Er gehört zu den bekanntesten Göttern des germanischen Götterkosmos. Längst ist er auch zur Figur in Fantasy-Romanen, Filmen und Comics geworden. In der Metal-Szene wird er längst in hunderten Liedern besungen. Und in esoterischen und rechtsextreme Kreisen wurde er zur Symbolfigur. Aber das alles hat mit dem ursprünglichen Gott nicht mehr allzu viel zu tun. Dafür viel mit dem Erfindergeist von Autoren und spekulierenden Forschern.
Von den eigentlichen Götterwelten der Germanen wissen wir fast nichts, kann Klaus Böldl, Professor für skandinavische Kultur- und Literaturgeschichte des Mittelalters in Kiel, feststellen. Schriftliche Zeugnisse sind selten. Und fast alle stammen sie aus der Zeit nach der Christianisierung. Von „dunklen Anfängen“ schreibt Böldl.
Denn als sich die Gelehrten des Mittelalters für die alten germanischen Götterwelten zu interessieren begannen, hatten sie nur wenige Quellen, auf die sie zugreifen konnten. Und eine war schon zu ihrer Zeit alles andere als ein realistischer Augenzeugenbericht über die Glaubenspraxis der Germanen: die „Germania“ von Tacitus. Die aber bis weit in die Neuzeit die Vorstellung der meisten europäischen Gelehrten davon prägte, was sie für ein greifbares Bild der Lebenswelt der Germanen hielten.
Gern mit Zuschreibungen, die bis heute wirken, etwa dass die Germanen ein einheitlicher Volksstamm gewesen wären, mit einem gemeinsamen Götterhimmel. Was so mit höchster Wahrscheinlichkeit eben nicht stimmt. Eher deuten auch alte Ortsnamen und Bodenfunde darauf hin, dass die germanischen Stämme zwar einen großen Götterhimmel hatten.
Aber nicht überall spielte Odin die Rolle des wichtigsten Gottes. Möglicherweise kannten die Germanen nicht einmal die Idee eines obersten Gottes, ganz bestimmt aber nicht eine Konstruktion wie den Monotheismus, den gerade protestantische Autoren später dem alten Odin gern zuschrieben.
Ein Urahne für die Fürsten
Böldls Buch ist auch eine Geschichte der Geschichtskonstruktionen, mit denen sich Herrscher und Gelehrte die eigene Geschichte zurechtbastelten. Bekannt auch aus dem Alten Rom, wo man seinen Ursprung auf Troja zurückführte – eine Mode, der später auch viele mitteleuropäische Herrscher folgten. Und dass Odin so eine zentrale Rolle in den Überlieferungen spielt, hat eben auch damit zu tun, dass er auch als zentrale Gründergestalt norwegischer Fürstengeschlechter diente.
Das Meiste, was wir heute über Odin wissen, entstammt der in Island bewahrten Skaldendichtung und der von Snorri Sturleson aufgeschriebenen „Edda“, verschriftlicht fast 200 Jahre, nachdem die Isländer – friedlich – das Christentum angenommen hatten. Was natürlich Folgen für die alten Götterlegenden hatte, denn zwangsläufig war ihre Verschriftlichung schon längst von christlichen Motiven und Moralvorstellungen geprägt. Gerade an der „Edda“ lässt sich das nachweisen.
Es ist kein homogener Stoff, der uns da die komplette Erzählwelt germanischer Götter überliefert. Von einer Gültigkeit für die gesamte germanische Welt ganz zu schweigen, auch wenn gerade deutsche Autoren im 18. und 19. Jahrhundert die isländischen Sagas wie selbstverständlich für eine Interpretation germanischer Glaubenswelten okkupierten.
Was umso leichter fiel, da einige Gestalten der deutschen Sagenwelt – wie der gehörnte Siegfried – mit Figuren aus dem isländischen Saga-Kosmos korrespondierten, möglicherweise identisch waren.
Ein Gott mit vielen Gesichtern
Aber schon die einleitenden Kapitel des Buches lassen ahnen, dass die Glaubenswelten der vielen verschiedenen germanischen Stämme durchaus differenzierter gewesen sein dürften. Und so auch das Verständnis der Rolle der verschiedenen Götter. Auch Odins Rolle ist nicht so eindeutig, wie sie in Comics oder Metal-Songs heute dargestellt wird.
In den Merseburger Zaubersprüchen taucht er als Heiler auf. Die alten Gesänge erzählen davon, wie er die Runen in die Welt brachte, wie er zum Stammvater der Skalden wurde, wie er aber auch eifrig Kinder zeugte, von seinen Schlachten prahlte, aber ein Leben lang auch nach Weisheit suchte.
Dabei halfen ihm der abgetrennte Kopf des Riesen Mimir und seine Begleiter, die Raben Hugin und Munin. Aber um Weisheit zu erlangen, hat er auch ein Auge geopfert, sodass Statuen, die einen Einäugigen zeigen, möglicherweise Odin darstellen.
Was auch nicht so eindeutig ist, wie Böldl betont und dabei deutliche Spitzen gegen diverse Archäologen einbaut, die ihre Funde nur zu gern fantasiereich gedeutet und mit eigenen Legenden versehen haben. Und damit entsprechenden Schaden in der Geschichtswissenschaft angerichtet haben. Denn wenn sich Interpretationen in der Forschung erst einmal festgesetzt haben, dann können sie ganze Forschergenerationen in die Irre führen.
Erst recht, wenn sie auch noch von der Politik instrumentalisiert werden, wie das im NS-Reich passierte (und vorher schon in der völkischen Bewegung) – und dort nicht aufhörte. Denn die Altertumsforscher, die in der Nazizeit ihr Fach dominierten, prägten ja oft auch nach dessen Ende noch Jahrzehnte lang die Forschungsperspektive.
Und mancher Überschwang stammt ausgerechnet aus jener Zeit, als sich die Geschichtswissenschaft tatsächlich erst entwickelte und Forscher verschiedener Disziplinen für sich entdeckten, dass die Geschichte früherer Zeiten aus Quellen und Funden rekonstruierbar sein könnte. Aber sie schossen oft genug übers Ziel hinaus – so wie auch Jakob Grimm mit seiner 1835 veröffentlichten „Deutschen Mythologie“. Die Nachwirkungen hatte. Genauso wie die ebenso folgenreichen Werke von Felix Dahn oder C. G. Jung.
Der konstruierte Odin
Im 19. Jahrhundert sorgten fantasievolle Autoren dann erst recht dafür, dass Odin so etwas wie „der Gott der Deutschen“ wurde und sich mit den Singspielen Richard Wagners eine geradezu romantische Vorstellung vom Götterhimmel der Germanen etablierte, die bis heute fortwirkt. Samt seltsamen Kostümen und nach wie vor christlich konnotierter Leidensgeschichten.
Und so ist dann eben auch unübersehbar, dass die im 20. Jahrhundert endgültig ausufernde Odin-Rezeption mit den ursprünglichen Vorstellungen der Germanen von diesem Gott nicht mehr viel zu tun hatte. Gar seiner Vielschichtigkeit und den Uneindeutigkeiten, die auch diesen Gott ausmachen. Sehr deutlich wird, dass es neuzeitlichen Autoren letztlich fast unmöglich ist, sich überhaupt in die Vorstellungswelt der Menschen zu versetzen, die im erste Jahrtausend mit diesen Göttern lebten.
Sie vielleicht anbeteten, vielleicht auch nicht. Vielleicht in heiligen Hainen, vielleicht auch nur in den Festhallen der Fürsten (die möglicherweise das Vorbild für Wallhall wurden), wo die Skalden die hochartifiziellen Lieder sangen, von denen nur ein Bruchteil schriftlich überliefert ist. Denn die Sagenwelt der Germanen und auch die der Skandinavier war eine mündliche. Und nur in Island überlebte die Skaldentradition auch die Einführung des Christentums, sodass Snorri Sturleson tatsächlich noch aus der mündlich überlieferten Tradition schöpfen konnte.
Was eigentlich schon deutlich macht, dass eine Wiedererweckung der germanischen Götteranbetung schlicht unmöglich ist, auch wenn es esoterische und neopagane Kulte probieren. Aber Böldl kennt ja die Literatur und kann auch immer wieder auch auf diverse Historiker verweisen, die letztlich das Bild der alten Götter erst konstruiert haben, das heute die populären Medien dominiert.
Und spätestens, wenn es um rechtsextremen Metal geht, wird deutlich, dass die Versatzstücke aus der isländischen Edda letztlich nur dazu dienen, eine sozialdarwinistische Ideologie zu transportieren. Und damit auch die Bilder einer homogenen Volksgemeinschaft, die auch die alten Isländer und Norweger nie waren. Mit einem realen Geschichtsbezug hat das nichts zu tun – hatte es auch nie zu tun.
Die vagen Konturen einer Glaubenswelt
Was dann einen der Gründe umreißt, warum Klaus Böldl sich animiert sah, einmal eine möglichst gründliche Odin-Geschichte zu schreiben. Erhellend auch für alle, die bislang nur die in diversen Ausgaben veröffentlichten „germanischen Götter- und Heldensagen“ verschiedener Autoren kennen, aber nicht die tatsächliche Befundlage der Wissenschaft.
Was natürlich nicht so glorreich aussieht. Aber genau das ist die Pflicht der Wissenschaft: die Lückenhaftigkeit der Funde und Überlieferungen einzugestehen und nicht mehr hineinzuinterpretieren, als was die Fundstücke tatsächlich preisgeben – und da gibt es immer noch genug Raum, sich über die Einordnung der Funde zu streiten. Was es an echten Funden gibt, hilft eben nur sehr skizzenhaft zu zeichnen, wie die Glaubenswelt der diversen germanischen Völkerschaften tatsächlich ausgesehen haben könnte und wo tatsächlich Götter wie Odin verehrt wurden oder tatsächlich im Alltag der Menschen präsent waren – wenn auch unter teilweise differierenden Namensformen von Odin über Wotan bis zu Woden.
Ob dann die in der Sagenwelt des Mittelalters überlieferte Wilde Jagd tatsächlich auf Odin als Jäger zurückgeht, ist genauso unsicher wie die Überlieferungsgeschichte der meisten deutschen Märchen, die Jakob Grimm nur zu gern bis in die heidnische Vorgeschichte zurückreichend gedeutet hat. Aber dafür gibt es keine Belege. Für die Überformung des Odin-Bildes durch längst schon christliche Autoren aber schon.
Böldl zeigt letztlich kenntnisreich, wie vorsichtig heutige Forscher tatsächlich mit der Überlieferung umgehen. Betont aber auch, dass sich der einäugige Gott mit dem Hut und den beiden Raben auf der Schulter in der Populärkultur längst verselbständigt hat und damit zu einer modernen Heldeninterpretation geworden ist, die mit der Sicht der alten Wikinger auf ihre Götter wahrscheinlich sehr wenig zu tun hat.
Klaus Böldl „Odin. Der dunkle Gott und seine Geschichte“ C. H. Beck, München 2024, 28 Euro.
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