Profane, den ganz realen Alltag mit seiner ganz unheiligen Gewöhnlichkeit nicht aushalten kann oder will.

Profane Wirklichkeiten

Und gerade das ist ja der doppelte und dreifache Boden in diesem zweiten Band der „Chemnitzer Trilogie“: Dass das für die Leben der Umtriebigen genauso gilt wie für uns alle, die wir so verinnerlicht haben, dass alles immer außergewöhnlich, mächtig gewaltig und unterhaltsam sein muss. Und das Leben nur aus lauter Höhepunkten bestehen soll, statt all der Stunden, in denen wir ganz gewöhnliche Menschen sind.

Und so gilt das Bild mit den Schnecken in der Badewanne im Hof, die die Kinder mit leckeren Blättern versorgt haben, wohl nicht nur für den Ausbruch der Ostdeutschen aus ihrem Schneckenparadies 1989, sondern auch für die Gegenwart und ihre Fluchtreflexe. Und das Getriebensein einer Gesellschaft, die sich mit ihrer eigenen profanen Wirklichkeit nicht abzufinden bereit ist.

Obwohl einem gerade die Erinnerung zeigt, dass es das Gewöhnliche, Profane und scheinbar völlig Aufregungslose ist, das am Ende getragen hat, das all unsere Wünsche geborgen hat und uns bereichert hat, selbst dann, wenn wir noch von Revolutionen träumten. Es bleiben die Menschen, die wir tatsächlich geliebt haben und lieben. Und die Freunde, mit denen uns gerade das verbindet, was aus der Nähe oft nicht auszuhalten war.

Falsche Erinnerungslandschaften

Ein Buch scheinbar voller ganz privater Geschichten. Aber Kuhlbrodt weiß, wie Geschichten Bedeutung gewinnen – und warum auch unsere Brüder und Schwestern im älteren Teil der Bundesrepublik sich ihre Geschichte falsch erzählen.

Denn in Erinnerung bleiben die Aufreger, das, was eigentlich alles infrage gestellt hat, so wie die Geschichte der RAF, die in weiten Kreisen noch heute die Erinnerungslandschaft des Westens überstrahlt, „die Geschichte der BRD wäre nur hinsichtlich der RAF von Bedeutung, als habe es nichts gegeben als Baader und Ensslin und darüber im Goldrahmen die heilige Ulrike Maria, als hätte sie Immendorff fürs Kanzleramt porträtiert. Zwanzig Jahre Geschichte als überschaubare Abfolge von Attentaten, Flugzeugentführungen und Botschaftsbesetzungen.“

So kann sich ein ganzes Land die falsche Geschichte erzählen, nur weil dieser Teil lauter, schriller und filmreifer war als alles andere. So verliebt man sich in Filmdiven und vergisst dabei, dass man eine echte Partnerin fürs Leben sucht. So erinnern wir uns an die blendenden Aufreger der Jugend – aber die stillen Phasen, in denen wir tatsächlich unser jetziges Selbst gefunden und gestärkt haben, sind vergessen. Bis uns jemand dran erinnert und zeigt, was für Schätze da in der vergessenen Truhe auf dem Speicher stecken.

Das ist dann eine andere Art, sein Leben zu erzählen. Mit überraschenden Einblicken in das, was nun draus geworden ist.

Jan Kuhlbrodt „Schneckenparadies“ Gans Verlag, Berlin 2024, 24 Euro.

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