Eigentlich war alles schon einmal da. Und zumindest die Männer in ihren Posen der Macht haben ganz offensichtlich seit 2.000 Jahren nichts hinzugelernt. Sie spielen noch immer die alten Spiele aus Stolz und Eitelkeit und Rache. Und zerstören dabei die Welt. Die antiken Dichtungen, auf die Thomas Böhme zurückgreift, geben davon ein beredtes Zeugnis.

Und zwar egal, ob die letztlich sinnlosen Metzeleien in Homers „Illias“ oder die Gesänge des Orpheus, der die Argonauten dereinst auf der Reise zum Goldenen Vlies begleitet haben soll. Und auch wenn das alles mythisch und sagenhaft ist, erzählt es eben doch von den Erfahrungen der alten Griechen mit den „Heldentaten“ ihrer Zeitgenossen, die keine Skrupel kannten, mit Feuer und Schwert über die Fremden herzufallen. Wer die Mythen durchkämmt, findet das Unbehagen über die blutigen Taten der Kriegsanstifter.

Die – wenn man genau hinschaut – genauso tickten wie die Kriegsherren der Gegenwart. „Die Sterne tragen wieder Kriegsbemalung“, schreibt der Leipziger Dichter Thomas Böhme in seinem Gedicht „Unsichere Zeichen“. „Der Wind treibt finstre Fahnen vor sich her / und Schiffe irren ohne Kurs durchs Nebelmeer.“

Es ist ein Gedicht, das nicht bei den offensichtlichen Kriegsinszenierungen stehen bleibt, sondern dahinter schaut. Mit dem Blick des Sängers, der – wie Orpheus – gelernt hat, dass in einer Welt der Menschen alles mit allem zusammenhängt. Da rüsten die Krieger eben nicht einfach so ihre Flotten. Denn Kriege sind eben auch ein Ergebnis verwilderter Debatten, zunehmenden Lärms,von  Kaffeesatzleserei und schrillen Klagegesängen der Leute an den Börsen. Wer eine Welt dem irren Treiben blinder Gier überlässt, bekommt ein Zeitalter voller Katastrophen und scheinbar „alternativloser“ Entscheidungen. Es sind die Alternativlosigkeiten, die in Exzess und Eskalation treiben. Und die Friedlichen schauen zu und sind entsetzt.

Zwischen den Kriegen

Und sie werden, wie Thomas Böhme, das Gefühl nicht los, dass wir nun doch wieder „zwischen den Kriegen“ leben, in denen das Leben scheinbar ganz friedlich seinen Gang geht. „Die Zahl der Radfahrer hat sich vervielfacht / Die Sonne leckt an den frischen Fassaden …“ Manchmal darf man ja auch mit Böhme staunen, wieviel Poesie in einem ganz gewöhnlichen (friedlichen) Alltag steckt. Als hielten die Menschen so viel Poesie nicht aus. Wehrlos denen gegenüber, die immer nur zu gern bereit sind, die große Keule rauszuholen und dreinzuschlagen. Mit Gewalt zu drohen. In der antiken Mythenwelt mit dem Gott Mars assoziiert. Im Gedicht „Mars starrt zum Fenster herein“ taucht er auf, starrt direkt auf den unordentlichen Arbeitstisch des Dichters.

Der seine griechischen Götter nur zu gut kennt. Mars ist kein rationaler Gottt: „Aber noch starrt er nur / aus blutunterlaufenen Augen / und ohne ein Wort zu begeifen.“

Ein paar Worte an der richtigen Stelle – und das Unfassbare an lärmender Gegenwart wird greifbar. Oder besser gesagt: sagbar. Greifbar schon deshalb nicht, weil die Gewalttätigen und Kriegsstifter in Nebeln reden, falsche Parolen verbreiten, Dunkelheit schüren und Bosheit und blinden Hass. Sie können nicht anders. Seit altersher nicht. Alexander und Hadrian tauchen auf – ein blutvergießender Kaiser, der sich für Gott hält, und ein Eroberer, der in seinen Eroberungen scheitert. Da ist nichts Großes. Am Ende sind auch die Übermächtigen nur sterbliche Gestalten und einsam. All ihr Sterben bestenfalls Stoff für Sänger und Historiker, die tatsächlich nur zu gern glauben, mutwillige Männer veränderten die Welt. Obwohl sie nur Fabeln boten, blutige Schlagzeilen.

Während andere dafür sorgten, dass die Getreideschiffe aus Ägypten pünktlich kamen und das reiche Rom seinen Traum von Außergewöhnlichkeit träumen konnte. Und dann Jahrhunderte hinsiechte. „Die eine gewonnene Schlacht wiegt / die dreizehn verlorenen nicht auf“, heißt es in „Roms langes Sterben”. Nur um den Ruhmgesang des Siegers gleich wieder zu entlarven: „Doch ein Sieg taugt für sieben Säulen / Die Leiche des Kindkaisers treibt den Tiber hinab.“

Unter närrischen Göttern

Das macht – neben der Freude an der bildgeladenen Sprache – auch Lust, wieder einzutauchen in antike Geschichte. Und antike Mythen. Und die Gegenwart darin zu entdecken, dumm, blind, gleichgültig und kriegsberauscht. Als hätte sich nichts geändert. Als hätten wir nichts daraus gelernt. Während die Gedichte, die mit den antiken Stoffen spielen, das Tor in diesen Gedichtband öffnen, werden die Gedichte beim Blättern zunehmend persönlicher und gegenwärtiger.

Die Götter dürfen durchaus noch einmal auftauchen. Doch sie werden „verlachte Greise auf Schaukelpferden – / in der Rumpelkammer Erinnerung / tragen sie ihre Fehden mit Stöcken aus“. („Limbus der Götter“) Wir wissen es doch, dass die Götter immer herhalten mussten, wenn Menschen sich benahmen, als wären sie selber welche. Rücksichtslos plündernd, brandschatzend, fressend und verzehrend. Längst selbst so „gottgleich“, dass sie die ganze Erde in eine Wüste verwandeln können. Sage keiner, unsere Zeit sei nicht genauso groß und unbelehrbar wie die der Argonauten. In „Die Windhose“ lässt Böhme zu Bildern werden, wie die Naturgewalt das ganz und gar nicht friedliche Treiben der Menschen beendet, kentern und wegtreiben lässt. Danach „verebben jäh die Geräusche“.

Was für eine schöne Zeile. Die ein Dichter schreiben muss, der weiß, wie wertvoll Stille ist. Und wie taub wir alle werden im täglichen Gelärme. Sodass wir auch nicht mehr denken können. Und zur Besinnung erst gar nicht kommen. Was haben die alte Göttermythen mit uns zu tun?

Eine Menge. Ganz offensichtlich. Aber das spürt man nur, wenn man sie kennt und immer wieder fasziniert in den Texten der antiken Autoren gelesen hat und gemerkt hat, dass das alles auch unsere Welt beschreibt – mit genauso blinden und närrischen Göttern und Sängern. Man kann sie wüten sehen in der großen Politik, wo die Wüteriche Aufmerksamkeit und Beifall bekommen. Als wäre all das nur ein herrliches Schauspiel, inszeniert für die staunenden Besucher im Welt-Theater. Als wäre das alles nur Inszenierung und beträfe uns nicht.

Wie das klirrt, wie das scheppert!

„Ein Schwan wird in die Kulisse geschoben / Der bejubelte Dichter vergißt seinen Text“, heißt es in „Laterna Magica“, die dieses, unser verträumtes Schauen auf die Welt thematisiert. Wir lassen uns von den großen Dramen faszinieren – und vergessen dabei immer wieder, dass es um unsere Welt und unser Leben geht. Das Treiben der Götter spiegelt unser eigenes Treiben. Durchaus auch verspielt wie in „Von Wasserschlössern“ und „Entfesselte Amoretten“. Welch letztere freilich auch auf wilde Art praktizieren, wie Götter in der Welt hausen, selbst dann, wenn es nur um eine Schlammschlacht bei Affenhitze geht, die einfach mal so aus dem Ruder läuft: „Wie das klirrt, wie das scheppert! / Wie die Spiegel zersplittern! / Wie das alte Gemäuer vor Wollust erzittert!“

Es ist der Blick des Dichters, der hier trägt und zeigt, wie sehr wir die Welt doch immer als Theater und Inszenierung begreifen. Und die Menschen darin als Schauspieler mit Rollen. Auch uns selbst – wie beim Blick in den Spiegel in „Gedicht & Gesicht“. Was sehen wir, wenn wir uns da ansehen? Wie fremd sind wir uns? Wie erschrecken wir zuweilen, wenn wir uns wahrnehmen im Spiegel? „Heute kam ich mir / vor wie ein Schauspieler, der ein Schaukelpferd / reitet und im Spiegel den Augen Richards des III. / begegnet, so argwöhnisch unter der Krokuskrone / wie nur Augen von Schauspielern sind, die ihre / Rolle ernst nehmen.“

Man darf hier wieder an die schaukelpferdreitenden Götter denken. Die Götter sind ein Spiegel für uns. Auch im ganz Persönlichen, da, wo wir erschrocken merken, dass wir auch (nur) eine Rolle spielen. Und nicht immer die, die wir uns ausgesucht hätten, hätte uns einer gefragt.

Ein Haus ohne Penaten

Aber dazu braucht man den strengen Blick des Dichters, der nie aufhört, egal, ob er nun in antiken Welten unterwegs ist oder in der Pariser Unterwelt, den doppelten Boden im menschlichen Treiben zu sehen, diese menschliche Lust, falsche Rollen zu spielen, sich aufzuführen wie ein Gott – gedankenlos, rücksichtslos, großmäulig. Und dabei zu vergessen, wie sehr wir dabei oft jene verletzen, die uns am wichtigsten sind. Mit „Abbitte“ endet dieser Gedichtband in einem Gedicht über die Mutter des Dichters, ein Gedicht, das auch davon lebt, dass wir die Gleichgültigkeiten unserer Jugend nie werden gut machen können. Wir ach so leichtfertigen Götter, die mit der Welt machen können, was wir wollen.

Und hinterher jammern, dass wir alles zerstört haben. „Jede Kränkung hatte in ihrem Gesicht gewütet. / Ich konnte keine davon zurücknehmen.“

Ein Gedicht, das sich mit dem Gedicht „Die Penaten“ berührt. Jenen Hausgeistern, die mit milden Gaben zufrieden sind, Hauptsache, wir ehren sie. „Erst ihre Abwesenheit würde das Haus veröden. (…) Ja, sie zeigen sich in der Not / und ersinnen für uns und wie in den Romanen / ein versöhnliches Ende.“

Womit sich der Kreis schließt. Denn wenn Mars regiert, gibt es kein versöhnliches Ende. Wir bewundern die grotesken Clowns auf der große Bühne – und vergessen dabei, dass sie keine Sinn haben für versöhnliche Enden. Für Versöhnung schon gar nicht. Daran hat sich seit Homer gar nichts geändert. Aber wer liest schon Homer? Oder weiß, warum die Argonauten Orpheus mitschleppten auf ihre Fahrt?

Für Dichter, die wie Thomas Böhme belesen und bewandert sind in diesen uralten Geschichten, durchdringen sich die Zeiten. In der Vergangenheit spiegelt sich eine ebenso vom Rausch gepackte Gegenwart. Und wer kümmert sich schon um die Penaten – oder die von Gram gezeichneten Mütter, wenn man poltern, trollen und lauthals zürnen kann? Gottgleich und dennoch genauso blind wie Mars, der durchs Fenster schaut.

Thomas Böhme „Orpheussplitter“, Verlag der 9 Reiche, Berlin 2024, 9 Euro

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