Das 11. Plenum des ZK der SED im Jahr 1965 ging als sogenanntes Kahlschlagplenum in die ostdeutsche Kulturgeschichte ein: Reihenweise wurden neue Film- und Buchproduktionen verdammt und im Nachhinein verboten. Am bekanntesten ist der DEFA-Film „Das Kaninchen bin ich“, das der bekannte Regisseur Kurt Maetzig nach einem Drehbuch von Manfred Bieler gedreht hatte. Weniger bekannt ist, dass dem auch ein Roman vorausging, der schon vorher in die Mühlen der Zensur geriet.
Und das ist eben dieser Roman, den der Jaron Verlag jetzt wieder aufgelegt hat. 1964 wollte ihn der Eulenspiegel Verlag in der DDR tatsächlich veröffentlichen. Die Gutachter hatten von der Qualität des Buches geschwärmt. Und irgendwie passte es in die „Tauwetter“-Zeit, die es in de Sowjetunion nach Stalins Tods genauso gab wie in der DDR nach dem Aufstand von 1956.
Die Parteifunktionäre schienen begriffen zu haben, dass man mit Verboten und Vertuschung kein Vertrauen schafft. Dass die neue Gesellschaft, die sie immerfort versprachen, Offenheit und ehrliche Auseinandersetzung brauchte.
Und reihenweise nahmen das damals Schriftsteller im Osten zum Anlass, wirklich die Bücher zu schreiben, die sie gern schreiben wollten: offen, kritisch, mit einem genauen Blick für den Alltag im Land und die Probleme der Menschen. Zu diesen Büchern gehörte der Roman von Gerd Bieler.
Der sich aber eben nicht nur durch den kritischen Blick auf die DDR-Justiz und ihre Gesinnungsurteile auszeichnete, sondern auch durch echte Dramatik, mitreißend gestaltete Konflikte, beklemmend realistische Dialoge und eine Hauptfigur, mit der sich nicht nur emanzipierte Frauen in der DDR identifizieren konnten. Bzw.: hätten identifizieren können.
Disziplinieren und Erziehen
Während die gezeichneten Männerrollen – sowohl von Marias Bruder Dieter, der wegen staatsgefährdender Umtriebe vier Jahre im Knast sitzt, als auch von Paul Deister, dem Richter, der Dieter verurteilt hat – von Bieler sehr kritisch gezeichnet werden. Männer, die alle beide ganz offensichtlich nicht in der Lage sind, Konflikte zu lösen, ehrliche Partnerschaften zu führen. Und während Dieter auch noch brutal wird, weicht Paul einer klaren Sprache bis zum Ende aus.
Und man versteht Maria nicht wirklich, dass sie sich genau in so einen Typen verliebt, wo sie doch weiß, dass Paul Deister ihren Bruder erst ins Gefängnis gebracht hat. Und selbst als sie ihn dazu zur Rede stellt, weicht er aus, druckst herum und versteckt sich hinter seiner Rolle als Richter, der irgendwie nur den Willen des Volkes umgesetzt hat, damit Dieter – im Knast – bereut und reift.
All jene Quatschbegründungen, mit denen die Funktionsträger im Osten bis zuletzt ihre Disziplinierungs- und Erziehungspraktiken kaschierten, in denen eins immer gesetzt war: die Unmündigkeit der zu Erziehenden.
Endgültig Schluss ist für Maria ist in dem Moment, als ihr klar wird, dass ihr geliebter Paul ihrem Bruder sogar noch das doppelte Strafmaß verpasst hat, das eigentlich der Staatsanwalt gefordert hatte.
Und was sich auf den ersten Blick wie eine verstörende Liebesgeschichte liest, in der sich Paul – ohne seine eigene Ehe geklärt zu haben – mit Maria eine Feierabendliebschaft zugelegt hat, entpuppt sich – Szene um Szene – als ein unverstellter, beklemmender Blick in die Lebenswirklichkeit der DDR in den 1960er Jahren, kurz nach dem Bau der Mauer.
Eigentlich hat Maria sogar noch ein gutes Abitur abgelegt, müsste jetzt eigentlich studieren können, doch ihre Bewerbungen um einen Studienplatz werden immer wieder ohne Begründung abgelehnt. Sodass sie ziemlich bald ahnt, dass sie gleichsam mitbestraft wird für das Vergehen ihres Bruders, über das sie aber nichts wissen darf.
Uralte Männerrollen
Aus der Gerichtsverhandlung gegen ihren Bruder wird sie mit ihrer Tante Hete auch noch hinausgeschickt –von jenem Paul Deister, der ihr später auch noch ausreden will, ein Begnadigungsersuchen zu schreiben. Was ihr Bruder tatsächlich angestellt hat, erfährt sie nur über Umwege – vor allem über die Kumpel aus dem Knast, wo es so eine Geheimniskrämerei, wie sie die Staatsmacht praktiziert, nicht gibt.
Und gerade so wird Bielers Roman zu einer beklemmend authentischen Beschreibung dieser Zeit, die dadurch gerade erst greifbar wird, weil Maria Morzeck nicht nur selbstbewusst genau diesen Satz als ersten Satz ihrer Erzählung in die Tasten haut: „Ich heiße Maria Morzeck.“ Sondern auch, weil sie nicht gewillt ist, ihren zutiefst menschlichen Stolz preiszugeben und vor diesen dubiosen Verhältnissen zu duckmäusern.
Womit sie nicht allein ist. Denn ganz zentral verkörpert ihre Tante Hete diese Urberliner Unerschütterlichkeit, mit der sie sich selbst in widrigen Zeiten durchgebissen und behauptet hat. Herz mit Schnauze nennt man das wohl in Berlin. Und ein riesiges Herz hat sie sowieso, das sich oft hinter ihren knackigen Sprüchen versteckt, denn nach dem frühen Tod der Mutter und dem Verschwinden des Vaters ist sie es, die sich um das Mädchen kümmert, auch wenn sie selbst kein Mittel gegen die alten Macho-Manieren der Männer weiß.
Da ist auch die sonst so auf ihre Gleichberechtigung stolze DDR nicht so weit – noch gelten die alten Bilder von Männerdominanz, können sich die Kerle hinter Gewalt und Schweigen verstecken.
Und viele der Versuche Marias, ihren Paul dann in der Wohnung, die er besorgt hat, endlich zum Sprechen zu bringen, enden in Schweigen – und Pauls eigentlich nur nervenden Fragen „Liebst du mich?“ Die gar nicht da hingehören, die nichts sind als ein Ausweichen: Er will nicht über sich reden, nicht über seine Ehe, seine Gefühle, seine Rolle als Richter.
Den Mächtigen zu ehrlich
Liebe ist Liebe, kann man sich sagen. Man kann es oft nicht mit dem Kopf erklären, warum man sich – so wie Maria hier – in andere verliebt und dann, obwohl die ganze Beziehung knirscht und quält, nicht loskommen kann. Trotz allen Selbstbewusstseins, von dem Maria jede Menge hat. Sie hat schon als Waisenkind lernen müssen, sich zu behaupten und sich nicht alles gefallen zu lassen.
Als sie die Berufslenker gar noch in die Brikettfabrik schicken wollen, weil sie ja nun nicht studieren darf und niemand im Arbeiter-und-Bauernstaat arbeitslos zu Hause herumhängen darf, besorgt sie sich lieber einen Job als Kellner in im „Clou“, wo sie wieder auf Kollegen trifft, die ihr Herz auf der Zunge tragen.
Und mit Edith trifft sie dann beim Knastbesuch bei ihrem Bruder auch noch eine neue Freundin, die ganz Ähnliches durchmacht und genauso ihren Ärger mit Männern hat, die für echte Ebenbürtigkeit nicht das Kreuz haben. Kein Wunder, dass die beiden vom Eulenspiegel Verlag beauftragten Gutachter schwärmten von der Qualität dieses Buches und der Verlag es unbedingt auch veröffentlichen wollte.
Genauso wenig wie es verwundert, dass das Buch, als es in „höheren Kreisen“ durchsickerte, sofort das Misstrauen der Mächtigen wachrief und dort alle Hebel gezogen wurden, dieses Buch nie und nimmer erscheinen zu lassen.
Was Manfred Bieler erst einmal egal sein konnte, denn mit seiner tschechischen Ehefrau siedelte er da lieber in das freiere Prag über – und als dort dann 1968 die sowjetischen Panzer rollten – nach Westdeutschland. Und dort erschien dann 1969 endlich sein Roman. Nur dass er hier das falsche Publikum antraf, denn diese so lebendig geschilderte Innensicht der DDR war und blieb den Westdeutschen bis heute fremd. Das Buch hätte in der DDR erscheinen müssen und hätte dort Furore gemacht.
Denn in Maria hätten sich viele Leser/-innen wiedererkannt. Auch männliche Leser, natürlich. Denn für beide Geschlechter stand all die Jahre immer die Frage, wie weit man in diesem Land gehen konnte, wenn man seinen Stolz und sein Selbstbewusstsein behalten wollte.
Oder ob man sich – wie Paul – eigentlich nur verbog und letztlich verkaufte.
In der falschen Debatte gelandet
1990 erschien das Buch dann noch einmal – und traf auf die völlig falsche Debatte. Denn da diskutierte das große deutsche Feuilleton lieber ausführlich und fingerzeigend über die Zensur im Osten. Eine Diskussionsebene, mit der auch gleich mal die gesamte in der DDR veröffentlichte Literatur in Bausch und Bogen entsorgt werden sollte. Und so mussten wahrscheinlich tatsächlich erst 34 weitere Jahre vergehen, bis ein Verlag das Gefühl haben durfte, dass das lesende Publikum dieses Buch jetzt ohne Scheuklappen und offen für dessen Qualitäten lesen könnte. In Ost wie West.
Obwohl es wohl gerade Jüngeren, die das Disziplinierungssystem der DDR nie kennengelernt haben, schwerfallen dürfte, die Brisanz der Geschichte nachzuempfinden. Obwohl gerade das so wichtig ist. Denn längst sind ja wieder die Kräfte am Werk, die wieder von einem autoritären Staat träumen und ihn für die Rettung aus allen Krisen erklären. Ganz so, als hätten nicht mittlerweile drei autoritäre Staaten den Deutschen bewiesen, dass sie gerade beim Lösen von Problemen gründlich versagen.
Da ist e egal, ob sich Leute ins Kaiserreich zurücksehnen, ins Nazi-Reich oder „nur“ in ein Land wie die DDR, in dem Bücher und Filme mal mit mächtigem Krach – wie 1965 – verboten wurden oder – später – einfach klammheimlich keine Druck- und Dreherlaubnis bekamen. Es kam ja auf dasselbe hinaus: einen Berg von Ungesagtem, Unerlaubtem, Abgewürgtem – und einer zunehmenden Abwanderung von Künstlern in den Westen.
Stolz und Eigensinn
Und die Ost-Leser lernten dann, brav zwischen den Zeilen zu lesen, während die wirklich starken Bücher über ihre Wirklichkeit und die bedrängenden Probleme des Alltags nicht geschrieben und nicht gedruckt wurden. Und jene Autoren, die das Zwischen-den-Zeilen-Schreiben beherrschten, schrieben in ihren Tagebüchern oft genug über diesen quälenden Spagat, der letztlich jede gute Geschichte abwürgen musste. Oder sie litten ganz körperlich darunter und quälten sich bei Schreiben – so wie Brigitte Reimann.
Was aber bleibt, ist nach Lektüre von „Maria Morzeck oder Das Kaninchen bin ich“ die Gewissheit, dass das einer der stärksten Romane über das Leben in der DDR ist. Lesenswert bis heute, weil er mit Maria eben auch eine Erzählerin in den Mittelpunkt stellt, die sehr genau den Punkt benennt, an dem es immer – in jeder Gesellschaft – darum geht, seinen Stolz und seinen Eigensinn zu bewahren. Sich eben nicht zu verbiegen.
Auch das ist – wieder mal – aktuell. Dabei ist Maria nie wirklich das Kaninchen, das sich von der Schlange hypnotisieren lässt. Und Paul füllt zu keinem Zeitpunkt die Rolle der Schlange aus. Eher die des Schwerenöters, der sich seinen Gefühlen nicht stellt und immer dann kneift, wenn es ernst wird. Eine Konstellation, zu der man nicht einmal den vormundschaftlichen Staat DDR braucht.
Das kann auch andernorts passieren mit Typen, die sich hinter ihrer Rolle verstecken und glauben, Frauen müssten sich das alles gefallen lassen. Aber nicht Frauen wie Maria. Sie ist eine der richtig starken Heldinnen eines in der DDR entstandenen Romans, der in der DDR nicht erscheinen durfte.
Manfred Bieler „Maria Morzeck oder Das Kaninchen bin ich“ Jaron Verlag, Berlin 2024, 16 Euro.
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