Ist es nun Kisch? Egon Erwin Kisch? Von seinen Freunden liebevoll Egonek genannt? Im Nachwort sagen Martin Becker und Tabea Soergel: Nein. Ist er nicht, wir nennen ihn deshalb nur Kisch. Aber der Verlag nennt den vollen Namen des โ€žrasenden Reportersโ€œ. Und wer die Reportagen Egon Erwin Kischs liebt, wird ihn auch suchen in diesem Kriminalroman, der im Prag des Jahres 1910 spielt. Da war Kisch tatsรคchlich noch ein junger Lokalreporter bei der deutschsprachigen Prager Zeitung โ€žBohemiaโ€œ.

So wie in dem Krimi, in dem der Hallenser Martin Becker und die Kรถlner Autorin Tabea Soergel versuchen, das Prag der spรคten k.u.k.-Monarchie zum Leben zu erwecken. Mit viel Fantasie, wie sie selbst betonen: โ€žBeim Schreiben รผber Prag, die Stadt, die Egon Erwin Kisch รผber alles liebte, haben wir also guten Gewissens die Fakten mit unserer Fantasie angereichert. Denn das Fabulieren gehรถrt zu Prag wie die Moldau.โ€œ

Dass sie dabei sehr viel Fantasie in den Kochtopf getan haben, geben beide selber zu: โ€žDie BOHEMIA war nie Schauplatz einer nationalistischen Verschwรถrung und die Prager Polizei sowie die Pathologie waren nicht von Rechtsextremisten unterwandert.โ€œ

Darum geht es ja irgendwie in ihrem Krimi, in dem es auch nรคchtliche Verschwรถrertreffen in finsteren Katakomben gibt, eine nach Flieder duftende Dame in Schwarz, die immer dann auftaucht, wenn es mal wieder einen mysteriรถsen Todesfall gibt, der irgendwie ganz Prag in Schrecken versetzt.

Dazu kommt dann noch der Halleysche Komet, der am Himmel schon mit bloรŸem Auge zu sehen ist, wรคhrend allerlei Panikmacher das Ende der Welt prophezeien. Eine Stimmung wie bei Gustav Meyrink. Da kรถnnte auch glatt noch der Golem um die Ecke kommen. Tut er aber nicht.

Recherchieren wie Kisch

Stattdessen verlรคsst die Medizinstudentin Lenka WeiรŸbach die atemberaubende GroรŸstadt Berlin, wo sie mit Claire ihre erste groรŸe Liebe erlebte. Ihre Mutter braucht Betreuung. Da ist die Rรผckkehr in das als eher provinziell empfundene Prag unumgรคnglich. Wo sie dann diesem Kisch รผber den Weg lรคuft, der ihr kurzerhand eine Stelle bei der โ€žBohemiaโ€œ besorgt und sie gleichzeitig einspannt in seine Ermittlungen.

Die aber irgendwie keine sind, auch wenn dieser literarisch zum Leben erweckte Kisch alles, was Rang und Namen hat in Prag, zu kennen scheint โ€“ samt sรคmtlichen Nachtgestalten und Kriminellen. AuรŸer den gefรผrchtete Boss der Gaunerwelt, den er dann erst im Gefรคngnis Pankratz kennenlernen wird.

รœber welches Kisch ja tatsรคchlich geschrieben hat, 1907 schon, in seinem zweiten Jahr als Lokalreporter bei der โ€žBohemiaโ€œ. Typisch Kisch, kรถnnte man meinen. Er ging wirklich an die Orte, รผber die er schrieb. Und er ging an Orte, an die sich die meisten Kollegen seiner Zunft nie trauen. Meistens, weil ihnen das zu aufwรคndig ist. Manchmal auch zu ekelig. Oder fremd. Obwohl seit Kisch eigentlich jeder Journalist weiรŸ: Erzรคhlen kannst du erst was, wenn die wirklich da gewesen bist.

Und als Lokalreporter sowieso. Da lernt man eigentlich, dass die Geschichten da drauรŸen herumliegen und einer auch hingehen muss und mit den Leuten reden. Mit den Zรถllnern zum Beispiel auf der Franzens-Brรผcke wie dem Karel Novรกk, der in diesem Krimi am Ende eine handfeste Rolle spielt. Mit den Leuten im Nachtasyl, in dem sich E. E. Kisch ja tatsรคchlich mal einquartiert hat. Denn wie es den dort Gestrandeten geht, erfรคhrt man nur, wenn man selbst mal einer ist. Wenn auch nur eine Nacht lang.

Und dabei deckte Kisch die ganze Bandbreite des Lokaljournalismus ab. Und lieรŸ sich so zum Beispiel auch die Vortrรคge und Lesungen der damals gerade erst Berรผhmten nicht entgehen, die von Karl Kraus zum Beispiel, von Roda Roda oder โ€“ wann hat man schon mal so eine Gelegenheit! โ€“ die von Thomas Alva Edison.

Er schrieb darรผber und machte sich seine Gedanken. Seine Leserrinnen und Leser bekamen keine nackten Knochen vorgeworfen. Sondern bekamen auch schon vom jungen Kisch die Welt gezeigt mit ihren Doppelbรถdigkeiten, Ungerechtigkeiten und Schatten. Denn wer genau hinschaut wie dieser Egonek, der sah auch das Unheil, das sich lรคngst auch schon รผber der Goldenen Stadt zusammenbraute.

Die Schatten des Nationalismus

Das ist letztlich das zentrale Motiv in diesem Krimi: die sich zuspitzenden Konflikte zwischen den Nationalitรคten, den Tschechen, den Deutschen, den Juden. Nachdem sie hier geradezu beispielhaft Jahrhunderte lang nicht nur recht friedlich miteinander gelebt hatten, sondern auch eine Kultur zum Blรผhen brachten, die bis heute strahlt.

Eine Kultur, die einem auch in diesem Krimi รผber den Weg lรคuft, denn natรผrlich lebten und schrieben sie damals in Prag โ€“ auch Kafka, Hasek und Rilke, die am Rande auftauchen. Und meist beide Sprache beherrschten: Tschechisch und Deutsch.

Wรคhrend die Prediger des Vรถlkischen gerade in ร–sterreich selbst schon lรคngst dabei waren, die Welt auseinanderzudividieren nach Regeln deutscher Reinheit. Der Nationalismus gรคrte lรคngst und war schon dabei, den Weltkrieg zusammenzurรผhren, an dem dann Kisch auch noch teilnehmen sollte. Was er in diesem Frรผhjahr 1910 noch nicht weiรŸ.

Wer nun aber denkt, er packt die mysteriรถsen Todesfรคlle, die sich sonderbarerweise alle in seiner direkten Nachbarschaft abspielen, wie ein Lokalreporter an, wird letztlich enttรคuscht. Dazu muss man ja selbst erfahren haben, wie ein Lokalreporter tickt. Das tut er ja zuweilen wirklich wie ein Detektiv.

Denn wenn man etwas herausfinden will, dann nervt man die Leute mit Fragen, sammelt Informationen, sucht Verbindungen und gibt nicht Ruhe, bis das eine richtig knackige Geschichte wird. So wie Kisch bei seinen Reportagen ja gearbeitet hat.

Er lรคsst ja seine Leser oft direkt miterleben, wie er gearbeitet hat, beschreibt seine Gesprรคchspartner, die Orte, die Verhรคltnisse. Wohl wissend, dass alles, was Menschen tun und tun mรผssen, aus ihren Verhรคltnissen entspringt. Auch das Verbrechen.

Lauter seltsame Todesfรคlle

Was man vielleicht sogar auch bei nรคchtelangen Abschweifungen durch Prager Kneipen, Spelunken und Cafรฉs herausbekommen kann, wo man ja eine Menge interessanter Leute kennenlernen kann, aber nicht, wenn man โ€“ wie der zutiefst frustrierte Kisch dieses Krimis โ€“ nรคchtelang gar nicht schlรคft, aber ungeheure Mengen Alkohol trinkt. Das tut der Konzentration genauso wenig gut wie dem Gedรคchtnis.

Wobei man diesen Kisch ein bisschen verstehen kann, denn im Roman wurde ihm ein schneidiger Mistkerl namens Gruber vor die Nase gesetzt, der ihm gleich mal zum Einstieg die erste Knallergeschichte wegnimmt und ihn dann auch noch in die โ€žGemischtesโ€œ-Abteilung versetzt.

Was auch heute schneidige Manager fertigbringen, die sich als โ€žSaniererโ€œ in den Journalismus verirren und erst mal alles aussortieren, was einen eigenen Kopf und eine eigene Meinung hat. Also die Kischs.

Dabei ist dieser Kisch im Roman von Becker und Soergel schon stadtweit bekannt wie ein bunter Hund, stiefelt selbst ins Polizeiprรคsidium, als wรคre es normal, dass ein Kriminalreporter zum Chef der Kriminalabeilung durchmarschieren und ihn zur Rede stellen kann, was die nunmehr zunehmende Zahl seltsamer Todesfรคlle betrifft, die sich mehren, ohne dass sich fรผr den gut informierten Kisch irgendwo ein Anhaltspunkt findet, wie die Fรคlle eigentlich zusammenhรคngen und was dahinter Finsteres vonstattengeht.

Dass das alles kein Zufall ist, erfรคhrt man am Ende, wenn Kisch und Lenka selbst den Dunkelmรคnnern begegnen, die sich als bestens bekannte Figuren aus ihrem eigenen Alltag entpuppen. Als hรคtte es Kisch schon geahnt, nur nicht verraten. Sodass das Ganze dann endet wie ein gut inszeniertes Schauspiel, bei dem Karel Novรกk zeigen kann, was ein handfester Zรถllner ist.

Heldenhafte Ganoven

Nur wie eine europaweite Verschwรถrung sieht das dann nicht mehr aus. Eher wie das Verschwรถrerspielen einiger mit Drogen bestens versorgter Herren, die meinten, wenn sie am Ende den Kisch auch noch umbringen, kommt es zur ganz groรŸen Rebellion. Irgendwie so. Heldenhafte Ganoven wie bei Alexandre Dumas, nur irgendwie vรถllig รผberfordert von ihren gewaltsamen Fantasien.

Nur richtige Lokalreporter werden ein bisschen enttรคuscht sein, weil die Autoren nicht wirklich zuschauen lassen, wie Kisch den Fall systematisch aufdrรถselt โ€“ mit journalistischem Handwerkszeug. Hinweis um Hinweis, Verbindungsstรผck um Verbindungsstรผck, Indiz um Indiz. Bis sich der Verdacht verdichtet und eine รผberzeugende Geschichte sichtbar wird, die dann tatsรคchlich das Verbrechen sichtbar machen.

Angereichert um die Expertise der angehenden Medizinerin Lenka WeiรŸbach und die klugen รœberlegungen von Kischs unterschรคtztem Kollegen Brodesser โ€“ ja, so kรถnnte ein Kriminalroman um einen Reporter Form annehmen, der sich auch von raunzigen Vorgesetzten nicht einschรผchtern lรคsst, wenn es um das Enthรผllen finsterer Geheimnisse geht.

Dazu noch die tatsรคchlich reich und dicht geschilderte Atmosphรคre des Prags um 1910, die vor allem Martin Beckers intimen Lokalkenntnisse zeigen โ€“ so kรถnnte das gehen. Denn meistens โ€“ auch das lernt man ja bei Kisch โ€“ ist das Verbrechen ganz banal. Und gerade deshalb so schwer zu greifen. Von banalen Leute verรผbt, die entweder glauben, sie wรคren jeder irdischen Gesetzlichkeit enthoben. Oder die einfach ausgetickt sind, weil sie nicht mal das eigene Leben im Griff haben.

Und zumindest ahnt man, dass die Verschwรถrer in diesem Buch ziemlich banale Gestalten sind, die im bรผrgerliche Leben ziemlich groรŸschnรคuzig auftreten. Blender vor dem Herrn. Eigentlich kein Grund, sich nรคchtelang zu besaufen. Nur das Ketterauchen, das scheint tatsรคchlich der richtige Egonek zu sein.

Martin Becker, Tabea Soergel โ€žDie Schatten von Prag. Kischs erster Fallโ€œ Kanon Verlag, Berlin 2024, 24 Euro.

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